Man schaue sich um im Haus Europa – vielerorts wird Politik gemacht, die den Mehrheiten in den betreffenden Ländern nicht dient. Stattdessen folgt man der neoliberalen Ausrichtung der vorherrschenden „Der Gewinner nimmt sich alles“-Gier, der Arroganz und der Geringschätzung gegenüber den Völkern. Und so trickst und herrscht auch in Frankreich die politische Elite: Eine Reform, die den Namen nicht verdient, wird durchgesetzt von Macron und seinen Helfern im Parlament, das zur Kulisse verkommt, statt demokratische Institution zu sein. Und wieder einmal finden das auch hiesige Medien in Ordnung. Von Frank Blenz.
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Der Reform steht nichts mehr im Weg
„Der Rentenreform steht nichts mehr im Weg“, titelte die ARD-Tagesschau über den jüngsten Fortgang einer beispiellosen Attacke auf die Errungenschaften der arbeitenden Menschen in Frankreich. Zur Rechtfertigung übernahm die ARD kurzerhand die Begründung Macrons. Die Rede ist von der „Alternativlosigkeit“ dieser unsäglichen Reform. Die Tagesschau nennt die eine Seite, die andere verschweigt sie:
Die Regierung hatte das Anheben des Renteneintrittsalters mit einem drohenden Loch in der Rentenkasse begründet. Den Beschäftigten, die in die Kasse einzahlen, stehe eine wachsende Zahl von Rentnern gegenüber.
Dem ARD-Publikum wird dabei nicht erläutert, wie es sein kann, dass ein ganzes Land energisch und anhaltend protestiert, wenn denn die Reformen doch so gut für das Wohl von Land und Volk sein sollen. Man konstatierte lediglich:
14 Mal und zuletzt am Dienstag dieser Woche hatte es landesweite Proteste gegen die Reform gegeben.
Wie wäre es mit umfassender Information?
Offenkundig verbreitet die Tagesschau mit ihrer geschickten Art des Weglassens die gewollte Erzählung der Notwendigkeit von unpopulären Maßnahmen, weil diese nur deswegen unpopulär seien, da sie schmerzlich, aber nötig sind. Beim Lesen der Mär vom „drohendem Loch in der Kasse“ muss jedem vernünftigen Bürger doch einleuchten, dass eine solche Regierung dann gar nicht anders kann. Nicht wahr? Dass nach alternativen Möglichkeiten gar nicht gefragt wird, keine Forderungen vorkommen und/oder Zitate versus Regierungsbegründungen in den Beitrag einfließen, hat nichts mit journalistischer Sorgfalt zu tun, es geht auch um anderes, um die Absicht: den bestehenden Status Quo nicht infrage zu stellen. Der in Frankreich in vollem Gang befindliche Klassenkampf wird verschwiegen.
Doch der ARD kann geholfen werden, man kann es aus Frankreich erfahren: Drei Viertel der Bevölkerung sind gegen die Renten-“Reform“. Der Forderungskatalog der ausdauernden Protestbewegung umfasst Punkte wie die Rücknahme des Renten-Gesetzes, die Senkung des Eintrittsalters von 62 auf 60 Jahre sowie die Erhöhung von Renten, Pensionen, Studiengeldern und Löhnen. Die Forderungen sind begründet: So wie auch in Deutschland besteht ein fortwährender Reallohnverlust der arbeitenden Bevölkerung.
Auch könnte die ARD Ideen zur Finanzierung des „drohenden Loches in der Rentenkasse“ und der Gegenmaßnahmen zum Thema „wachsende Anzahl von Rentnern“ auflisten. Zum Beispiel? Rüstungsausgaben senken und Lebensverhältnisse in Frankreich auf den Weg bringen, die eine würdige Grundlage für gute Perspektiven für die Menschen sind, um, schlicht ausgedrückt, Familien zu gründen, Kinder in die Welt zu setzen und die Gesellschaft zu bereichern. Nebenbei: Das Geld, das die Regierung ausgibt, ist nicht ihres, es ist das der Menschen im Land. Und neben den vielen gibt es auch die wenigen Menschen, die vor lauter Geld nicht wissen, wohin damit.
ARD verschweigt auch die Fragwürdigkeit und Dreistigkeit beim Vorgang der Entmachtung des Parlaments
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ist clever, mächtig und gut vernetzt. Das Parlament wurde zum wiederholten Mal ausgeschaltet und das mit faulen Tricks. Macron missbrauchte die Verfassung, indem er sein Reformvorhaben als Posten im Haushalt deklarierte und damit Handhabe bekam, das unter „seinen Fittichen“ stehende Projekt auch per Dekret durchzubekommen – er ist ja der Präsident. Die Opposition und die Bevölkerung erlebten ohnmächtig, dass damit das Parlamentsvotum abgeschmettert wurde.
Ein weiterer Höhepunkt in dem schäbigen Spiel war die Abstimmung im Verfassungsrat. Dort wurde der Kurs Macrons als rechtmäßig anerkannt. Der Verfassungsartikel 49.3 wurde ebenfalls per Dekret durchgesetzt und so eine von der Opposition beantragte Abstimmung zur „Reform“ verhindert. Diese Abstimmung hätte es möglich gemacht, das Gesetz zu verhindern. Und das aus Gründen: Die Macroniten haben keine absolute Mehrheit im Parlament, lediglich eine relative Mehrheit, Präsident Emmanuel Macron und Regierungschefin Borne hätten bei einem Parlamentsvotum folglich das Gesetz zurücknehmen müssen; denn dazu bedarf es einer absoluten Mehrheit, die es bei einer Abstimmung nicht gegeben hätte. Doch Macron trickste, bekam von seiner Gefolgschaft eifrig Unterstützung, es wurde nicht abgestimmt. Das nach wie vor umstrittene und von 75 Prozent der Bevölkerung abgelehnte Gesetz tritt am 1. September in Kraft und bestätigt die Erhöhung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre.
