Während meines politikwissenschaftlichen Studiums habe ich mich unter anderem mit der Thematik der Kriegsursachenforschung beschäftigt. Bei der Sichtung der Fachliteratur sprang mir eine besonders kuriose Kriegsursache ins Auge: „Krieg durch Zufall“. Es handelt sich um ein breites Spektrum von nicht beabsichtigten kriegsauslösenden Momenten. Das Spektrum reicht von klassischen kommunikativen Missverständnissen bis zu technischem Versagen wie Fehlalarm. Somit scheinen die Ursachen von Kriegen nicht immer unmittelbarer politischer Natur zu sein, jedoch mittelbar sind sie es. Sie sind es mittelbar, da die politischen Rahmenbedingungen (z.B. angespanntes Verhältnis zwischen Staaten) den „Zufall“ überhaupt erst ermöglichen. Vor diesem Hintergrund ist die aktuelle doppelte Front von ukrainischer Gegenoffensive und dem NATO-Air-Defender-23-Manöver bis an die Grenzen Russlands ein enormer Risikofaktor mit vielerlei gefährlichen Implikationen. Von Alexander Neu.
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Ein typisches Bespiel für einen Krieg durch Zufall im Kontext angespannter sicherheitspolitischer Atmosphäre stellt ein Fall aus dem Jahre 1983 dar: Der sowjetische Offizier der Luftverteidigungskräfte S. Petrov erhielt satellitengestützte Warnmeldungen, wonach US-amerikanische ICBMs („Intercontinental Ballistic Missile“ = Interkontinentalraketen mit Atomsprengköpfen) in den USA gestartet seien und die Sowjetunion angreifen würden. Der Kalte Krieg befand sich zu dieser Zeit ohnehin mal wieder in einer besonders gefährlichen Phase, sodass die Gefahr eines Nuklearkrieges nicht gänzlich von der Hand zu weisen war.
Tatsächlich handelte es sich bei dem Alarm um einen technischen Fehler und somit um einen Fehlalarm. Es war ausschließlich dem gesunden Menschenverstand Petrovs zu verdanken, dass er innerhalb von wenigen Minuten entschied, es müsse sich angesichts der geringen Anzahl an gestarteten ICBMs um einen Fehlalarm handeln. Diese vernunftbasierte Entscheidung verhinderte den nuklearen Gegenschlag (vermeintlich nuklearer Zweitschlag) der Sowjetunion gegen die USA. Ein anderer Mensch hätte sich vielleicht dem Fehlalarm hingegeben. Auch hatte Petrov nur etwas mehr Zeit als 15 Minuten, um diese Entscheidung zu treffen, von der er nicht wusste, ob sie richtig sei. Dieses Beispiel verdeutlicht gleich mehrere gefährliche Aspekte: Erstens handelte es sich um strategische Nuklearwaffen, die ausschließlich in den USA und in der damaligen Sowjetunion stationiert waren. Als „strategisch“ bezeichnet man vereinfacht ausgedrückt im Gegensatz zu „taktisch“ zwei technische Eigenschaften: die massive Sprengkraft eines strategischen Nuklearsprengkopfes sowie die interkontinentale Reichweite des den Sprengkopf tragenden Trägersystems, also die Rakete.
Taktische Systeme im Umkehrschluss verfügen über einen schwächeren nuklearen Sprengkopf und eine geringere Reichweite der Trägersysteme. Intuitiv würde man die strategischen Atomwaffen als gefährlicher betrachten, was sie angesichts ihrer Sprengkraft auch sind. Tatsächlich jedoch sind die taktischen Systeme aus vielfältigen Gründen gefährlicher. Abgesehen davon, dass immer mal wieder in den USA über einen gewinnbaren Nuklearkrieg debattiert und somit die Option eines Atomkrieges enttabuisiert wird („mini-nukes“ – also Atomsprengköpfe mit sehr begrenzter Sprengkraft, so der letzte Stand der Debatte), geht es eben um die technische Eigenschaft der geringeren Reichweite des Trägersystems.
