Am liebsten sah sich Hadji Mohamed Suharto als „Bapak“, als lächelnder Landesvater. Zum Lächeln hatte er wahrlich Grund: Unangefochten lenkte der Ex-General über drei Jahrzehnte die Geschicke Indonesiens – mit über 17.000 Inseln und damals 215 Millionen Einwohnern das flächenmäßig größte und bevölkerungsreichste Land Südostasiens. Er genoss das zweifelhafte Privileg, dienstältester Diktator in der Region gewesen zu sein. Suharto ereilte nicht etwa das gleiche Schicksal wie seinen nördlichen Gesinnungskumpanen Marcos. Er musste lediglich langsam die politische Bühne verlassen. Schmerzlich genug; Suharto war schließlich nicht nur der Präsident Indonesiens, er betrachtete sich überdies als javanischer König. „Nicht von einer wütenden Menge wurde dieser ‚König‘ aus seinem Palast gejagt wie im Frühjahr 1986 der philippinische Präsident Ferdinand E. Marcos“, befand der indonesische Schriftsteller Agus R. Sarjono im Gespräch mit diesem Autor: „Nein: ‚Bapak‘ trat am 21. Mai 1998 lächelnd zurück“ – genauer: beiseite. Völlig unspektakulär übertrug er die Amtsgeschäfte seinem Stellvertreter und langjährigen Intimus, Bacharuddin Jusuf Habibie. Ein Rückblick unseres Südostasienexperten Rainer Werning, dessen ersten Teil Sie hier nachlesen können.
Krisenmanagement seitens Weltbank & IWF
Am 17. Januar 1998 machte das Londoner Wirtschaftsmagazin The Economist seine Hintergrundanalyse zu Indonesien mit einem Foto auf, auf dem das Banner „Step down, Suharto” prangte: Mr. Suharto, so hieß es in dem Bericht unumwunden,
„hat es weitaus besser verstanden, Reformen anzukündigen, als diese auch umzusetzen. Er ist nicht zuletzt angehalten, ein Wirtschaftsgebäude aufzubrechen, das seinen Söhnen und Töchtern ein enormes Vermögen beschert hat. (Das gesamte Familienvermögen schätzte das Wochenblatt auf umgerechnet bis zu 40 Mrd. US-Dollar – R.W.) (…) Suhartos sechs Kinder haben ihren politischen Einfluss benutzt, um sich große Kapitalanteile von Fluggesellschaften über Banken und petrochemische Firmen bis hin zum Timor, Indonesiens ehrgeizigem Automobil-Projekt, zu sichern. Ausländische Unternehmen, die in Indonesien Fuß zu fassen trachteten, mussten häufig auf Suharto-Getreue als ‚Berater’ zurückgreifen, um die Räder mit Schmierfett in Schwung zu halten.“
Fazit des Wirtschaftsmagazins:
„Was wie politische Stabilität während eines ‚bull market’ aussah, entpuppt sich zusehends als gefährliche Rigidität in härter werdenden Zeiten.“
Was die Kritik an der Amtsführung Suhartos im Besonderen schürte, war dessen Budgetrede am 6. Januar 1998. Darin hatte der Diktator eine wesentliche Erhöhung von Subventionen für Petroleumprodukte, Reis und Düngemittel sowie eine über 30-prozentige Erhöhung der Regierungsausgaben angekündigt, ohne durchblicken zu lassen, wann solche Subventionen gestoppt würden und mit der Entflechtung von (Staats-)Monopolen begonnen werden sollte. Die Landeswährung Rupiah geriet daraufhin in einen Sinkflug und überschritt erstmalig die in Parität zum US-Dollar als kritisch angesehene 10.000:1-Marke. Danach drehte sich das politische und ökonomische Krisenkarussell unaufhörlich. Plünderungen, Straßenschlachten und Hamsterkäufe prägten in zahlreichen Städten des Landes das Alltagsbild. Der IWF entsandte erneut seine Topleute nach Jakarta, um Suharto einerseits demonstrativ die Stange zu halten, ihn andererseits aber zur Einlösung seiner Versprechen zu drängen. Gleichzeitig häuften sich die Interventionen ausländischer Staatsoberhäupter, die Suharto zum Einlenken drängten – neben US-Präsident Clinton taten dies Japans Premierminister Hashimoto, Australiens Premier John Howard und Bundeskanzler Helmut Kohl. Clinton schickte sogar seinen Verteidigungsminister William Cohen und mit Lawrence Summers seinen stellvertretenden Finanzminister nach Jakarta, um dort, wie es diplomatisch verklausuliert hieß, Präsident Suharto „Botschaften zu übermitteln“.
Aufgrund dieses massiven Drucks kam dann schließlich am 15. Januar 1998 mit dem IWF ein neues Abkommen zustande, dessen Schlussakkord ein ungewöhnliches Gruppenfoto bildete. Es zeigte den IWF-Managing Director Michel Camdessus in imperialer Pose mit verschränkten Armen hinter einem sitzenden Suharto stehen, mit Argusaugen darauf achtend, dass dieser botmäßig seine Unterschrift unter das vor ihm ausgebreitete Dokument setzte. Wer geglaubt hatte, dies hätte endlich eine beruhigende Wirkung auf die Märkte, sah sich ebenso rasch wie bitter enttäuscht. Die Aktienkurse sackten nochmalig um knapp fünf Prozent ein und die Rupiah glich Monopoly-Geld. Ihr Kurs erreichte am 22. Januar 1998 mit 17.000 vis-à-vis dem US-Dollar ein Rekordtief (gegenüber 2.400 im Juli 1997!).
