Sie erschienen im Sommer 1948 am Himmel über Westberlin und warfen Schokolade und Süßigkeiten an Fallschirmen, brachten Kohle, Lebensmittel und retteten die Westberliner vorm Verhungern. So sagt es die Legende über die „Rosinenbomber“ – bis heute, 75 Jahre später. Sie verhinderten, dass die Sowjets den Westteil der einstigen Reichshauptstadt kampflos wieder übernehmen konnten. Nichts anderes hatten die vor, sagt die Legende ebenfalls. Und sie wird bis heute fleißig weitererzählt. Ein Blick in die umfangreiche Historikerliteratur zum Thema zeigt, dass die Legende der „Luftbrücke“ und die heutigen politischen Erklärungen dazu die damalige Wirklichkeit verfälschen. Beim Lesen waren einige Kratzer am Lack der „Rosinenbomber“ zu entdecken, hier zusammengetragen in einem historischen Faktencheck von Tilo Gräser.
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Auslöser für die Ereignisse vor 75 Jahren war, dass die Sowjetunion in der Nacht zum 24. Juni 1948 die Transportwege zu Land und zu Wasser in die Berliner Westzonen blockierte. Zugleich hatte sie deren Strom- und Lebensmittelversorgung aus der eigenen Besatzungszone unterbrochen. Die Blockade der Berliner Westsektoren dauerte bis zum 12. Mai 1949 an.
1. War es eine „Totalblockade West-Berlins“ wie immer wieder behauptet wird?
- „Westberlin war zwischen dem 26. Juni 1948 und dem 12. Mai 1949 von den sowjetischen Besatzungstruppen längst nicht so hermetisch abgeriegelt worden, wie dies zunächst scheinen mag“, so Arne Hoffrichter im „Deutschland Archiv 2013“. Das sei „mittlerweile Konsens in der Forschung“. „Für die Einwohner der drei Westsektoren bedeutete dies, dass lokaler Handel und Personenverkehr zwischen Westberlin und dem sowjetischen Einflussbereich, das heißt Ostberlin und dem brandenburgischen Umland, weitestgehend möglich waren.“
- Der russische Historiker Aleksej M. Filitov stellt in dem von Helmut Trotnow und Bernd von Kostka herausgegebenen Band „Die Berliner Luftbrücke – Ereignis und Erinnerung“ (2010) fest: “Etwaige Planungen für […] [eine totale Blockade] fehlen […] in allen Dokumenten, die in den Archiven einsehbar sind und es gibt keine Indizien im operativen Bereich, die auf die Existenz solcher Planungen hindeuten würden.”
- „Die Blockade war nicht als vollständige Abschnürung geplant oder auf das Aushungern West-Berlins angelegt und wies entsprechende Lücken auf.“ Darauf weist Gerhard Stälter in seinem Beitrag im Sammelband „Die Luftbrücke – Erinnerungsort des Kalten Krieges“ (2018) hin. „Die Grenzen zum Umland waren ohne erheblichen Personalaufwand ohnehin nicht vollständig zu kontrollieren.“. Das hätten Zeitzeugen bestätigt.
- „Die Sperren um Berlin waren nicht so dicht wie meistens dargestellt. Die innerstädtischen Sektorengrenzen blieben weitgehend offen und der Weg ins Brandenburger Umland war fast immer möglich.“ Das ist in dem Buch „Besetzt – Sowjetische Besatzungspolitik in Deutschland“ des Journalisten Volker Koop (2008) zu lesen.
- Es habe nie eine Totalblockade gegeben, schreibt der Rechtswissenschaftler und ehemalige SED-Funktionär Herbert Graf in seinem Buch „Interessen und Intrigen: Wer spaltete Deutschland?“ (2011). „Auch in dieser angespannten Situation war der Zugang der Westberliner und der Westalliierten nach und über Ostberlin zu jeder Zeit weiter möglich. Unbeeinflusst blieben weiter die Luftkorridore, die eine massive Luftbrücke ermöglichten.“ Zudem werde bis heute ausgelassen, dass die „Luftbrücke“ „an der Grenze der Legalität“ geflogen wurde, so der Autor. Die benutzten Luftkorridore über der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) seien 1948 nicht durch internationale Abkommen der Alliierten gesichert gewesen.
