Sie erschienen im Sommer 1948 am Himmel über Westberlin und warfen Schokolade und Süßigkeiten an Fallschirmen, brachten Kohle, Lebensmittel und retteten die Westberliner vorm Verhungern. So sagt es die Legende über die „Rosinenbomber“ – bis heute, 75 Jahre später. Sie verhinderten, dass die Sowjets den Westteil der einstigen Reichshauptstadt kampflos wieder übernehmen konnten. Nichts anderes hatten die vor, sagt die Legende ebenfalls. Und sie wird bis heute fleißig weitererzählt. Ein Blick in die umfangreiche Historikerliteratur zum Thema zeigt, dass die Legende der „Luftbrücke“ und die heutigen politischen Erklärungen dazu die damalige Wirklichkeit verfälschen. Beim Lesen waren einige Kratzer am Lack der „Rosinenbomber“ zu entdecken, hier zusammengetragen in einem historischen Faktencheck von Tilo Gräser.
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5. Wollte Moskau West-Berlin aushungern und übernehmen?
- Der Historiker Christoph Kleßmann hob in seinem Buch „Die doppelte Staatsgründung – Deutsche Geschichte 1945 – 1955“ (1991) hervor, die sowjetische Blockade Westberlins sei „ein letzter massiver Versuch“, gewesen, „die Bildung eines westdeutschen States doch noch zu verhindern. Sie war weder auf östlicher noch auf westlicher Seite Bestandteil einer langfristigen politischen Strategie.“ Für Kleßmann handelt es sich um ein Modell für „die reaktive Mechanik der Konflikteskalation“. Der Chef der Sowjetischen Militäradministration (SMAD), Marschall Wassili Sokolowski, habe seinem US-Gegenüber General Clay gesagt, dass Moskau einen westdeutschen Teilstaat verhindern wollte.
- Bei Wettig ist zu lesen, Sokolowski habe Clay erklärt, der Verkehr bleibe unterbrochen, bis die Westmächte darauf verzichten, einen separaten westdeutschen Staat zu errichten. Die sowjetische Führung unter Stalin sei längere Zeit davon ausgegangen, den Machtkampf um Berlin gewinnen zu können. Ihr Ziel sei unter anderem ein Friedensvertrag für ganz Deutschland gewesen. Doch mit der Zeit hätten der Ausbau der Kapazitäten für die „Luftbrücke“ nach Westberlin und die negativen Folgen für die eigene Seite für Umdenken in Moskau gesorgt.
- Loth betont, was andere gern weglassen: „In der Öffentlichkeit erschien die Blockade als ein Versuch, ganz Berlin und soviel als möglich von ganz Deutschland in den sowjetischen Herrschaftsbereich einzubeziehen; dass sie präzise nur gegen die Weststaatsgründung gerichtet war, wurde meist übersehen.“ Laut dem Historiker waren die Erfolgsaussichten Moskaus nur gering, „aber ein anderes Mittel war der Sowjetführung nicht mehr verblieben“. Sie sei das Risiko eines gewaltigen Prestigeverlustes bewusst eingegangen, vermutet der Historiker.
„Sollte es nicht gelingen, die Westmächte durch die Blockade zum gesamtdeutschen Konzept zurückzuzwingen, so bestand immer noch einige Aussicht, die Westalliierten aus Berlin vertreiben und damit ein beträchtliches Hindernis beseitigen zu können, das der Staatsbildung auf dem Territorium der eigenen Besatzungszone im Wege stand; das sprach zusätzlich für den Einsatz des riskanten Mittels.“
- Rechtswissenschaftler Graf erinnert daran, dass Historiker in den seit 1991 zugänglichen sowjetischen Dokumenten keine Spur für die oft behauptete aggressive antiwestliche Strategie und Planung Moskaus gefunden haben. Graf zitiert den Historiker Gunter Mai, der 1995 feststellte, dass die sowjetischen Maßnahmen „keine Kriegstreiberei, sondern ein untaugliches Unternehmen, die Westalliierten erneut an den Verhandlungstisch zu bringen“ darstellten.
- Bei Steininger ist zu lesen, dass Stalin die Vertreter der Westmächte am 3. August 1948 empfing. Er habe ihnen „mit größtem Nachdruck“ versichert, dass er ihre Truppen nicht aus Westberlin vertreiben wolle. Stattdessen habe er ihnen erklärt, dass Moskau Viermächteverhandlungen über Deutschland als Ziel habe. Sollte aber der Weststaat dennoch wie geplant gegründet werden, gebe es „nichts mehr, worüber man diskutieren könnte“, wird Stalin zitiert. „Zumindest wussten die Westmächte jetzt, dass Stalin in Berlin keine militärische Gewalt anwenden würde“, so Steininger, und er fügt hinzu: „In Westdeutschland ging die Entwicklung den von den Westalliierten vorgezeichneten Gang.“
- SMAD-Chef Marschall Wassili Sokolowski hatte laut Kleßmann bereits am 29. Juni 1948 gefordert, den Interzonenhandel wiederherzustellen. Im August vor 75 Jahren sei es zu alliierten Verhandlungen in Moskau gekommen, „die mit einer Direktive an die Berliner Kommandanten endete, die Blockade aufzuheben und die Ost-Währung in ganz Berlin einzuführen“. Die entsprechende Direktive der vier Alliierten sei aber „an der technischen Umsetzung“ gescheitert, so Kleßmann.
