Ursula Engelen-Kefer: Eine immanente Kritik der unendlichen Geschichte der Gesundheitsreformen. Es gibt viel Reformbedarf an der neuesten „Reform“.
Die ehemalige DGB-Vizechefin und Sozialpolitikerin Ursula Engelen-Kefer war schon an vielen Gesundheitsreformen der letzten zwei Jahrzehnte beteiligt und hat schon einige „Durchbrüche“ erlebt. Die jüngst von der Großen Koalition beschlossenen „Eckpunkte“ sind nach ihrer Meinung auch nur wieder Verschiebemanöver beim Stopfen der Finanzlöcher, dem neu erfundenen Gesundheitsfonds sei mangels Einbeziehung der privaten Krankenkassen die Basis entzogen, die Zwei-Klassen-Medizin werde verfestigt, ohne Risikostrukturausgleich zwischen den Kassen würden die Arbeitnehmer weiter einseitig belastet, bei der Begrenzung der Ausgaben hingegen bewegte sich die Koalition nur in Mini-Schritten.
Weil auch bei dieser Reform nur an Symptomen kuriert wird, dürfte gelten: Nach der Reform ist vor der nächsten Reform. Siehe dazu auch die Anmerkungen der Herausgeber am Ende des Textes.
Gesundheitsreform: Große Koalition und SPD gefangen in der eigenen Reformlogik
Elke Ferner, SPD-Mitglied in der Verhandlungskommission zur Gesundheitsreform, fasst die Eckpunkte zusammen, die wir nachfolgend dokumentieren wollen. Einer unserer Leser hat uns dazu einen trefflichen Kommentar geschrieben.
Dass Unternehmen in Deutschland nach geltendem Recht im internationalen Vergleich überdurchschnittlich belastet sind, hält einer seriösen Betrachtung nicht stand.
Die „offizielle“ Begründung für eine weitere steuerliche Netto-Entlastung der Unternehmen steht auf tönernen Füßen: Untermauert wird die These von der fehlenden Konkurrenzfähigkeit des Steuerstandorts Deutschland ausschließlich mit hypothetischen Modellrechnungen, die die Komplexität der gegebenen Steuersysteme nur unzureichend erfassen. Die empirisch messbare Realität der Kapitalbesteuerung wird weitgehend ignoriert. Sobald die steuerliche Gesamtbelastung von Kapital- und Personengesellschaften in den Blick genommen wird, müssen auch die Verfechter einer weiteren Netto-Entlastung des Unternehmenssektors einräumen, dass Unternehmen in Deutschland im internationalen Vergleich bereits nach geltendem Recht nicht überdurchschnittlich belastet sind. Lesen Sie dazu einen Beitrag von Andreas Bovenschulte.
Das Scheitern der deutschen Gesundheitsreform ist eine gute Nachricht für die Euro-Zone. Und für uns.
Vor der weiteren Senkung der Arbeitskosten in Deutschland warnt Sebastian Dullien von Financial Times Deutschland. Denn die exportorientierten Firmen in Italien und Portugal können nicht mehr konkurrieren, und eine ihre Wettbewerbsfähigkeit erhöhende Lohnsenkung dort würde den Binnenmarkt und die Staatsfinanzen ruinieren (ist es nicht genau das, was gerade in Deutschland passiert?). Und dann würde der Euro auseinander fliegen, mit sehr negativen Folgen für die deutsche Wirtschaft.
Endlich einer mit einer makroökonomischen Perspektive. Ein erholsames Erlebnis angesichts der Wüste von immer gleichen fixen Ideen: Arbeitskosten senken, Lohnnebenkosten senken, mit Steuern finanzieren, Arbeitskosten senken, Lohnnebenkosten senken, mit Steuern finanzieren, Lohnnebenkosten senken …
Politiker und ihre lukrativen Jobs
Einer unserer Leser macht uns auf eine “Bildstrecke” auf den Internetseiten der “Süddeutschen Zeitung” zum Thema “Politiker und ihre lukrativen Jobs in der Wirtschaft” aufmerksam. Die Liste sei bei weitem nicht komplett, aber eindrucksvoll sei die Bilderstrecke der “Süddeutschen Zeitung” allemal. Das stimmt. Sie wäre zu ergänzen nicht nur um weitere Politiker sondern um Wissenschaftler wie die Professoren Sinn und Miegel, Rürup und Raffelhüschen, um Personen aus der Wirtschaft und aus den Medien. Basisinformationen dazu finden Sie übrigens in den Kapiteln „Dumm, arglos oder korrupt?“ und „Die Netzwerke unsere Eliten“ in „Machtwahn“.
Wie der Neo-Nationale Matthias Mattusek die WM-Euphorie umdeutet: Die „Bejahungswelle“ stelle selbst die Wiedervereinigung in den Schatten.
Der Kulturchef des SPIEGEL sieht in einem DLF-Interview in der Begeisterung und Partystimmung der Fußballfans auf einer „atavistischen tiefen Ebene in jedem von uns des Gefühl der Zugehörigkeit zu den eigenen Leuten“. Was da wachgerufen wurde, habe „sich ins kollektive Bewusstsein gesenkt und abgelagert und wird als abrufbare Erinnerung bleiben“.
