Das Folgende ist ein gemeinsamer Text von Ulrike Guérot, Patrik Baab, Sucharit Bhakdi und Michael Meyen. Sie waren am 27. Mai gemeinsam Ziel einer SPIEGEL-Attacke. Albrecht Müller.
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Der SPIEGEL redet politischen Säuberungen in Universitäten das Wort. Das jedenfalls ist die Botschaft des Artikels „Prof. Dr. Kokolores“ vom 27. Mai 2023: „Rauswerfen – oder aushalten? Die Universitäten tun sich schwer mit Lehrenden, die Verschwörungstheorien anhängen oder inhaltlich abdriften. Wie weit reicht die Freiheit von Lehre und Wissenschaft?“
Der Artikel steht hinter der Bezahlschranke.
Die Hauptaussagen des Artikels sind:
Zu Michael Meyen:
„In einem Online-Interview lobte der Professor gedruckte Medien als ‚Schutz vor Überwachung und Kontrolle‘ offenbar durch eine nicht näher beschriebene ‚Macht‘, die der deutschen Medienlandschaft nahestehe – Geraune, wie man es von Verschwörungstheoretikern kennt… die ‚Süddeutsche‘ berichtete, der Professor werde nun auf Wunsch der Universität vom Verfassungsschutz überprüft…“
„Wenn Professorinnen und Professoren sich in solche Gesellschaft begeben, bringen sie ihre Hochschulen in Schwierigkeiten. Die müssen abwägen – zwischen der Freiheit von Lehre und Wissenschaft sowie Meinungsfreiheit einerseits und möglichem Durchgreifen andererseits.“
Zu Sucharit Bhakdi:
„Kokolores mit einem wissenschaftlichen Anspruch zu versehen ist insbesondere für Lehrstuhlinhaber leicht. Der Professorentitel entfaltet fast automatisch seine Wirkung. Das nutzen Akteure wie der Medizinprofessor Sucharit Bhakdi, der die Coronakrise als ‚konstruiert, erfunden und erlogen‘ bezeichnet hat.“
Zu Patrik Baab:
Die Universität Kiel zog ebenfalls wegen eines auffälligen Dozenten vor Gericht, konnte sich aber nicht durchsetzen. Sie hatte dem früheren NDR-Journalisten Patrik Baab einen Lehrauftrag entzogen, nachdem er als ‚Wahlbeobachter‘ zu russischen Scheinreferenden in besetzte Regionen der Ukraine gereist war.“
Zu Ulrike Guérot:
„Ganz anders in Bonn: Dort fanden sich Ende April rund 30 Studierende vor dem Arbeitsgericht zu einer Demonstration ein – zur Unterstützung der Universitätsleitung. Die hatte der angestellten Professorin Ulrike Guérot gekündigt, wegen mehrerer aus Sicht der Uni bestätigter Plagiate in Veröffentlichungen der Politikwissenschaftlerin, wie es in einer Erklärung der Hochschule heißt.“
Statt Nachrichten präsentiert das selbsternannte „Nachrichtenmagazin“ Lügen und Framing. Der Artikel zeigt beispielhaft den journalistischen Zerfall der selbsternannten Qualitätsmedien.
Ein Freund aus Stralsund – Mediziner, 70, Studium in St. Petersburg – erinnert sich: „Habe während der deutschen Teilung SPIEGEL gelesen; während der Studienzeit hat Vater ihn aufgehoben, auf dass ich ihn in den Ferien überfliegen möge. 1991 kamen zwei Spalten über DDR-Weine (ich war kompetenter) mit 14 groben Fehlern. Hochgerechnet enthielt das Heft 400 grobe Fehler. Ich habe nie wieder einen SPIEGEL gekauft.“ Der Artikel „Prof. Dr. Kokolores“ im SPIEGEL vom 27. Mai 2023 gibt ihm nachträglich recht. Der Beitrag ist anonym. Geschrieben hat ihn Lisa Duhm. Der Hinweis findet sich in der Datenbank Nexis. Das herauszufinden, nennt man Recherche. In diesem Punkt hat Lisa Duhm noch schlummernde Potentiale. Früher waren SPIEGEL-Autoren immer stolz, die Artikel mit ihren Namen zu zieren. Sogar Zuarbeit wurde vermerkt. Aber die postmo®denden Guerilla-Heckenschützen der inzwischen ziemlich verkommenen leitmedialen Journaille schießen lieber aus dem Hinterhalt wie Snipers vom Dach.