- Autor Koop erinnert an den SMAD-Befehl Nr. 80 vom 24. Juli 1948: Mit dem wurde festgelegt, dass sich die 2,1 Millionen Westberliner im Ostteil anmelden konnten, um sich mit Lebensmitteln und Brennstoffen versorgen zu lassen. Moskau habe damit versucht, dem damals schon erhobenen Vorwurf zu begegnen, es wolle die Menschen in den Westsektoren aushungern. Doch nur 103.000 Westberliner hätten das bis März 1949 genutzt, so Koop. Sie „hungerten eher, als dieses Angebot anzunehmen“.
6. Reagierten die Westmächte nur mit einer Luftbrücke?
- Laut dem Historiker Wettig sind die Westmächte anfangs davon ausgegangen, dass die begonnene Luftbrücke nicht ausreichen würde, um in Westberlin bleiben zu können. Sie hätten versucht, mit Moskau über einen Kompromiss zu verhandeln, bei dem das gesamte Berlin in das Währungs- und Wirtschaftsgebiet der SBZ einbezogen worden wäre. Ihr Interesse sei es gewesen, ihre 1945 erworbenen Besatzungsrechte in Berlin dauerhaft zu sichern. Doch der Kompromiss sei gescheitert, weil die Sowjetunion weiter darauf bestand, dass die Westzonen nicht zu einem separaten Staat vereint werden sollten.
- Steininger bezeichnete es in seinem Buch als „erstaunlich“, dass der britische Militärgouverneur Robertson im Juli 1948 erneut versuchte, die Deutschlandfrage gemeinsam mit Moskau zu lösen. Dabei sollte auf einige sowjetische Forderungen eingegangen werden, bis hin zum Friedensvertrag für Gesamtdeutschland und der sowjetischen Mitkontrolle des Ruhrgebiets. Doch in den westlichen Hauptstädten wurde dieser Versuch abgelehnt, von der bisherigen Deutschlandpolitik abzukehren. Die Angst, der Kommunismus könne sich auch in Westdeutschland ausbreiten, war zu groß. Die Westmächte fürchteten laut Steininger zudem, eine deutsche Zentralregierung könnte unter sowjetischen Einfluss geraten.
- Benz erinnert in seinem Buch an die Gegenblockade der westlichen Besatzungsmächte, die am 19. September 1948 begann. Damit sei der „Zufluss von Waren aller Art aus den Westzonen in die Ostzone“ gestoppt worden. Lebensmittel durften selbst in Einkaufstaschen nicht mehr nach Ostberlin gebracht werden wie auch das Verkehrsverbot in der britisch-US-amerikanischen Bizone für sowjetische Fahrzeuge und solche mit Fahrziel SBZ.
- Der sowjetischen Haltung stand eine nicht minder harte und unnachgiebige Position seitens der westlichen Alliierten gegenüber, besonders in Person des US-Kommandanten General Lucius Clay. Er befahl nicht nur die Luftbrücke, sondern schlug anfangs vor, die sowjetische Blockade mit einem bewaffneten Konvoi zu durchbrechen. Das wurde aber damals von Washington aus Angst vor einem möglichen kriegerischen Konflikt abgelehnt – während aber gleichzeitig 60 atomwaffentragende B-29-Bomber nach England verlegt wurden, wie Kleßmann schreibt. Er stellte fest, dass sich der Konflikt verselbstständigte und mit dem Anlass kaum noch etwas zu tun hatte.
- Die Wirtschaft in der sowjetischen Zone sei durch die westliche Gegenblockade empfindlich getroffen worden, betont Koop. Zum Teil hätten Betriebe ihre Produktion ganz einstellen müssen. „Es gibt zwar viele Darstellungen über Blockade und Luftbrücke“, so der Autor, „aber nur wenige über die Auswirkungen der Gegenblockade, an der im Übrigen die westdeutsche Wirtschaft auch kein Interesse hatte.“ Die US-Militärbehörden hatten laut Koop bereits am 25. Juni 1948 sämtliche Bahntransporte innerhalb des Interzonenhandels in die SBZ untersagt. Die Transporte liefen nur noch über die Straße, bis sie im September ganz gestoppt wurden.
