Die Revolution von oben
Markus Grill, stern, 17. Dezember 2003
Markus Grill, stern, 17. Dezember 2003
„Reformchaos“ oder „Chaos in der Regierung“ so oder so ähnlich lauten die Stichworte, die jetzt in Zeitungskommentaren und die Polit-Talkshows geliefert werden, um von den Fehlentwicklungen der angeblich so zwingend notwendigen „Reformen“ abzulenken und gleichzeitig eine Erhöhung der „Reform“- Dosis anzumahnen. Achten Sie mal drauf.
Die jetzt forcierte Debatte über Eliten könnte verdecken, dass gerade bei vielen, die sich zur Elite zählen, eingetreten ist, was die Psychologen Regression nennen – einen Rückfall in eine frühere Stufe des Denkens, weniger differenziert, dogmatischer, vorurteilsbeladener. In einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung, der gestern erschienen ist, erläutere und begründe ich diese Beobachtung. Die Liste der dort genannten Belege könnte leicht verlängert werden. Sie werden selbst solche Beispiele finden, wenn Sie die Debatte um Militäreinsätze, Konfliktlösungen und vor allem die innere Reformdebatte verfolgen.
Am vergangenen Sonntag wagte der Ministerpräsident von Niedersachsen, Christian Wulff (CDU), ein deutliches Wort zu Seilschaften und Kartellen im Beratungswesen. Die Zielperson seiner Kritik: Roland Berger, selbst mit dabei in der Talkshow. Auszüge aus den Diskussionen werden regelmäßig dokumentiert. Weil der Angriff von Herrn Wulff so bemerkenswert war, wird hier der Link notiert.
50.000 Arbeitsplätze wandern monatlich aus Deutschland ab, so der bayerische Ministerpräsident auf seinem Neujahrsempfang am 1.1.04 wie zuvor auch schon in der Fernsehsendung „Berlin Mitte“. Belegen kann Stoiber diese Zahl nicht. Sie ist offenbar frei erfunden und Teil einer Kampagne gegen die rot-grüne Regierung, wobei die Betreiber dieser Kampagne wohl ohne Zögern mit einkalkulieren, den Ruf des Standorts Deutschland weiter zu beschädigen.
Der Prozess in Düsseldorf wegen der Zahlungen an den früheren Vorstandschef von Mannesmann Esser und andere Personen wird zu einem gesellschaftspolitischen Lehrstück. Da beklagt der Vorstandschef von Siemens “mit einiger Besorgnis” eine Entwicklung im deutschen Recht. Es könne nicht sein, dass Unternehmensentscheidungen immer dadurch beeinträchtigt würden, dass das Damoklesschwert des Untreue-Tatbestand darüber schwebe. Hier schwingt ein Hauch von Berlusconi mit.
Wie ernst die Überlegungen sind, die ehemalige Ausländerbeauftragte und FDP-Politikerin Schmalz-Jacobsen zur Wahl zur Bundespräsidentin vorzuschlagen, ist schwer abzuschätzen. Wenn die SPD dies vorschlüge, wäre das angesichts der für eine/n eigene/n Kandidatin/en aussichtslosen Lage verständlich und klug. Ob man Erwägungen bei der FDP trauen kann, ist fraglich. – Auf jeden Fall gibt es gute Gründe dafür, Wolfgang Schäuble nicht zum Bundespräsidenten zu nominieren und zu wählen. Zur Begründung siehe Beitrag “Präsident mit Barspende?”.
Zum Zeitgeist gehört die Forderung nach Privatisierung von bisher staatlich wahrgenommenen Aufgaben. Welche Motive stecken eigentlich dahinter? Wenn man genauer hinsieht, besteht zwischen Begründung und Wirklichkeit eine erhebliche Diskrepanz. Meist geht es dabei um ganz andere Ziele als behauptet wird, nämlich etwa um den Abbau von Planstellen, um Gehaltsaufbesserungen für Spitzenbeamte, um die Lockerung der Finanzkontrolle durch das Parlament. Ob Private die Aufgaben besser oder billiger erbringen als der Staat, kann kaum jemand kontrollieren.