Das Problem ist die Masche des SPIEGEL – und der dahinterstehende Habitus. Dass das selbsternannte „Nachrichtenmagazin“ eben genau das nicht ist, wusste schon Hans Magnus Enzensberger 1957. Er schreibt: „These 1: Der SPIEGEL-Stil ist kein Stil, sondern eine Masche. These 2: Das ‚deutsche Nachrichten-Magazin‘ ist kein Nachrichten-Magazin. These 3: Der SPIEGEL übt nicht Kritik, sondern Pseudo-Kritik. These 4: Der SPIEGEL-Leser wird nicht orientiert, sondern desorientiert.“ [1]
All das trifft hier – wieder einmal – zu.
Ulrike Guérot
Die Europa-Expertin taucht mit großem Bild auf. Prominenz verkauft sich gut. Sie ist die bekannteste der angeblichen „Kokolores“-Produzenten. Das Buch „Endspiel Europa“, das sie mit dem Kulturphilosophen Hauke Ritz geschrieben hat, ist ein Renner. Es handelt vom Scheitern des Projekts Europa und dem Krieg in der Ukraine. [2] Die Autoren wissen, wovon sie reden: Das Buch ist gut belegt und befindet sich im Einklang mit dem Forschungsstand. Schon 2016 hat der Osteuropa-Experte Prof. Richard Sakwa vom „Selbstmord Europas“ im Ukraine-Konflikt gesprochen. [3] Der Außenpolitik-Experte Prof. John Mearsheimer von der Universität Chicago macht die EU-Osterweiterung mitverantwortlich für den russischen Angriffskrieg. [4] Aber der Forschungsstand ist Lisa Duhm egal. Sie kennt ihn offenbar nicht.
Sie zeigt auch eine Rechenschwäche: Nicht 30 Gegendemonstranten erschienen zum Gütetermin vor dem Arbeitsgericht Bonn, sondern laut Augenzeugenberichten nur ca. 15, also die Hälfte. Die viel größere Zahl von Unterstützern – es waren mindestens 80 Demonstranten, die vor dem Gericht für Ulrike Guérot auf die Straße gegangen sind – unterschlägt die Autorin. Im Lehrbuch steht: „Ausgewogenheit heißt: alle Aspekte.“ [5] Was Lisa Duhm hier macht, ist „Agenda Cutting“: Fälschen durch Weglassen. [6]
Die Universität Bonn hat sich am 30. Oktober 2022 von Ulrike Guérot und ihrem Buch distanziert und sich dabei „geschlossen an die Seite des ukrainischen Volkes“ gestellt. Eine unübliche Erklärung für eine Universität, die als Stätte freier Forschung neutral und distanziert sein sollte. Die Kündigung wegen „Plagiats-Vorwürfen“ hat den Beigeschmack einer Aufkündigung der Freiheit von Forschung und Lehre nach Art. 5 Grundgesetz, denn es geht um Lappalien. Sie sind vorgeschoben. Ein Gericht wird dies zu klären haben. Aber der Grundsatz in dubio pro reo hat den SPIEGEL, das Skandalblatt der Republik, noch nie interessiert. Lisa Duhm folgt in ihrer Darstellung lieber dem Mob der Straße und bedient dessen Gier nach öffentlichem Denunziantentum.