Dies war der Hintergrund für die Proteste Anfang der 1980er-Jahre gegen den „NATO-Doppelbeschluss“, der die Stationierung der Pershing II, einer nuklearen US-Mittelstreckenrakete, in Europa beinhaltete. Da Mittelstreckenraketen für die Distanz von 500 bis 5.500 Kilometer Reichweite kategorisiert sind, musste unter dem technischen Aspekt der Reichweite die Pershing II in Europa bzw. in der alten BRD stationiert werden. Die Flugzeit einer in Deutschland stationierten Mittelstreckenrakete von Westdeutschland in die Sowjetunion ist um ein Vielfaches kürzer als die Flugzeit einer ICBM (strategischen Rakete), die in den USA gestartet würde. Mit der verkürzten Flugzeit war auch die Vorwarnzeit verkürzt. Das bedeutet 5 bis 15 Minuten je nach europäischem Stationierungsort statt 30 Minuten, womit sich der Zeitdruck für eine Entscheidung – pro oder contra Gegenschlag – und somit der Stresslevel für die verantwortlichen Offiziere, die einen Angriff mittels ihrer Frühwarnsysteme gemeldet bekommen hätten, erhöht. Ihnen wären, um beim Beispiel S. Petrov zu bleiben, keine 15 bis 20 Minuten geblieben, um einzuschätzen, ob es sich um einen realen Angriff oder einen Fehlalarm handelt, sondern nur fünf Minuten oder weniger. Unter dem Zeitdruck und dem Stress wächst die Wahrscheinlichkeit einer Fehleinschätzung erheblich.
Ein weiterer Aspekt der wachsenden Gefahr ist die technische Revolution der Künstlichen Intelligenz, die auch die militärischen Fähigkeiten revolutionieren wird. Wenn künftig immer mehr technische Abläufe durch Künstliche Intelligenz gesteuert und entschieden werden, dann erhöht das auch die Gefahr technischer Fehler sowie Fehler innerhalb der Künstlichen Intelligenz. Kurzum: Wollen wir tatsächlich, dass künftig die Entscheidung eines – vermeintlichen – nuklearen Zweitschlags von menschlicher Entscheidung abgekoppelt Computer entscheiden? Aber genau diese Gefahr bahnt sich an.
Krieg durch Zufall – jenseits technischer Pannen
Vom 12. Juni bis zum 23. Juni 2023 läuft das seit Jahren geplante NATO-Luftmanöver Air Defender 23 unter Teilnahme von 25 Staaten (23 NATO-Staaten plus Schweden und Japan) und unter deutscher Führung. Es ist nach eigenen Darstellungen mit 250 Flugzeugen und rund 10.000 Soldaten die größte Luftübung seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Bestehen der NATO, mithin noch größer als zu Zeiten des ersten Kalten Krieges. Es sollen die schnelle Verlegung von US-Waffensystemen nach Europa sowie das Zusammenwirken der diversen Luftstreitkräfte der Teilnehmerstaaten Richtung Osteuropa trainiert werden. Russland ist als Adressat offiziell nicht genannt, aber jeder weiß, dass es um eine Abschreckung gegen Russland geht. So zitiert die FAZ eine entsprechende Äußerung der US-Botschafterin, A. Gutmann, in Berlin.
Selbstverständlich ist es das gute Recht eines jeden Staates und auch der NATO, seine bzw. ihre Verteidigungsfähigkeiten zu üben und zu demonstrieren. Ob es jedoch sicherheitspolitisch klug ist, darüber dürften sich die Geister sicherlich streiten. Die Regierungen der meisten NATO-Staaten halten es offensichtlich für eine richtige sicherheitspolitische Entscheidung – die meisten Massenmedien, schaut man sich deren bisweilen euphorische „Berichterstattung“ an, wohl auch. Aber es gibt eben auch Menschen, die die Gefahren eines solch großen Manövers in einer Zeit maximaler Anspannung zwischen dem Westen und Russland als unnötigen weiteren Eskalationsschritt betrachten, der uns unnötigerweise gefährdet. Genau genommen sind zwei Szenarien zu benennen, die dieses Manöver in einen offenen Krieg zwischen der NATO und Russland umschlagen ließen: Erstens, Krieg als Resultat eines als Manöver getarnten militärischen Schlages gegen Russland oder die russischen Streitkräfte in der Ukraine. Und zweitens, Krieg aus Zufall.