Rentenalter hochzusetzen ist wegen Unbezahlbarkeit alternativlos, doch …
In einem vorherigen Artikel habe ich den Zynismus des Handelns der Regierung der Wenigen und den Jubel des medialen Mainstreams beschrieben, in dem eben auch unser aller öffentlicher Sender ARD schwimmt. Die Tagesschau-Macher seien nochmal daran erinnert: Für die Rente fehlt das Geld, bei anderen Projekten fließt es in Strömen wie der Champagner in den Chefetagen:
Ja, es gibt sie noch, Franzosen, die über Entscheidungen ihres Präsidenten jubeln: Militärs, an der Rüstung verdienendes Großbürgertum, ihre Gefolgschaften, die großen Medien, alle tatsächlichen Profiteure einer irrsinnigen Entwicklung, die derzeit nicht allein nur in Frankreich ihren schier nicht aufzuhaltenden Lauf nimmt. Was Wunder, dass deren Freude groß ist, plant die französische Regierung doch eine exorbitante Steigerung der Ausgaben für den „Verteidigungshaushalt“. Dass dieselbe Regierung noch vor Kurzem die klammen Kassen beklagte, was angeblich unmöglich machte, ohne Kürzungen und Erhöhung des Renteneintrittsalters auszukommen, um so die Kosten für die Altersversorgung der vielen Franzosen zu stemmen, ist der blanke Hohn. Die Maske wird heruntergerissen, für hohe Rüstungsausgaben ist Geld da – in Frankreich wie in Europa.
Der Tenor der Qualitätsmedien, Presse, TV, Rundfunk, die von ihnen verbreiteten vorherrschenden Denkweisen, Ausrichtungen nicht nur mitzutragen, sondern sogar gut zu finden, indem man den Jubel verbreitet, der bei all der wahnwitzigen Politik aufkommt, lässt sich Tag für Tag beobachten. Beim Rekord-Haushalt im Bereich französischer Verteidigungsausgaben meldete die FAZ:
„Der französische Verteidigungsminister legt einen Rekord-Haushalt vor. Die Streitkräfte sollen umgebaut werden. Mehr Geld ist für den „Informationskampf“ vorgesehen. Der französische Präsident Emmanuel Macron musste keine „Zeitenwende“ verkünden wie Bundeskanzler Olaf Scholz. Dennoch zeigt der Verteidigungshaushalt, den Verteidigungsminister Sébastien Lecornu am Montagnachmittag in der Nationalversammlung vorstellen will, dass auch in Frankreich die Friedensdividende Geschichte ist. Mit der geplanten Erhöhung der Verteidigungsausgaben um 30 Prozent trägt Macron als Chef der Streitkräfte dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine Rechnung. Die auf sieben Jahre angelegte Verteidigungsplanung sieht Gesamtausgaben von 413 Milliarden Euro vor. In der Armee wird bereits über einen Rekord-Haushalt gejubelt.“
Wen wundert da das Abdriften gen Rechts?
Die fortwährend asoziale, elitäre Politik, die Diffamierung des Sozialen, des Humanistischen, das Verschieben echter Reformen bis zum Sanktnimmerleinstag lässt Gesellschaften politisch statt nach links mehr und mehr nach rechts rücken. Das geschieht zunächst aus Protest und Wut über die Anmaßungen der Politik der Mitte und aus Enttäuschung über deren sogenannte „linke Konzepte“, die in Wahrheit neoliberal, inhuman und reaktionär sind. Wen soll ich wählen? Diese Frage stellen sich darauf Wähler, die selbst gar nicht rechts sind. Die Gefahr indes wächst, so auch in Frankreich, deshalb rechts zu wählen – und sei es aus Protest. Mit möglichen fatalen Folgen.
Der jetzige Präsident, der keiner der Mitte und des Ausgleichs ist, obschon er gern das Bad in der Menge nimmt und Bürgersprechstunden organisieren lässt, die ihn als populären Politiker aussehen lassen sollen, befindet sich in seiner zweiten, seiner letzten Amtszeit. Er hantiert für seine Klientel, die Reichen und Schönen, als gäbe es kein Morgen. Wer folgt ihm? Eine Frau Le Pen? Marine Le Pen steht bedrohlich hoch im Kurs. Man braucht sich im Fall ihrer Wahl keiner Illusion einer Besserung hinzugeben: Le Pen würde den Kurs von Macron fortführen, möglicherweise verschärfen, zöge sie in den Präsidentenpalast in Paris ein. Mein Freund, der Politologe Sebastian Chwala beobachtet außerdem:
Die fanatische Erzwingung der Rentenreform gegen den Willen der Menschen und möglicherweise auch des Parlaments versetzt der Legitimität des politischen Systems einen weiteren Schlag. Wenn nicht einmal mehr Wahlen, in diesem Fall jene für das Parlament, eine Auswirkung auf die politischen Verhältnisse haben, wird die Wahlenthaltung weiter ansteigen lassen. Zudem werden die Wut und Empörung einer Radikalisierung der Menschen weiter Auftrieb geben.
Titelbild: shutterstock/andriano.cz