Sucharit Bhakdi
Dem SPIEGEL zufolge müssen Hochschulen abwägen – zwischen der Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre sowie der Meinungs- und Pressefreiheit einerseits und möglichem „Durchgreifen“. Abwägen also zwischen Rechten mit Verfassungsrang und Eingriffen in diese verfassungsmäßigen Freiheitsrechte, was nur unter engen gesetzlichen Voraussetzungen möglich ist. Unter dem vom SPIEGEL gewünschten „Durchgreifen“ ist offensichtlich der Entzug des Professorentitels und der Verlust des Arbeitsplatzes für unbequeme Wissenschaftler gemeint. Geht es nach dem Magazin, soll sich die Hochschule aufführen als verlängerter Arm der Exekutive. Diese Position ist klar gegen Art. 5 des Grundgesetzes gerichtet und damit eine Aufforderung zur Zensur. Sollte nicht im wissenschaftlichen Diskurs erarbeitet werden, wo die Grenze zwischen „Kokolores“ und Wissenschaft verläuft? Genau das fordert Sucharit Bhakdi schon lange.
„Professor darf er sich weiterhin nennen.“ Aha. Die Masche des SPIEGEL: Aussagen von Bhakdi und der anderen „Kokolores“-Professoren einfach als absurd abzutun, höhnisch dazu, ohne das Argument, also den Sachverhalt, auch nur ansatzweise zu prüfen. Moral ersetzt Verstand. Die Anti-Aufklärung findet im SPIEGEL ihre willigen Helfershelfer im Gewand der meist woken Jung-Journalisten mit Karriereambitionen. In der Redaktion regiert die griechische Tragödie à la Aischylos: Es ist des Menschen Charakter, den der fällt, zu treten. Die, auf denen herumgetreten wird, sind die Trittleiter für die eigene Karriere. Die fachliche Autorität des Professorentitels ist dem SPIEGEL nur genehm, wenn die Redaktions- und Regierungslinie bestätigt wird. Die Ex-Volontärin im Panorama-Ressort widerlegt den unliebsamen Wissenschaftler im inhaltslosen Fakten-Check.
„Kokolores mit einem wissenschaftlichen Anstrich zu versehen ist insbesondere für Lehrstuhlinhaber leicht.“ Kokolores mit einem journalistischen Anstrich zu versehen ist insbesondere für SPIEGEL-Redakteure leicht. Die vermeintliche Autorität des SPIEGEL entfaltet fast automatisch ihre Wirkung. Wenn der Leser aber allzu oft mit Sottisen an der Nase herumgeführt wird, geht die Masche nach hinten los: Die verkaufte Auflage ist seit 1998 um 33,5 Prozent gesunken. [7] Dies muss dann mit finanzieller Förderung durch die Gates-Stiftung kompensiert werden. [8] Hat der Kampf der Lisa Duhm gegen vermeintliche Verschwörungstheorien vielleicht auch damit zu tun, dass die Bill and Melinda Gates Foundation, die für Massenimpfungen gegen Corona eintritt, den SPIEGEL in Millionenhöhe bezuschusst? Oder dass sich Journalisten bei der Bundesregierung gerne mal ein Zubrot verdienen? [9]
Follow the money – so funktioniert Recherche. [10] Dass der SPIEGEL als einst herrschaftskritisches, investigatives Journal ausgedient hat, und Grundbegriffe journalistischen Arbeitens – die Suche nach Akteuren, Interessen und Motiven – in einer luftigen Wolke von „Verschwörung“ verschwindet, ist ein Problem für die Republik: zu beklagen ist die Neutralisierung jedweder Kritik und mithin das ungebremste journalistische Durchwinken regierungsamtlicher Positionen.
Michael Meyen
Die Überschrift „Prof. Dr. Kokolores“ ist eine Variation des Artikels „Prof. Dr. Verschwörung“ über Stefan Homburg, der am 14. Mai 2020 in der Süddeutschen Zeitung erschienen ist. [11] Darin geht es darum, dass Prof. Homburg die Corona-Kontaktsperren für Unfug hielt, was sich im Nachhinein auch als richtig herausgestellt hat. Die Schlagzeile war also im Falle Homburg schon Unsinn und wird durchs Variieren nicht besser. Lisa Duhm schreibt: „Zu einem Gespräch ist der Professor nicht bereit, eine Anfrage des SPIEGEL blieb unbeantwortet.“ In ihrer Anfrage vom 2. April 2022 war aber von einem Gespräch keine Rede. [12] Dass Meyen „Geraune“ liefere, „wie man es von Verschwörungstheoretikern kennt“, zeigt nur, dass sie ihm die SPIEGEL-Masche aufdrückt, wobei allein schon der Begriff „Geraune“ derart tendenziös ist, dass er sich für einen analytischen Artikel eigentlich verbietet.