Im ersten Fall könnte in Russland die Wahrnehmung bestehen, die NATO wolle nur ein Manöver vortäuschen und tatsächlich noch weiter in den russisch-ukrainischen Krieg eingreifen als bislang. Einen ähnlichen Fall gab es bereits 1983. Seinerzeit führte die NATO das Manöver „Able Archer“ durch, bei dem ein Atomkrieg simuliert wurde. Der Warschauer Pakt vermutete jedoch ein verkapptes Manöver der NATO, wonach tatsächlich ein nuklearer Angriff auf die Sowjetunion und ihre damaligen Verbündeten stattfinden sollte. Auch in der damaligen DDR wurden die Kampfflugzeuge bereits mit taktischen Atomwaffen bestückt und startklar zum nuklearen Gegenschlag gemacht. Damals ging es noch gut aus.
Wie weit die NATO bzw. ihre Mitgliedsstaaten sich bereits auf dieser Rutschbahn in den Krieg mit Russland befinden, habe ich in einem Beitrag beschrieben. Dass Befürchtungen in Russland bestehen, Air Defender 2023 sei lediglich eine Täuschung für einen realen Angriff, offenbart sich, wenn man sich diverse Telegram-Kanäle anschaut, in denen heftig auch über den Charakter von Air Defender23 diskutiert wird. So behauptet ein angeblich russischer Militärwissenschaftler, die USA würden im Kontext des Air-Defender-Manövers bis zu 2.500 Marschflugkörper gegen Russland einsetzen. Ich verfüge über keinerlei diesbezügliche Kenntnisse und neige auch nicht dazu, mich an solchen Spekulationen zu beteiligen, weise aber darauf hin, dass es derartige Debatten gibt.
Befördert wird diese Debatte einerseits auch durch das Unterlassen einer jahrzehntelangen sinnvollen Praxis, nämlich die „Gegenseite“ zur Beobachtung des Manövers einzuladen. Genau diese Einladung wurde von den Verantwortlichen des Air Defender 23 gegenüber der russischen Seite wohl dieses Mal nicht ausgesprochen. Sinn solcher Einladungen ist, der „Gegenseite“ einerseits die eigenen militärischen Muskeln zwecks Abschreckung zu demonstrieren, aber andererseits auch zu zeigen, dass es sich nicht um ein verkapptes Manöver, sprich tatsächliche Kriegsvorbereitungen handelt. Diese Einladungspraxis ohne Nöte ad acta zu legen, gerade jetzt, wo sie nötiger denn je wäre, ist mir völlig unverständlich – es ist mindestens fahrlässig.
Andererseits wird die Debatte in Russland auch angeheizt durch den zeitlichen Zusammenfall des Air-Defender-23-Manövers mit der ukrainischen Gegenoffensive, nachdem diese als ursprüngliche Frühjahrsoffensive nun auf den Juni verschoben wurde. Tatsächlich läuft die ukrainische Gegenoffensive nach jetzigem Stand nicht ganz so rund wie erhofft. Ein Entlastungsschlag der USA gegen die russischen Streitkräfte zu Gunsten der ukrainischen Kräfte wäre im Szenarien-Kasten nicht auszuschließen, wenn auch meiner Meinung nach sehr unwahrscheinlich. Denn mit einer solchen Maßnahme würde eine Eskalationsstufe beschritten, die den Krieg über die Ukraine hinaus auf Europa und Nordamerika erweitern würde – kurzum, der Beginn eines umfassenden NATO-Russland-Krieges.
Was aber sicherlich nicht unwahrscheinlich ist, ist, dass das Air-Defender-Manöver eine maximale Aufmerksamkeit der russischen Aufklärung- und Frühwarnkapazitäten sowie die hohe Einsatzbereitschaft der Luftverteidigung bindet. Wie sehr sich diese Situation auf die Kampfkraft der russischen Luftwaffe in der und gegen die Ukraine auswirkt, vermag ich nicht einzuschätzen.