7. Wem haben die Blockade und die Luftbrücke genutzt?
- Steininger bezeichnet die Blockade als einen „der schwersten Fehler der sowjetischen Politik nach 1945“. Der Grund: „Wer im Sommer 1948 im Westen noch Zweifel an der Richtigkeit des anglo-amerikanischen Kurses gegenüber der Sowjetunion hatte – mit der Teilung Deutschlands als Konsequenz –, dem wurden diese Zweifel jetzt durch die Brutalität der Blockade genommen.“ Westdeutsche und Westberliner hätten sich erstmals seit 1945 als Verbündete gefühlt – gegenüber dem Hauptsieger und Hauptleidtragenden des von Deutschen angezettelten Krieges (was der Historiker so nicht erwähnt – Anm. d. Red.). Die Sowjetunion habe die letzten Sympathien verloren, außer bei den Kommunisten.
- Die politische Bilanz der Blockade sei im Westen als „sehr befriedigend“ empfunden worden, so Historiker Benz. War doch Washington laut Historiker Loth von Beginn aller Planungen für einen westdeutschen Staat darauf bedacht gewesen, „die Westmächte nicht in den Augen der Deutschen als für die Spaltung der Nation verantwortlich erscheinen zu lassen“.
- Worum es den Westmächten ging, erklärte laut Hartmann der spätere US-Außenminister John Foster Dulles in einer Rede im Januar 1949 vor Schriftstellern in Paris. Dabei sagte der einflussreiche Bruder von CIA-Chef Allan Dulles:
„Zu jeder Zeit hätte man die Situation in Berlin klären können … Die gegenwärtige Lage ist jedoch aus propagandistischen Gründen für die USA sehr vorteilhaft. Dabei gewinnen wir das Ansehen, die Bevölkerung von Berlin vor dem Hungertod bewahrt zu haben, die Russen aber erhalten die ganze Schuld wegen ihrer Sperrmaßnahmen.“
8. Welche Folgen hatten Blockade und Luftbrücke?
- „Die Berliner Blockade führte im Ergebnis zu der bis 1990 andauernden Teilung Berlins“, stellt wie andere Autoren auch Journalist Koop in seinem Buch fest. Das war nie Ziel der Sowjetunion gewesen, wie die Historiker zeigen.
- Die Blockade sei für Moskau „ein totaler Fehlschlag“ gewesen, ist bei Kleßmann zu lesen. Ihr Ziel sei ins Gegenteil verkehrt worden und habe die Gründung der Bundesrepublik Deutschland (BRD) noch befördert, ebenso den antikommunistischen Konsens in Westdeutschland, Westeuropa und den USA.
- Alles, was Moskau erreichte, war laut Steininger: „Mit wachsendem Erfolg der Luftbrücke, den Westdeutschen an der Seite der Westmächte und der Gewissheit, dass die Sowjets keinen Krieg beginnen würden, bekamen jene Kritiker recht, die von Anfang an gegen einen Neuanfang in der Deutschlandpolitik gewesen waren. Seit Herbst 1948 bestand für Anglo-Amerikaner keine Notwendigkeit mehr für einen Kompromiss mit der Sowjetunion.“
- In den zehn Monaten der Blockade Westberlins „wandelte sich in großen Teilen der deutschen Bevölkerung die Grundstimmung“, beschreibt Autor Graf eine der Folgen. „Als Reaktion auf die Blockademaßnahmen entstand – was vorher nicht annähernd zu erkennen war – eine Allianz politischer Übereinstimmung nicht nur der Westberliner, sondern großer Teile der westdeutschen Bevölkerung mit der Haltung und Politik der Westalliierten. Die Sowjetunion hatte an Prestige, an Einfluss, an Vertrauen verloren. Vorher noch möglich erscheinende Chancen für eine neutrale gesamtdeutsche Lösung waren verspielt. Der Strategie der Westmächte kamen Blockade und Luftbrücke entgegen.“ Durch die Blockade Westberlins habe Moskau „zweifellos ungewollt und sicher unerwartet zugleich den Plänen der Gegenseite in die Hände gespielt.“
- Zu den Folgen gehörten laut Wettig „eine breite Abwehrfront gegen die UdSSR“ im Westen sowie die beschleunigte Gründung der schon vorbereiteten NATO am 4. April 1949. In Westeuropa sei der Eindruck einer „sowjetischen Bedrohung“ entstanden. In der Folge sei es mit UNO-Vermittlung zu Verhandlungen gekommen, die zum Ende der Blockade am 12. Mai 1949 führten. Die sowjetische Führung habe „ihre Ziele in Berlin aufgeben und die Präsenz der Westmächte inmitten der Sowjetzone dulden“ müssen.
- Ende August 1948 habe sich der Erfolg der „Luftbrücke“ abgezeichnet, ist bei Loth zu lesen. Geblieben sei „eine ‚mittlere Krise‘, die die sowjetische Bedrohung im Westen materiell genug erscheinen ließ, um eine Konsolidierung des Status quo unter antikommunistischen Vorzeichen zu fördern, ohne daß die westlichen Positionen weiterhin ernsthaft gefährdet waren“.
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