Eine Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Arbeit von Michael Meyen findet nicht statt. Eher gibt Lisa Duhm zu erkennen, dass sie nichts von ihm gelesen hat. Dann wüsste sie nämlich, dass sie selbst in der von Meyen beschriebenen „Propaganda-Matrix“ drinhängt. [13] Die de facto anmaßenden Fragen, die Lisa Duhm stellt, kann sie teils selbst beantworten, teils findet sie Antworten von Meyen im Netz. Dort hat Meyen auch erklärt, was er von solchen Denunziations-Etiketten hält: Sie sind untauglich für eine wissenschaftliche, juristische oder journalistische Beweisführung und richten sich abwertend gegen die Zielperson. [14] Sowas nennt man Denunziation. Vorverurteilung statt Erkenntnisinteresse.
Hans Magnus Enzensberger zitiert das Statut des Magazins: „Die Form, in der der SPIEGEL seinen Nachrichtengehalt an den Leser heranträgt, ist die Story.“ Doch die Story hat für den Autor einen Haken: „Er muss die Fakten interpretieren, anordnen, modeln, arrangieren, aber er darf das nicht zugeben… Ich kenne keine Publikation, die es in der Technik der Suggestion, des Durchblickenlassens, der Insinuation weitergebracht hätte als der SPIEGEL. Die Wahrheit wird durch diese Technik allerdings nicht aufgehellt, sondern vielmehr paralysiert.“ Die Relotius-Affäre lässt grüßen. Eigentlich hatte der SPIEGEL damals schon fertig.
Der Begriff „Verschwörungstheorie“ ist sowieso ein brauchbares Gefäß, was vor allem jeder Journalist wissen müsste, dem es doch darum gehen sollte zu erfassen: Was ist passiert? Der Begriff verstellt den analytischen Zugang. Er bietet, wie Umberto Eco sich ausgedrückt hat, „eine Form, die jeder nach Belieben mit einem Inhalt füllen kann“. [15] Dies dient, so Zygmunt Bauman, „der Politik der Ausgrenzung, derer sich die herrschenden Mächte als Strategie zur Lenkung der Gesellschaft im Allgemeinen und als bevorzugte Technik des Regierens im Besonderen befleißigen.“ [16]
Begriffe wie „Verschwörungstheorie“, so nichtssagend sie sind, zielen nicht auf Debatte, sondern darauf, die Zielperson als blind für Tatsachen und getrieben von bösen Absichten hinzustellen: „Die Zuschreibung übler Absichten macht den Beweis der eigenen Aufrichtigkeit überflüssig… Sich solche Botschaften auch nur anzuhören käme einem Verrat an ‚unserer‘ Identität gleich, durch den unsere Entschlossenheit geschwächt und die Grundfesten der Welt, zu der wir gehören: unserer Welt, untergraben werden könnten.“ [17] Solche Denunziations-Etiketten des ökolibertären Bürgertums passen zum Spiegel und seiner Masche. Enzensberger: „Die Ideologie des SPIEGEL ist eine skeptische Allwissenheit, die an allem zweifelt, außer an sich selbst.“ Von Verschwörung reden nur die, die den eigenen Standpunkt der Betrachtung nicht infrage stellen dürfen, weil sie keine Belege für ihn haben, also am Glauben hängen. Und nichts ist schlimmer, als den zu verlieren, wusste schon Friedrich Nietzsche. Denn dann müsste man sich mit der Realität auseinandersetzen.
Die Behauptung der Süddeutschen zu wiederholen, der Professor werde nun auf Wunsch der Universität vom Verfassungsschutz überprüft, macht sie nicht richtiger. Sie ist offensichtlich falsch. [18] Voneinander Abschreiben hat in der Kopfjäger-Journaille längst die Recherche ersetzt. Darüber hat sich Meyen beim Presserat beschwert und die Beschwerde öffentlich gemacht. [19] Auch hier hätte schon eine Suchmaschine geholfen. Genug Stoff also für eine Journalistin, die den Grundsatz „Audiatur et altera pars“ ernst nimmt. Was hat Lisa Duhm studiert? Den internationalen Masterstudiengang „Journalism, Media and Globalization“ in Aarhus und Hamburg? [20] Da scheint sie ja richtig was gelernt zu haben. Recherchieren gehört offenbar nicht dazu.
