Anlässlich seines Todes veröffentlichen wir hier Teile des vermutlich letzten Video-Interviews mit dem Whistleblower Daniel Ellsberg. Übersetzung und Transkription von Bernhard Trautvetter.
Am 16. Juni verstarb der Wegbereiter des Whistleblowing, auf den sich auch Edward Snowden bezieht, nach einer kürzlich diagnostizierten Krebserkrankung 92-jährig. Er trug als früherer Mitarbeiter des militärstrategischen Think Tanks RAND durch seine Enthüllungen über Kriegsverbrechen und Lügen von US-Militär und –Administration zum Ende des Vietnamkriegs bei. Seither ist er der Friedensbewegung ein treuer Informant und Unterstützer. So hat er über die unverantwortliche Nuklearstrategie des Pentagon aufgeklärt. Hier folgt eine ins Deutsche übertragene Mitschrift von Teilen des vermutlich letzten Interviews mit Daniel Ellsberg – ab der Stelle, an der er die aktuellen Entwicklungen thematisiert:
Daniel Ellsberg: „Die Pentagon-Leaks zum Ukraine-Krieg legen offen, dass es keine reale Aussicht für Fortschritt gibt und sie belegen, dass das Töten auf allen Seiten illegitim ist, es gibt keinerlei Aussicht auf menschlich vertretbare Resultate. Es ist gut möglich, dass wir in einem Jahr in einer immer noch sehr vergleichbaren Situation wie der gegenwärtigen sind, doch sind wir nicht zu Verhandlungen bereit. Das offenbart eine Notfallkrise…
Sollten die USA tun, wozu Biden von vielen gedrängt wird, also zu einer direkten Beteiligung von US-Kräften im Kriegsgeschehen, dann wäre das das erste Mal seit 1920, dass US-Kräfte auf Russen schießen, was damals gegen die Bolschewiki gerichtet war. Jeder Russe weiß das. Wie viele US-Amerikaner wissen davon? Überhaupt jemand?
Wenn Biden gedrängt wird, direkt Flugzeuge wie die F16 und Panzer, die die Ukrainer jeweils nicht bedienen können, zu entsenden, dann ist die Tendenz sehr stark, US-Amerikaner zur Unterstützung zu entsenden. Ich kann nur hoffen, dass Biden von einem großen Teil der Öffentlichkeit gedrängt wird, die USA nicht direkt in den Krieg einzubinden und die Orientierung auf Verhandlungen zu verfolgen, was sich gegenwärtig als schwierig erweist, da die Idee von Verhandlungen abgelehnt wird.
Es gibt vermehrte Informationen darüber, dass Selenskyj und Putin eine essentielle Vereinbarung sehr unmittelbar vor einem Abschluss hatten – über die Regulation eines Vorkriegs-Status-Quo auf der Krim, im Donbas und in den Beziehungen zur NATO, aber die USA und der Brite Boris Johnson wandten sich dagegen (‘ran over it‘) und sagten, wir sind dazu nicht bereit; wir wollen, dass der Krieg weitergeht, wir akzeptieren Verhandlungen nicht.
Ich würde dazu sagen, das war ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, und ich sage das mit all meiner Ernsthaftigkeit gegenüber den Informationen über getötete Menschen auf allen Seiten in der berichteten Absicht, Russland zu schwächen, nicht für den Vorteil der Ukrainer, sondern für übergeordnete geopolitische Strategien (‚overall geopolitical strategy‘), das war bösartig unabhängig von der Frage, wie der Krieg begonnen hatte … Und ich sehe auf beiden Seiten unglaublich schlechte Beurteilungen in Bezug auf Putins Aggression und Grausamkeit und auf der anderen Seite der Provokation durch die USA im Sinne von einer Politik, die bewusst voraussah, dass sie die Wahrscheinlichkeit russischer Verbrechen steigerte. Es gibt sehr viele US-Amerikaner, die diesen Krieg wollten. Und sie bekamen exakt, was sie wollten, mit Waffengeschäften an unsere Alliierten sogar mehr noch, als sie erwarten konnten.
Die USA hatten immer wieder eine zentrale (‘essenzielle‘) Rolle in Europa mit einem dafür unentbehrlichen Feind, einem Gegner, ohne den wir die Welt nicht beherrschen könnten, und Russland stapfte in diese Rolle bereitwillig erneut mit der Begründung, sie hätten keine andere Wahl, als das zu tun, was sie taten. Das ist ziemlich absurd. Es ist, als wenn jemand sagt, du kannst eine Person provozieren, sich selbst in den Fuß zu schießen, sich selbst seiner Kraft zu berauben. Putin hätte keine andere Wahl gehabt, als so zu verfahren und sich selbst mit 800 Meilen feindlicher Grenze mit Finnland als Nato-Mitglied zu konfrontieren und die Nato mit Waffengeschäften und weiteren Mitgliedsstaaten neu erstarken zu lassen. Es ist nur absurd.“
Themenwechsel der Interviewerin von ‘Democracy Now!‘: „In einem Ihrer Videos von 2021 erwähnen Sie Regierungspläne eines Angriffs auf China mit nuklearen Waffen infolge einer Krise in der Straße von Taiwan.“
Daniel Ellsberg: „Ich enthüllte diese Informationen, kurz nachdem das Magazin ‚The Economist‘ ein Titelblatt mit Taiwan im Zentrum einer großen Zielscheibe unter der Überschrift »Der gefährlichste Ort der Welt« veröffentlicht hatte. Was war geschehen? Eine US-Intervention in die Politik Chinas, genau genommen die Unterstützung einer Sezession- und Unabhängigkeitsbewegung in einem Teil des Gebietes, das China als Teil Chinas versteht, diese Unterstützung, von denen die Chinesen vorhersagten, dass sie zu einem Krieg führen können. Sie würden das nicht akzeptieren, so wie Herr Blinken keine Sezession aus der US-Konföderation akzeptieren würde.