Für Sozialdemokraten und wohl auch für die SPD-Führung ist die Tatsache, dass die SPD unter der 30 Prozent Marke hängen bleibt, bedrückend. Hat man doch zumindest bei der SPD-Spitze gehofft, die Durchsetzung des Reformpakets der Agenda 2010 würde sich auch in verbesserten Umfragewerten niederschlagen. Diese Hoffnung war eigentlich nicht verständlich. Das Verharren der SPD auf niedrigem Niveau ist erklärbar; nicht verständlich ist – ohne genaues Hinsehen – das hohe Niveau der CDU/CSU.
Wir von NachDenkSeiten.de bilden uns überhaupt nicht ein, einzig zu sein unter den kritischen Homepages. Es gibt eine ganze Reihe interessanter, aufklärender Homepages zu speziellen Fachbereichen. Wir weisen gelegentlich daraufhin, so z.B. auf die Homepage von Heiner Flassbeck. Er ist Fachmann für Makroökonomie. Wer sich für Wirtschaftspolitik, insbesondere Konjunktur, Staatsschulden, Löhne und Lohnnebenkosten, usw. interessiert, sollte gelegentlich bei Heiner Flassbeck nachschauen.
Wer sich für Sozialpolitik und verwandte Bereiche interessiert, sollte Sozialpolitik-aktuell, einer Homepage, die maßgeblich von Professor Dr. Gerhard Bäcker betreut und verantwortet wird, anklicken. Dort findet man eine Fülle von interessanten Materialien und Beiträgen.
Hier die beiden Links:
www.flassbeck.de
www.sozialpolitik-aktuell.de
Ein Leser der NachDenkSeiten macht auf die deutsche Herausgabe des neues Buchs von Joseph Stiglitz aufmerksam, dessen Vorabdruck in der Financial Times Deutschland heute begonnen hat. Dem Nutzer der NachDenkSeiten verdanken wir auch die Zusammenfassung wichtiger Inhalte des Buches, zum Beispiel das Eingeständnis, „dass uns das angemessene Gleichgewicht zwischen Staat und Markt aus dem Blick geraten war.“ Albrecht Müller.
Es ist schon lange her, dass Studierende für den SPIEGEL auf die Straße gingen; diese Woche müssten sie gegen den SPIEGEL protestieren. Einmal mehr reiht sich der SPIEGEL mit seinem Aufmacher “Geist gegen Gebühr” in den Mainstream der Meinungen ein. Nur noch die bekannten Befürworter der Studiengebühr kommen zu Wort, kein Argument ist zu plump. Wolfgang Lieb.
In der öffentlichen Debatte haben heute dramatisierende und übertreibende Stimmen die Oberhand. Zum Beispiel M. Miegel mit seinem Buch, „Die deformierte Gesellschaft“, Oswald Metzger mit „Einspruch. Wider den organisierten Staatsbankrott“, und dann vergangenen Herbst Hans-Werner Sinn, immerhin Präsident des Ifo-Instituts und Ökonomieprofessor an der Münchener Universität, mit „Ist Deutschland noch zu retten?”. Steffen Kinkel vom Fraunhofer-Institut, Karlsruhe rückt einige der gängigen Übertreibungen zurecht. Albrecht Müller.
Für die besonders schwierige wirtschaftliche Lage unseres Landes zum Jahreswechsel 2003 auf 2004 ist ein Vorgang von Interesse, der vor gut drei Jahren die wirtschaftspolitisch Interessierten und die wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger beschäftigte. Albrecht Müller.
Steffen Lehndorff, Wie lang sind die Arbeitszeiten in Deutschland? Fakten und Argumente zur aktuellen Debatte über Arbeitszeitverlängerungen, Institut Arbeit und Technik, Gelsenkirchen, IAT-Report 2003-07