Patrik Baab
Der Journalist hatte nach Recherchen im Westen der Ukraine auch in den russisch besetzten Gebieten im Donbass recherchiert. Nach einer Denunziationskampagne von t-online haben ihm zwei Universitäten die Lehraufträge entzogen – die Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft in Berlin und die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel: Allein durch seine Anwesenheit habe er Putins Angriffskrieg legitimiert. Patrik Baab klagte gegen den Entzug des Lehrauftrages durch die Uni Kiel. Das Verwaltungsgericht gab ihm in erster Instanz recht.
Daraus macht der SPIEGEL: „Die Universität Kiel zog ebenfalls wegen eines auffälligen Dozenten vor Gericht, konnte sich aber nicht durchsetzen. Sie hatte dem früheren NDR-Journalisten Patrik Baab einen Lehrauftrag entzogen, nachdem er als ‚Wahlbeobachter‘ zu russischen Scheinreferenden in besetzte Regionen der Ukraine gereist war… Das Verwaltungsgericht Schleswig entschied allerdings, dass die Hintergründe der Reise nicht ausreichend aufgeklärt worden seien; die Kündigung des Lehrauftrages sei rechtswidrig. Der Streit geht auch hier vermutlich in die nächste Instanz.“
Wahr ist dagegen: Nicht die Uni Kiel ist gegen Patrik Baab, sondern Patrik Baab ist gegen die Uni Kiel vor Gericht gezogen. Er war kein „Wahlbeobachter“ im Donbass und ist auch nicht als solcher gereist. Von den geplanten Referenden hat er erst während der Reise erfahren. Zweck der Reise war die Recherche für ein Buchprojekt. Dieser Hintergrund wurde vor Gericht auch geklärt. Die Kammer hat aber festgestellt, dass es die Uni Kiel vor der Kündigung des Lehrauftrages verabsäumt hat, genau diese Hintergründe zu klären. Auch deshalb lautet das Urteil, dass die Kündigung nicht rechtens war.
Falschaussagen und Verdrehungen, wohin man blickt. War bei Lisa Duhm Vorsatz im Spiel? Denn eins steht fest: Es hätte genügt, die Pressemitteilung des Verwaltungsgerichts zu lesen. Sie steht online. Auch andere Quellen sind öffentlich. Über eine Realitätsprobe in der realen Welt reden wir hier nicht; googeln ist offenbar schon zu viel verlangt.
Wie steht es im SPIEGEL-Statut: „Alle im Spiegel verarbeiteten Nachrichten müssen unbedingt zutreffen.“ Nicht doch. Wir halten es mit Colin Crouch: „Nachprüfbare Fakten spielen keine Rolle. Wir leben im postfaktischen Zeitalter.“ [21] Man könnte sarkastisch sagen: Die Sitzredakteure brauchen kein Handwerk mehr, sondern Killer-Instinkt. Enzensberger: „Die Welt wird zum Häftling der Masche.“ Konfrontiert wurde Patrik Baab auch nicht. Auch Ulrike Guérot wurde vom SPIEGEL für diesen Artikel weder gefragt noch um ein Gespräch gebeten. Es wird nicht mehr mit Betroffenen, sondern nur noch über sie geredet, damit auch ja nichts das eigene Vorurteil gefährdet.
Der SPIEGEL führt sich nicht auf wie ein Nachrichten-, sondern wie ein Nullrecherche-Magazin. Da fällt einem Karl Kraus ein: „Keinen Gedanken haben und ihn ausdrücken können – das macht den Journalisten.“ [22] Zumindest im Falle Lisa Duhm. Das ist ganz schlechtes Handwerk. Das böse Nazi-Wort von der Lügenpresse gewinnt hier bestürzende Aktualität.