Und wir drängten den Prozess in einer Art und Weise, die ich nicht verstehen kann: Menschen handeln so, als ob sie einen Krieg mit China wollen. Wie kann das sein?! Waffenverkäufe? Und: Warum wollen sie die Beziehungen Taiwans, die seit Jahrzehnten stabil waren, ändern? Seit 1979. Nun auf eine Weise, von der China vorhersagt, dass dies zu einem Krieg führen würde, das zu wollen, ist rätselhaft für mich.
Erste Pläne eines Nuklearkrieges mit China wurden 1958 gemacht. Damals war eine korrespondierende Krise im Verlauf. (…) Wir würden einen Nuklearkrieg initiieren, wenn China mit Artillerie Felseninseln im Meer bombardieren sollte, um das Seegebiet unter Kontrolle zu bekommen. Wir waren vorbereitet, eine chinesische Blockade zu durchbrechen. Sollte dann die chinesische Artillerie weiter machen und sollte es dabei zur Gefahr des Verlustes von US-Schiffen kommen, würden wir, falls nötig, auf Ziele wie Schanghai zielen. Wir würden einen Nuklearkrieg eröffnen, in Eisenhowers Worten, und er gab dafür – falls notwendig – sein Einverständnis, und er sah voraus, dass dies zu Angriffen von Russland als Alliiertem von China führen würde, z.B. gegen Taiwan oder Guam oder Japan, was nach unseren Planungen garantiert einen Nuklearkrieg bedeuten würde, in dessen Verlauf jede Großstadt Russlands und Chinas angegriffen würde mit der Folge von nach unseren damaligen Schätzungen 600 Millionen Toten. … Die Anzahl von möglichen Zielen in China ist seither nicht reduziert.
Das war die Zeit, in der jeder Kampf mit Russland – sei es, dass er in einer Berlin-Krise beginnt – garantierte, dass China mit ins Visier kommen würde.
Es gab Diskussionen darüber, ob man einen Krieg mit Russland nicht besser ohne die Einbeziehung Chinas führen sollte, die Antwort war: Nun, das würde China in einer Position zurücklassen, in der es über die Welt herrschen könnte. Kurzum: China und Russland mussten als ein gemeinsames Ziel betrachtet werden. (…)
(…) Das ist, womit wir in der Ukraine konfrontiert sind, mit der realen Möglichkeit eines Nuklearkrieges, der aus diesem Konflikt hervorgeht. In anderen Worten: Das meiste Leben auf der Erde – nicht alles – wird ausgelöscht als ein Ergebnis des Konflikts um die Kontrolle der Krim oder des Donbas oder von Taiwan. Wer will das verantworten?
Ich appelliere erneut an die jungen Menschen, die Greta Thunberg mobilisiert hat, wenn sie sagt, dass die Erwachsenen keine Vorkehrungen zur Abwendung der Gefahr treffen, während unser aller Zukunft absolut davon abhängt, die notwendigen Veränderungen irgendwie schnell, am besten unmittelbar jetzt vorzunehmen. (…) Der Grund dafür, dass ich sie so bewundere, ist nicht nur die Brillanz ihrer Bewegung, ihr selbstständiges Handeln, die Initiative ergreifend, andere einzuladen, was ein wirklich wichtiger Weg gewaltfreier Aktion ist, bei dem sie den Streik als Mittel einer neuen gewaltfreien Aktion einsetzt.
Ich weiß nicht, wieviel Zeit ich noch habe. Ich würde so gerne die Interaktion, das Zusammenwirken mit meiner Familie und meiner größeren Familie, meiner ausgedehnten Familie weiterführen. Ich meine damit die Menschen, die die Situation, durch die wir gehen, als Notfall ansehen und wir arbeiten zusammen gewaltfrei und ehrlich, um zu ändern (…). Mit Menschen, die die Gelegenheit ergreifen, mit ihrem Job, in Gemeinschaften, die sich selbst darauf fokussieren, sich selbst zu qualifizieren und darüber zu informieren, was vor sich geht und effektiv zu handeln. Alles, was ich sagen kann: Das kann funktionieren.“