- Im Buch „Die Teilung der Welt – Geschichte des Kalten Krieges 1941 – 1955“ des Historikers Wilfried Loth aus dem Jahr 2000 ist zu lesen: Ängste vor einer Luftblockade Westberlins seien unbegründet gewesen, „weil Stalin nicht bereit war, wegen der Weststaatsgründung, so sehr sie den sowjetischen Interessen zuwiderlief, einen Krieg zu riskieren, der mit der Vernichtung der Sowjetunion enden musste; aber der Mythos von der sowjetischen Stärke ließ die meisten westlichen Politiker übersehen, wie gewagt, wie hart an der Grenze des tatsächlich Leistbaren das sowjetische Manöver in Wirklichkeit war“.
2. War die Luftbrücke „nicht nur eine logistische Meisterleistung, sondern vor allem das Zeugnis überwältigender Menschlichkeit“ – oder etwas anderes?
- Der renommierte Historiker Wolfgang Benz widmet den Ereignissen vor 70 Jahren ein Kapitel in seinem Buch „Wie es zu Deutschlands Teilung kam – Vom Zusammenbruch zur Gründung der beiden deutschen Staaten“. Er beschreibt das „größte Transportunternehmen in der Geschichte der Luftfahrt“ in Details. Die Luftbrücke sei ökonomisch „ein Verlustgeschäft von seltenem Ausmaß“ gewesen. Aber die Verluste trugen nicht die westlichen Alliierten: „Die Hauptlast der Unterstützung Berlins trug der Steuerzahler in der amerikanischen und britischen Zone.“ Dem habe seit November 1948 die Sondersteuer „Notopfer Berlin“ gedient.
- Ralph Hartmann hat vor 15 Jahren in der Zeitschrift „Ossietzky“ darauf aufmerksam gemacht, dass die Luftbrücke laut der Londoner „Times“ vom Februar 1949 „ein großes strategisches Übungsfeld“ war, das „alle früheren Erfahrungen mit der Luftversorgung im Krieg … völlig über den Haufen geworfen hat“. Hartman stellte fest, dass der militärische Nutzen der „Luftbrücke“ bei den Erinnerungsveranstaltungen und -reden ausgeklammert wird.
- Robert Allertz erinnert in seinem 2003 erschienenen Buch „Im Visier die DDR – Eine Chronik“: „Bei dieser zweifellos beachtlichen logistischen Leistung proben die US-Streitkräfte die Flugleit- und Radarsysteme, die erst 1945 entwickelt worden waren.“ Die Erkenntnisse seien unter anderem im Korea-Krieg (1950-1953) genutzt worden. Allertz hebt hervor, dass die Luftbrücke „für die von einer Krise bedrohte amerikanische und englische Flugzeugindustrie zum lohnenden Geschäft“ wurde, „das monatlich 50 Millionen einbringt“. So habe die „New York Times“ am 24. Februar 1949 frohlockt: „Der Kalte Krieg ist ein Segen für unsere Flugzeugindustrie. Zum ersten Mal nach dem Krieg hatte sie 1948 ein Verkaufsvolumen von rund einer Milliarde Dollar gegenüber nur 48 Millionen Dollar 1947.“