Heute erscheint der SPIEGEL als Propagandablatt des gehobenen akademischen Mittelstandes. „Das Immergleiche“, so Enzensberger, „wird als Spezialität verpackt und an „ahnungslose Bescheidwisser verkauft“. Aus diesem Milieu ahnungsloser Bescheidwisser stammen wohl auch die meisten Redakteure. Pierre Bourdieu hat den Habitus dieser Leute als „respektvollen Konformismus“ [23] bezeichnet. Sie buckeln nach oben und passen sich an. Die Redaktionen sind voll davon. Der SPIEGEL präsentiert hier weniger Gehalt als vielmehr Haltung. Sie entspricht dem Opportunismus der Intellektuellen: Auf Du und Du mit dem Stöckelschuh der Mächtigen. Was Lisa Duhm macht, heißt in der Medienforschung „Strategisches Framing“: Den Lesern die eigenen Vorurteile unterjubeln, ohne dies als Kommentierung auszuweisen. [24] Statt Recherche kommen Wertungen, damit die da oben sehen: Die Redakteurin ist zu gebrauchen, die Leser wissen, was sie zu denken haben. Wenn die Fakten nicht passen, werden sie passend gemacht. So empfiehlt sich Lisa Duhm für höhere Aufgaben im Lohnschreiber-Milieu.
„Es ist, schlicht und ergreifend, das gute alte ‚Spiegel‘-Prinzip“, schreibt Maxim Biller. „Die heuchlerische Methode einer Zeitschrift also, deren gehirngewaschene Redaktions-Moonies seit über 40 Jahren lauthals verkünden, sie brächten dem Publikum Nachrichten und Facts, um es dann aber statt dessen immer nur mit Schnurren, Anekdoten und Polit-Kolportagen abzuspeisen, die von der ersten bis zur letzten Zeile durchkommentiert sind und jeweils einer Story-immanenten Dramaturgie folgen, die wohl der Literatur entlehnt ist, niemals aber damit zu tun hat, wie sich die in der Regel eher langweilige, unverkaufbare Wahrheit abgespielt hat. So bedient der ‚Spiegel‘ perfekt die ewige Seriositätsheuchelei der Bildungsbourgeoisie, und er selbst ist für sie aber sozusagen die Kirche, in der dann gevögelt wird.“ [25]
Die Heuchelei des SPIEGEL wird zur Waffe: Wir meinen: Er beteiligt sich an Denunziations-Kampagnen, die darauf abzielen, die Universitäten politisch zu säubern, vorauseilenden Gehorsam unter Studenten und Wissenschaftlern zu erzwingen, Zensur durchzusetzen und die wirtschaftliche Existenz der Zielpersonen zu vernichten. Allein dies dokumentiert ihren antidemokratischen Charakter. Der Zerschlagung der Demokratie geht die Zerschlagung der demokratischen, pluralistischen Öffentlichkeit voraus. An dieser Transformation hat der SPIEGEL entscheidenden Anteil, denn er macht sich zum Träger der Gegenaufklärung und beeinflusst so die Transformation des demokratischen Bewusstseins. Dies hat Folgen, die über die direkte Wirkung auf seine Leserschaft hinausweisen. Beiträge wie der von Lisa Duhm tragen bei zur Vergiftung des sozialen Klimas und sägen damit an den Grundlagen der Demokratie.
Der SPIEGEL ist bei McCarthy angekommen. Es ist ein Weg nach unten. Das Blatt ist längst kein Sturmgeschütz der Demokratie mehr, sondern reiht sich ein in die Gruppe der Propaganda- und Konzern-Medien, die dem politischen Kurs des herrschenden Parteien-Kartells im Bundestag und der Konzerne folgen. Die Krise des Blattes ist eine Krise seines Journalismus. Es wird noch eine Zeitlang dauern, bis man das auch an der Ericusspitze in Hamburg merkt: Das Magazin hat abgewirtschaftet. Der SPIEGEL hat fertig.