In Klinsmann sieht er geradezu eine germanische Heldenfigur, „wo ein einzelner verkörpert, was kollektiv vorher gewünscht, geträumt, gedacht wurde.“ Eine solche „Lichtgestalt“ brauche man auch in der Politik. „Wir brauchen in der Politik unbedingt so jemanden“.
Der ausgebrochene Patriotismus sei „natürlich sehr tauglich“ durch schwierige Zeiten zu kommen und „schmerzhafte Einschnitte“ hinzunehmen und zu sagen: „Okay, das muss jetzt sein, diesen Einschnitt machen wir.“
Warum machen solche Sätze als einem Deutschen wie mir Angst?
Joachim Jahnke: Warum kann die Regierung nicht aus den Steuersenkungen der Vergangenheit lernen? Zu einem konjunkturankurbelnden Ausgabenschub der von Steuersenkungen begünstigten Unternehmen und Besserverdiener ist es nie gekommen.
Die nun von der Großen Koalition am 4. Juni in den Eckwerten bereits festgelegte Unternehmenssteuerreform soll die Unternehmenssteuern weiter drastisch absenken und erregt daher zu Recht die Gemüter. Denn während der Staat zu Lasten der „kleinen Leute” die Mehrwertsteuer erhöht und die Steuererleichterungen von der Entfernungspauschale und dem Sparerfreibetrag kürzt, verzichtet er hier auf etwa 5 Mrd Euro an Steuereinnahmen. Und dies geschieht zugunsten im Durschschnitt sehr gut verdienender Unternehmen. So sind die Gewinne der 30 führenden Konzerne in Deutschland im Jahr 2005 um 36 Prozent auf 51 Milliarden Euro gestiegen – so stark wie noch nie zuvor.
Nie zuvor war das Vertrauen der Bevölkerung gegenüber den politischen Parteien geringer. Die Große Koalition steht in der Wertung der Wähler wieder so schlecht da wie die Regierung Schröder.
Die „Menschen“ sind zu Veränderungen bereit, das Volk wünscht Reformen, so behaupten vom Bundespräsidenten, über die Parteispitzen bis zu den Leitartiklern alle.
Das mag wohl sein, aber offenbar halten die Leute die Richtung der Veränderung und die Art der Reformen für falsch oder wenigstens für untauglich. Wie wäre es sonst zu erklären, dass die relative Mehrheit der Überzeugung ist, dass keine der Parteien in der Arbeits-, Renten-, Steuer- und der Gesundheitspolitik zielführende Lösungen anbietet. 66% der Bürger trauen keiner der politischen Partei zu, die Probleme in den Griff zu bekommen.
Die Antwort des vorherrschenden Meinungskartells auf diese Abwendung des Volkes von der praktizierten Politik dürfte wieder einmal sein: Erhöhung der Reformdosis und Beschleunigung der Veränderung.
Auf den ziemlich nahe liegenden Gedanken, dass die Menschen dem Reformkurs insgesamt misstrauen und Reformen und Veränderungen in einer ganz anderen Richtung wünschen, kommt kaum jemand.
Hinweise des Tages
Interview bei BerlinTV
Peter Brinkmann im Gespräch mit Albrecht Müller am Sonntag 9. Juli
Quelle: www.tvb.de
Sekundärtugenden Führungsqualität, Bewegung, Ruck, Reformen
Der jetzt entbrannte Streit in der großen Koalition und auch das in den NachDenkSeiten kommentierte Interview von Bundespräsident Köhler in BILD sind symptomatisch für Arbeitsweise und Charakter der uns regierenden Eliten. Es geht in der Debatte nicht hauptsächlich um die wichtige Frage, ob die geplante Gesundheitsreform sinnvoll, richtig und vermutlich erfolgreich ist. Bewertungsmaßstab sind sekundäre Angelegenheiten wie Führungsqualität und die Fähigkeit zur Veränderung, zur Bewegung, zu Reform.
Fundgrube für das herrschende und meinungsbildende Interessengeflecht:
Wir wiederholen eine Info, weil uns ein Nutzer auf die Nützlichkeit des Hinweises aufmerksam macht.
Hinweise des Tages
IAT-Analyse zum Altersübergang: Rente mit 67 führt zu mehr sozialer Ungleichheit im Alter
Die soziale Ungleichheit im Alter wird als Folge einer Verlängerung der Lebensarbeitszeit bis 67 Jahre deutlich wachsen. Zu diesem Schluss kommen die Arbeitsmarktforscher PD Dr. Matthias Knuth und Dr. Martin Brussig in einer aktuellen Analyse der Beschäftigungsentwicklung bei älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. “Dabei wird es sich nicht nur um die Verlängerung und Aufspreizung von während des Lebensverlaufs schon bestehenden sozialen Ungleichheiten handeln, sondern es wird vermehrt auch zu unvorhersehbaren sozialen Abstiegsprozessen im Alter infolge von beruflichen und privaten Fehlschlägen kommen”, schreiben die Wissenschaftler des Instituts Arbeit und Technik (IAT) in Gelsenkirchen in der aktuellen Ausgabe der WSI-Mitteilungen.