3. War die Luftbrücke „der Grundstein für die deutsch-amerikanische Freundschaft?
- US-General Clay war über das Ende der Blockade im Mai 1949 nicht glücklich gewesen, ist im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ vom 19. Mai 1949 zu lesen: „‘Der Militärgouverneur, ein starrköpfiger, streitsüchtiger Militär und Staatsmann aus Georgia‘, schrieb ‚Herald Tribune‘, ‚soll schwere Befürchtungen geäußert haben über das sowjetische Angebot, die Blockade aufzuheben. Wenn nicht feste wirtschaftliche und politische Bande es an einen westlichen Europa-Bund knüpften, könne, so meinte General Clay, ein besiegtes, aber geeinigtes Deutschland zu einem Pufferstaat in einem kalten Krieg und dem russischen Druck viel zugänglicher werden als jetzt ein geteiltes Deutschland.‘“
- Der österreichische Historiker Rolf Steininger zitiert in Band 2 seiner 1996 neuaufgelegten „Deutschen Geschichte seit 1945“ aus einem Memorandum des damaligen Londoner Unterstaatsekretärs Ivone Kirkpatrick vom November 1948. Der spätere britische Hohe Kommissar in der BRD meinte darin, es gehe um die „zukünftige Sicherheit vor Deutschland“. Der Rapallo-Komplex habe nachgewirkt, so Steininger: „Deutschland allein war keine Gefahr mehr; nur wenn es gemeinsame Sache mit den Sowjets machte, werde es zur ‚tödlichen Gefahr‘ (‚mortal peril‘). Das einzige und wichtigste Ziel blieb demnach, ein solches Zusammengehen mit den Sowjets zu verhindern.“ Sicherheit vor Deutschland sei durch Integration desselben zu erreichen, wird Kirkpatrick zitiert, und das „zu einem Zeitpunkt, wo dies noch als Zugeständnis (‚favour‘) an die Deutschen verkauft werden konnte – und nicht umgekehrt.“
Laut dem Historiker ging es dem britischen Politiker darum, „die Deutschen übers Ohr zu hauen (‚bamboozle the germans by roping them in‘) und sie ‚am Ende wirtschaftlich, politisch und militärisch so abhängig zu machen von der westlichen Welt, dass sie es sich gar nicht leisten können, auszuscheren und ins östliche Lager zu wechseln‘“. Ziel sei die „totale Kontrolle“ Westdeutschlands, „mit allen Mitteln“. Für Steininger zeichneten Kirkpatricks Vorstellungen „denn auch den Weg vor, den die Entwicklung nahm“.
4. Was waren die Ursachen für die sowjetische Blockade und die westliche Luftbrücke?
- Benz erinnert in seinem Buch daran, dass die von den westlichen Alliierten vorbereitete und am 24. Juni 1948 auch in den eigenen Berliner Sektoren durchgeführte Währungsreform zu den Ursachen der Probleme gehörte. Der Historiker Gerald Wettig bestätigt in seinem Buch „Die Stalin-Note“ (2015): „Die Deutschland- und Berlin-Frage stand in engem Zusammenhang mit dem Problem der Währungsreform.“ Im Kreml sei im Juni vor 75 Jahren nicht geahnt worden, dass die westlichen Pläne dafür kurz vor der Umsetzung standen.
- Graf zeigt in seinem Buch, wie die Westalliierten spätestens mit der Londoner Sechsmächtekonferenz zu Beginn des Jahres 1948 gezielt sich von ihrem früheren Verbündeten Sowjetunion abwandten. Diese Kursänderung gegenüber den gemeinsamen Potsdamer Vereinbarungen von 1945 sei ein „Affront gegenüber dem früheren Verbündeten, der in der Geschichte seinesgleichen sucht“. Moskau sei bei der Währungsreform der westlichen Alliierten von diesen getäuscht worden.
- „Am Anfang der Krise um Berlin stand die Entscheidung der Westmächte, nach dem Ende der gemeinsamen Deutschlandpolitik der Alliierten der Logik des Marschall-Planes entsprechend mit der staatlichen Organisation Westdeutschlands zu beginnen.“ Das stellt der Historiker Loth fest. Zu den Initiatoren habe US-General Lucius Clay gehört. Gleichzeitig sei Washington darum besorgt gewesen, „die Westmächte nicht in den Augen der Deutschen als für die Spaltung der Nation verantwortlich erscheinen zu lassen“. Nachdem eine Initiative für eine gesamtdeutsche Einheit nach westlichen Vorstellungen erwartungsgemäß scheiterte, begannen laut Loth die USA und ihre Partner in Westeuropa, ab Februar 1948 die Gründung der Bundesrepublik vorzubereiten – „ohne einen möglichen Kompromiss mit der Sowjetunion abzuwarten“.
- Dabei gab es vor der Blockade eine Chance, diese zu verhindern oder zu vermeiden. Nach den Beschlüssen der westlichen Außenminister in London im Februar 1948 für einen westdeutschen Staat, sah der britische Militärgouverneur Brian Robertson die Gefahr der endgültigen Spaltung Deutschlands. Das schrieb der österreichische Historiker Steininger 1996. Robertson habe befürchtet, dass eine Spaltung „früher oder später zu einem Krieg mit der Sowjetunion“ führt, was er verhindern wollte. Ihm sei es darum gegangen, einen Weg zu finden, die Deutschlandfrage gemeinsam mit den Sowjets zu lösen – „ohne die es keinen Weltfrieden gibt“.
Lesen Sie morgen den zweiten Teil.
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