Wir, die vier betroffenen Autoren dieses Textes, wir ärgern uns nicht über die Diffamierung, die uns hier – wieder einmal! – widerfahren ist. Aber wir sind traurig und fassungslos über das inzwischen unterirdische Niveau einst deutscher Qualitätsmedien und zugleich äußerst besorgt über den Zustand der bundesdeutschen Demokratie, deren Erosion der Grundfeste an diesem desolaten Zustand der Leitmedien ablesbar ist.
Leserbriefe zu diesem Beitrag finden Sie hier.
Titelbild: Screenshot / SPIEGEL Online
[«1] Enzensberger, Hans Magnus: Die Sprache des SPIEGEL. In: Der SPIEGEL v. 05.03.1957, https://www.spiegel.de/kultur/die-sprache-des-spiegel-a-2013630a-0002-0001-0000-000032092775 S. auch: Enzensberger, Hans Magnus: Die Sprache des „SPIEGEL“. In: Mayer, Hans: Deutsche Literaturkritik der Gegenwart IV, 2, Frankfurt a.M.: Goverts 1972, S. 7-40
[«2] Guérot, Ulrike u. Hauke Ritz: Endspiel Europa. Warum das politische Projekt Europa gescheitert ist – und wie wir wieder davon träumen können. Frankfurt a.M.: Westend 2022
[«3] “Im Herzen der EU steht ein Friedensprojekt, und dieses Versprechen hat sie vor 1989 gehalten. Aber vor der nicht weniger anspruchsvollen Herausforderung in der postkommunistischen Ära, die Grundlagen für einen vereinigten Kontinent zu schaffen, ist die EU spektakulär gescheitert.“ Sakwa, Richard: Frontline Ukraine. Crisis in the Borderlands. London: I. B. Tauris 2016, S. 227
[«4] “Bei der EU-Osterweiterung geht es auch darum, die Ukraine wirtschaftlich in den Westen zu integrieren, wie wir zuvor auch Tschechien, die Slowakei und die Baltischen Länder in den Westen integriert haben. Tatsächlich machen wir das auch mit beiden, mit der NATO als militärische und der EU als wirtschaftliche Organisation. Die Absicht ist, die Ukraine von Russland abzulösen und zu einem Teil des Westens zu machen. Der dritte Teil der Geschichte ist dann die Förderung einer Orangenen Revolution, um in der Ukraine und anderswo die Demokratie zu unterstützen. Wie Sie wissen, versuchen die Vereinigten Staaten überall auf der Welt, Regime zu stürzen.“ Mearsheimer, John: Why is the Ukraine the West’s Fault? The Causes and Consequences of the Ukraine Crisis. The University of Chicago, 2015, 11:50, https://www.youtube.com/watch?v=JrMiSQAGOS4
[«5] Horsch, Jürgen, Josef Ohler, Dietz Schwiesau: Radio-Nachrichten. Ein Handbuch für Ausbildung und Praxis. München: List1994, S. 15f. Auch Baab, Patrik: Recherchieren. Ein Werkzeugkasten zur Kritik der herrschenden Meinung. Frankfurt a.M.: Westend 2022, S. 29
[«6] „Für die Beurteilung von Medienprodukten ist entscheidend, dass nicht durch eine stark stereotype Auswahl von Fakten die vermittelte… Realitätsvorstellung erheblich von der erlebten Wirklichkeit vor Ort abweicht. Denn es kann immer ein völlig falsches Bild entstehen, auch wenn Fakten berichtet werden. Hierin liegt die Crux, dass auch mit Fakten gelogen werden kann.“ Schiffer, Sabine: Medien-Analyse. Ein kritisches Lehrbuch. Frankfurt a.M.: Westend 2022, S. 23
[«7] https://www.ivw.de/aw/print/qa/titel/122?quartal%5B20231%5D=20231&quartal%5B19984%5D=19984
[«8] Strate, Gerhard: Der ideale Dünger für neue Verschwörungstheorien. Der „Spiegel“ stellt Proteste gegen die Corona-Maßnahmen pauschal in die Verschwörungstheoretiker-Ecke. Zugleich bekommt das Magazin von der Bill und Melinda Gates Foundation Millionen für ein journalistisches Projekt. Wie glaubwürdig ist es noch? In: Cicero v. 22. Mai 2020, https://www.cicero.de/innenpolitik/spiegel-magazin-foerderung-bill-gates-duenger-verschwoerungstheorien-corona-proteste; Gates-Stiftung unterstützt den Spiegel mit weiteren 2,9 Millionen Dollar. In: Berliner Zeitung v. 10.11.2021, https://www.berliner-zeitung.de/news/gates-stiftung-unterstuetzt-den-spiegel-mit-weiteren-29-millionen-dollar-li.194183
[«9] Deutscher Bundestag: DS 20/4850 v. 08.12.2022, https://dserver.bundestag.de/btd/20/048/2004850.pdf
[«10] Woodward, Bob: Der Informant. Deep Throat, die geheime Quelle der Watergate-Enthüller. München: DVA 2005, S. 71
[«11] Brinkmann, Bastian: Prof. Dr. Verschwörung. In: Süddeutsche Zeitung v. 14. Mai 2020, https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/corona-verschwoerung-stefan-homburg-1.4906380
[«12] Sehr geehrter Herr Prof. Meyen, ich arbeite als Redakteurin für den SPIEGEL und möchte Sie um eine Stellungnahme zu folgenden Fragen bis Montag, 3.4., 9:00 Uhr bitten.
