Die EU hat mittlerweile ihr 10. Sanktionspaket aufgelegt, doch das von Annalena Baerbock vorgegebene Ziel, „Russland [zu] ruinieren“, hat sich nicht erfüllt. Ganz im Gegenteil. Russlands volkswirtschaftliche Daten sind erstaunlich stabil und auch der erträumte Regime Change ist kaum mehr als ein Wunschgedanke. In den Think Tanks des Westens rumort es. In den USA werden nun Vorschläge laut, die Sanktionen gegen Russland durch „sekundäre Sanktionen“ gegen die Staaten zu erweitern, die sich nicht an die westlichen Sanktionen halten. Waren die bisherigen Sanktionen ein Schuss ins eigene Knie, wäre dies wohl strategischer Selbstmord. Von Jens Berger.
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Sanktionen gegen missliebige Staaten zu verhängen, ist eine relativ junge Entwicklung. Schaut man ins SPIEGEL-Archiv, so stößt man in der Ausgabe 9/1957 das erste Mal auf diesen Begriff. Bis 1970 kam der Begriff im SPIEGEL gerademal 138-mal vor – und das in den meisten Fällen auch noch in einem ganz anderen Kontext. Allein im letzten Jahr tauchte der Begriff „Sanktionen“ ganze 1.372-mal im SPIEGEL auf – häufiger als in allen SPIEGEL-Ausgaben bis 1990 zusammen.
Das ist zumindest insofern erstaunlich, da Sanktionen als politisches Instrument nicht gerade eine Erfolgsgeschichte sind. Ein Arbeitspapier des FIW kommt zu dem Ergebnis, dass die unilateralen Sanktionen der USA das Bruttoinlandsprodukt der sanktionierten Länder im Schnitt gerade einmal um 0,5 bis 0,9 Prozent verringert haben. Und in Sachen Regime Change sieht es noch düsterer aus. Der Politikwissenschaftler Robert A. Pape kommt in einer umfassenden Studie zu dem Ergebnis, dass Sanktionen, deren Ziel der Regime Change ist, nur in vier Prozent aller Fälle Erfolg hatten. Ein gutes Beispiel dafür sind die seit 1958 bestehenden Sanktionen der USA gegen Kuba.
Wenn man diese Zahlen kennt, kann es nicht überraschen, dass auch die Sanktionen westlicher Staaten gegen Russland keines der Ziele erreicht haben, die man sich von ihnen versprochen hat. Das BIP Russlands wird laut IWF-Prognose in diesem Jahr sogar leicht wachsen, während sanktionierenden Staaten wie Großbritannien sogar ein schrumpfendes BIP vorausgesagt wird. Auch Deutschland leidet unter den selbstverhängten Sanktionen – mehr als es die aktuelle BIP-Entwicklung ausdrücken könnte, da die konjunkturellen Auswirkungen der Reallohnverluste erst zeitversetzt volkswirtschaftlich verheerend wirken.
Auch in Sachen Regime Change sehen die Prognosen negativ aus. Sowohl das russische Levada-Institut als auch die amerikanische Gallup-Gruppe kommen zu dem Ergebnis, dass der Rückhalt der russischen Bevölkerung hinter Präsident Putin durch Krieg und Sanktionen nicht etwa gesunken, sondern gestiegen ist. Heute hat er Zustimmungswerte, von denen Biden, Scholz und Co. nur träumen können. Ein Regime Change in den USA oder Deutschland erscheint zurzeit wahrscheinlicher als eine Farben-Revolution in Russland.
Während die Regierungen des Westens das Scheitern entweder schönreden oder verdrängen, sind die westlichen Think Tanks da schon weiter. Wer nun aber glaubt, dass man die richtigen Lehren aus dem Scheitern zieht, sieht sich jedoch getäuscht. Stattdessen wird die Forderung immer lauter, die Sanktionen auf Drittstaaten auszuweiten, die sich nicht an die unilaterale Sanktionspolitik des Westens halten. Dieser Vorschlag kommt unter anderem von Kenneth Rogoff, dem ehemaligen Chefökonomen des IWF, der in die Geschichtsbücher wohl als der Ökonom eingeht, mit dessen „Excel-Fehler“ die zerstörerische Austeritätspolitik begründet wurde.
Dabei hat Rogoff zumindest aus der sehr eingeschränkten Perspektive des Elfenbeinturms der US-Think-Tanks noch nicht einmal vollkommen unrecht. Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem volkswirtschaftlichen Schaden von Sanktionen und der Zahl der wichtigen Handelspartner, die sich den Sanktionen anschließen. In der Realität sieht es jedoch schon wieder anders aus. Selbst die massiven von fast allen Staaten der Welt unterstützten Sanktionen gegen Nordkorea haben weder die atomare Aufrüstung dieses Staates verhindern können noch zu einem Regime Change geführt.
Im Falle der Russland-Sanktionen sind derlei Überlegungen jedoch ohnehin nur graue Theorie. Welche Drittstaaten will Rogoff denn sanktionieren? Glaubt er ernsthaft, dass beispielsweise die großen Handelspartner Russlands, also China, Indien, Türkei oder Saudi-Arabien, sich den westlichen Sanktionen anschließen, wenn der Westen auch ihnen Sanktionen im Falle einer Verweigerung androht? Ganz sicher nicht. Und sollte der Westen die Drohung dieser „sekundären Sanktionen“ wahrmachen, wird es ein Tit-for-Tat geben und die Sanktionen würden 1:1 mit Gegensanktionen beantwortet.
Offenbar haben Neocons wie Rogoff die letzten 50 Jahre verschlafen. In der unilateralen Welt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und vor dem Aufstieg von China und Indien hatte der Westen vielleicht noch die politische und vor allem ökonomische Macht, dem Rest der Welt seine Regeln aufzudrücken. Doch diese Tage sind gezählt. Bedenkt man allein die Lieferketten und die Frage der Abhängigkeit von globalen Absatzmärkten, scheint es eher so zu sein, dass wir heute analog zur atomaren Abschreckung auch ein ökonomisches „Gleichgewicht des Schreckens“ haben. Und hier scheint es mir sogar eher so zu sein, dass der Westen stärker von China und auch Indien abhängt als umgekehrt.
Bildlich erinnert die Drohung von Rogoff daher eher an einen Verrückten, der mit der Pistole an der eigenen Schläfe droht, sich selbst zu erschießen, wenn man seinen Forderungen keine Folge leistet. Das wäre dann eine Steigerung zum Schuss ins eigene Knie. Aber wer weiß? Wenn Ideologien das Handeln lenken, haben es rationale Argumente bekanntlich schwer und gerade die Neocons sind ja dafür bekannt, dass sie die Welt auch in ein Chaos stürzen würden, nur um die amerikanische Vorherrschaft zu verteidigen.
Titelbild: Tikhonova Yana/shutterstock.com