„Muss sich Europa zwischen Eurasien und den USA als Handelspartner entscheiden?“ – das war die Leitfrage einer Veranstaltung des sogenannten „WCR-Kaminabends“, die am 21. Juni in Berlin stattfand. Gast und Interviewpartner war Dr. Gregor Gysi, außenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion Die LINKE. Von Alexander Neu.
Die Abkürzung WCR steht für „West-Ost Communication & Relations“ und ist aus dem „Wirtschaftsclub Russland“ hervorgegangen. Angesichts des Krieges Russlands gegen die Ukraine entstand eine multidimensionale Zäsur, die nicht nur unmittelbar die außen- und sicherheitspolitische Ebene betrifft, sondern sich auch bis auf die Ebenen der Wirtschaft, des Mittelstandes sowie der Wirtschaftsverbände auswirkt.
So gelangte auch der WCR zu dem Schluss, dass eine Umbenennung und eine Erweiterung des geographischen Abhandlungsraumes unausweichlich sein würde. Aus dem „Wirtschaftsclub Russland“ wurde so ein Wirtschaftsclub, der den gesamten eurasischen Raum abzudecken beansprucht. In diesem Zusammenhang wurde auch ein neues Format, das Kamingespräch, eingeführt. Ziel ist es, mehrfach im Jahr außenpolitische, außenwirtschaftspolitische und geoökonomische Themen mit einem Gast aus der Bundespolitik zu diskutieren. Dabei soll die Teilnehmerrunde überschaubar bleiben, sodass eine tiefergehende Diskussion mit dem Gast möglich ist. Im Februar war der außenpolitische Sprecher der FDP, Ulrich Lechte, zu Besuch. Am 21. Juni war es nunmehr Gregor Gysi gewesen.
Neuorientierung in einer neuen Welt
Dass angesichts der unübersehbaren geopolitischen und geoökonomischen Zeitenwende weg von der seit Jahrhunderten währenden westlichen Globalhegemonie hin zu einer neuen Weltordnung mit mehreren politischen und ökonomischen Zentren dies auch Fragen und Entscheidungen für Europa und somit auch für Deutschland mit sich bringen wird, versteht sich von selbst. Es ist davon auszugehen, dass in der neuen multipolaren Weltordnung neben den USA auch China, Indien, Russland sowie einige Mittelmächte (Brasilien, Iran, Türkei etc.) eine zentrale Rolle in der politischen und ökonomischen Gestaltung spielen werden.
Wohin soll die Reise Europas gehen? Welche Rolle wird Europa, genauer gesagt die EU, spielen? Wird die EU auch geo-ökonomisch ein Anhängsel der USA werden und dadurch eigene Interessen hintenanstellen oder wird die EU eigene Akzente setzen, d.h. in welchem Ausmaß auch immer eigene wirtschaftliche Interessen verfolgen, die mit den Interessen der USA nicht nur nicht kompatibel wären, sondern diesen sogar diametral gegenüberstünden?
Europas und Deutschlands Interessen
Gysis Antworten dazu waren eindeutig. Er kritisierte die einseitige Ausrichtung Deutschlands und der EU hinsichtlich der Energielieferungen aus den USA. Von einer einseitigen Importabhängigkeit (Russland) in die andere Importabhängigkeit (USA). Deutschland und die EU sollten ihre Bezugsquellen stärker streuen. Insgesamt warb er dafür, die eigenen europäischen und deutschen Interessen selbstbewusster zu benennen und auch zu verfolgen. Sein favorisiertes Modell orientiert auf eine Partnerschaft mit den USA auf Augenhöhe. So ist auch seine Erklärung zu verstehen: Wenn man sich als Pudel behandeln lasse, dann werde man auch als Pudel behandelt. Wenn man nicht auftrete wie ein Pudel, dann werde man auch ernst genommen.
China als Handelspartner sei als eine tragende Säule unseres Wohlstandes unverzichtbar, die nicht auch noch zerschlagen werden dürfe, nachdem das Ende der billigen Energielieferungen aus Russland sich bereits negativ auf die Wirtschaft auswirke. Dabei gehe es nicht darum, menschenrechtliche Defizite zu übergehen, sondern darum, wie man diese anspricht, um eine wirkliche Verbesserung zu erzielen. Der derzeit praktizierte konfrontative Ansatz bringe eben keine Verbesserungen mit sich, sondern belaste die Beziehungen zu China vielmehr. Viel effektiver sei es, in Gesprächen diese Themen jenseits der Öffentlichkeit kooperativ und nicht konfrontativ anzusprechen. Er verwies auf die positiven Auswirkungen der Ost-Politik Willy Brandts, die in der DDR zu menschenrechtlichen Verbesserungen geführt hätten.
Mit Blick auf den Verbleib deutscher Unternehmer in oder den Rückzug aus Russland konnte oder wollte Gysi nicht mit einer direkten Empfehlung aufwarten. Er beantwortete die Frage eher mittelbar, indem er feststellte, dass jene Unternehmen, die in Russland verblieben, nach dem Krieg und der tendenziellen Beruhigung des deutsch-russischen Verhältnisses gegenüber den Unternehmen, die auf den russischen Markt zurückkehren wollten, natürlich im Vorteil seien. Diese seine Feststellung basiert auf einem ganz natürlichen Aspekt. Die Leerstellen, die deutsche Unternehmen durch ihren Rückzug hinterlassen, werden entweder durch russische Akteure oder durch neue Investoren aus China, Indien und weiteren Staaten, die sich den westlichen Sanktionen gegen Russland nicht anschließen, besetzt.
Die Antworten Gysis auf die Eingangsfrage sind sehr deutlich: Keine Entscheidung für die eine oder andere Seite, sondern das selbstbewusste Verfolgen eigener (wirtschaftlicher) Interessen.
Transparenzhinweis der Redaktion: Unser Gastautor Alexander Neu war Moderator des Gesprächs mit Gregor Gysi im Rahmen der WCR-Gesprächs.
Titelbild: WCR e.V.
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