1. Auf der Webseite der LMU München ist am 1.4.23 eine Stellungnahme Ihres Kollegiums erschienen, in der Professorinnen und Professoren sich von Ihnen distanzieren. Es heißt es, Sie seien „in das Herausgebergremium der Wochenzeitung „Demokratischer Widerstand“ aufgerückt“. Ist das korrekt?
2. Ist es korrekt, dass Sie seit dem 19. März 2023 Herausgeber der Zeitung sind?
3. Wie reagieren Sie auf die Stellungnahme und die Vorwürfe Ihrer Kolleg*innen?
4. Welche Folgen wollen Sie daraus für sich persönlich und für Ihr berufliches Wirken ziehen?
5. 2020 bezeichneten Sie Ken Jebsen als professionellen Journalisten, von Ihrem Blog „Medienrealität“ hat sich die Institutsleitung der LMU bereits vor drei Jahren distanziert. “Meyen zeigt Anzeichen einer klassischen Radikalisierungsbiografie”, warf Ihnen „Die Zeit“ im vergangenen Jahr vor. Wie reagieren Sie auf diesen Vorwurf?
Ich bedanke mich für Ihre Antworten. Herzliche Grüße, Lisa Duhm, Ressort Deutschland/Panorama
[«13] Meyen, Michael: Die Propaganda-Matrix. Der Kampf für freie Medien entscheidet über unsere Zukunft. München: Rubikon 2021, S. 202
[«14] Meyen, Michael: Diffamierungs-Zeit III (Schlusswort). In Hypotheses v. 02. März 2022, https://medienblog.hypotheses.org/10440
[«15] Eco, Umberto: Der Friedhof in Prag. München: Hanser 2011, S. 99
[«16] Bauman, Zygmunt: Retrotopia. Frankfurt a.M. 2018(2), S. 56
[«17] Bauman, Zygmunt: Retrotopia. Frankfurt a.M. 2018(2), S. 84f.
[«18] Schreyer, Paul: Verfassungsschutz gegen Professor Meyen? In: Multipolar v. 14. April 2023, https://multipolar-magazin.de/artikel/verfassungsschutz-gegen-professor-meyen
[«19] Meyen, Michael: Beschwerde beim Presserat. In: Freie Medienakademie v. 03. Mai 2023, https://www.freie-medienakademie.de/medien-plus/59
[«20] https://www.thalia.de/autor/lisa+duhm-14217495/
[«21] Crouch, Colin: Postdemokratie revisited. Frankfurt a.M. 2021, S. 243
[«22] Kraus, Karl: Die Fackel 281-282, 1909, S. 29
[«23] Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982, S. 519
[«24] Schiffer, Sabine: Medien-Analyse. Ein kritisches Lehrbuch. Frankfurt a.M.: Westend 2021, S. 19-21
[«25] Biller, Maxim: 100 Zeilen Hass. Kannibalen des Realen. In: Tempo v. Januar 1992, S. 14