Unbestritten dürfte indessen der Umstand sein, dass die doppelte Front von ukrainischer Gegenoffensive und dem Air-Defender-23-Manöver bis an die Grenzen Russlands einen enormen Stressfaktor mit all seinen gefährlichen Implikationen wie mögliche technische Fehlmeldungen, Fehlperzeptionen und Überreaktionen für die politische und militärische Führung Russlands darstellt – also Krieg durch Zufall.
Das wissen auch die Verantwortlichen in der NATO, dennoch scheinen sie das Risiko als beherrschbar einzustufen, was ich nur für begrenzt nachvollziehbar halte. Denn es wird auf diese Weise mit unserer Sicherheit gespielt. Um das klarzustellen, es handelt sich hierbei nicht um eine Rechtfertigung des russischen Angriffskrieges, der unbestreitbar völkerrechtswidrig ist, sondern um eine Warnung vor seiner Ausweitung zu einem Weltkrieg aufgrund unnötiger Muskelspiele.
Zwischenfall – oder Krieg durch Zufall?
Seit den Ereignissen 2014 – „Farbige Revolution“ in Kiew zu Gunsten einer prowestlichen Regierung, die verfassungswidrige Sezession der Krim sowie die völkerrechtswidrige Integration der Krim in die Russische Föderation – hat sich die Zahl von militärischen Zwischenfällen massiv erhöht. Seien es riskante Flugmanöver westlicher und russischer Flugsysteme, seien es riskante Manöver in der Ostsee und im Schwarzen Meer. Zu erinnern ist an den vor wenigen Wochen passierten Zwischenfall, bei dem ein russisches Kampflugzeug durch Flugmanöver eine US-Drohne vom Typ MQ-9 „Reaper“ nahe des Krim-Gewässers zum Absturz brachte. Oder der Zwischenfall im Sommer 2021, bei dem die russische Marine Warnschüsse gegen das britische Kriegsschiff „HMS Defender“, welches nach russischer Lesart durch russisches Hoheitsgewässer, nach britischer Lesart durch ukrainisches Hoheitsgewässer schipperte, abgab. Dies sind zwei besonders gefährliche Beispiele für sogenannte Zwischenfälle zwischen westlichen und russischen Waffensystemen.
Laut NATO kam es 2022 zu 570 Fällen, in denen sich russische Flugzeuge dem Luftraum der NATO angenähert hätten und abgefangen worden seien. Umgekehrt soll es auch Vorfälle geben, bei denen sich westliche Luftfahrtsysteme den russischen Grenzen genähert hätten und abgefangen worden seien. Wie auch immer, die Menge solcher Zwischenfälle und Provokationen hat ein Ausmaß angenommen, das die Wahrscheinlichkeit eines aus dem Ruder laufenden Zwischenfalls signifikant erhöht. Ein einziger aus dem Ruder laufender Zwischenfall reicht aus für eine Katastrophe. Und Air Defender 23 ist geradezu prädestiniert für weitere Zwischenfälle, sei es durch das mögliche Fehlverhalten der einen oder der anderen. Und gerade in solch einer angespannten Atmosphäre angesichts des Krieges in der Ukraine drohen Zwischenfälle ernsthafte Eskalationsdynamiken freizusetzen. Ob man angesichts solch bewusst in Kauf genommener möglicher „Zwischenfälle“, die eben eine Eskalationsdynamik bis zum offenen Krieg freisetzen können, dann tatsächlich noch von „Krieg durch Zufall“ sprechen könnte, möchte ich bezweifeln, da dem „Zufall“ doch zu sehr alle Türen geöffnet werden. Eher könnte man es dann als „Krieg aus Fahrlässigkeit“ bezeichnen.
Sicherheitspolitisch klug wäre es, zu deeskalieren und die Sprache der Diplomatie dringend wieder zu erlernen, statt Schritt für Schritt im Glauben der jeweils eigenen Wahrheit und Richtigkeit des Handelns dem Abgrund näherzutreten. Ein Weltkrieg hilft auch der Ukraine nicht weiter und ist auch nicht im Interesse der Menschen, weder im Westen noch im Osten.
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