Dieses zweite Abkommen mit dem IWF erneuerte im Kern die Eckpunkte der ersten Vereinbarung [1], beinhaltete aber erweiterte Machtprärogative für ausländisches Kapital. Es sah u.a. vor:
- die Inflationsrate nicht über 20 Prozent anwachsen zu lassen;
- ab dem 1. April 1998 Subventionen bei Elektrizität und Brennstoff (mit Ausnahme von Kerosin und Diesel) und Mehrwertsteuerbefreiungen gänzlich abzuschaffen;
- Zollsenkungen auf sämtliche importierte Nahrungsmittel um fünf und auf nichtagrarische Erzeugnisse um zehn Prozent bis zum Jahr 2003;
- die grundlegende Umgestaltung des Bankensektors einschließlich der Möglichkeit ausländischer Übernahmen und Besitzrechte in diesem Bereich ab Juni 1998;
- Einstellung von zwölf Megaprojekten, in die auch die Kinder von Suharto involviert waren;
- Liberalisierung des Handels mit Agrarprodukten;
- Beschränkungen der staatlichen Logistikbehörde Bulog. (Im ersten Abkommen war darunter auch der vom engen Suharto-Vertrauten und weltweit größten Instantnudel-Produzenten Liem Sioe Liong kontrollierte Mehlhandel gefallen, im zweiten Abkommen hingegen nicht mehr.)
Um die immense Auslandsverschuldung von 140 Mrd. US-Dollar (darunter 20 Mrd. an kurzfristigen Fälligkeiten und 65 Mrd. seitens privater indonesischer Nicht-Finanzinstitutionen) halbwegs in den Griff zu bekommen, verkündete Jakarta Ende Januar einen zeitweiligen Rückzahlungsstop öffentlicher Schulden in Verbindung mit geplanten Bankreformen. Im verzweifelten Bemühen, wenigstens Devisen im Lande zu behalten, dachte Suharto seit Mitte Februar 1998 laut über die Schaffung einer Währungsbehörde nach, welche die Einbindung der Rupiah in ein festes Wechselkursverhältnis gegenüber dem US-Dollar in Höhe von 5.500 garantieren sollte. Das hätte seitens des IWF das Fass fast zum Überlaufen gebracht; immerhin drohte er Suharto in einem solchen Falle brüsk mit der Aussetzung des gesamten, 43 Mrd. umfassenden US-Dollar-Kreditpakets.
Rasante Verarmung – vielfältige Konfliktpotenziale
Langjährig international geschätzt war das Regime auch wegen seiner makroökonomischen Erfolge. Suharto holte vorwiegend in den USA und der Bundesrepublik geschulte Ökonomen in sein Kabinett, um gegenüber westlichen Kapitalgebern Solidität zu signalisieren. Die bei seiner Machtübernahme tausendprozentige Inflationsrate konnte auf ein zweistelliges Niveau gedrückt werden, Investitionen wurden verstärkt angelockt, die Infrastruktur wurde ausgebaut, das Gesundheits- und Schulwesen reformiert und die hohe Geburtenrate drastisch gesenkt. Als Öllieferant und mächtiges OPEC-Mitglied profitierte das Inselreich lange vom Ölboom. Die Weltbank spendete Lob dafür, dass sich die Lebenserwartung innerhalb dreier Jahrzehnte von 41 auf 63 Jahre erhöht habe und gleichzeitig der Anteil der unterhalb der Armutsgrenze lebenden Indonesier (offiziell) von über 40 auf knapp 12 Prozent gesenkt worden sei.
Jakartas glitzernde Skyline konnte allerdings nie den Blick auf die enorme Kluft zwischen Arm und Reich verstellen. Selbst innerhalb von Betrieben war ein Verhältnis von 1:100 oder mehr zwischen den niedrigsten und höchsten Lohngruppen keine Seltenheit. Ein Problem stellte selbst vor Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzkrise die Arbeitslosigkeit beziehungsweise Unterbeschäftigung dar. Bereits im Sommer 1997 wiesen offizielle Statistiken Erstere mit 7,5 und Letztere mit zirka 40 Prozent aus. Allein in Jakarta wurden im Frühjahr 1998 über vier Millionen Menschen arbeitslos – eine Hiobsbotschaft vor allem für Hochschulabsolventen.
„Zahlreiche Firmen, die sich überwiegend durch ausländische Kredite finanzierten (in Indonesien ca. 80 Prozent der Großunternehmen), gerieten durch den Verfall der Wechselkurse in unlösbare strukturelle Probleme. Es ist völlig ausgeschlossen, daß sie ihre Schulden bei den derzeitigen Wechselkursen tilgen können; d.h. sie sind bankrott und müssen schließen oder fusionieren. (…) Die ohnehin schwierige Wirtschaftssituation wird sich Anfang Februar noch weiter zuspitzen: Viele werden ihr – zum Ramadan-Fest übliches – 13. Monatsgehalt nicht erhalten und sparen müssen. (…) Aufgrund der schlechten Wirtschaftssituation müssen bereits heute von der Arbeit eines einzigen durchschnittlich mehr als fünf Menschen leben. Die Belastung ist gerade für die ohnehin armen Dörfer sehr hoch: Seit Anfang Januar sind etwa eine Million der neuen Arbeitslosen in ihre Dörfer nach Zentraljava heimgekehrt.” [2]
Im Frühjahr 1998 bezifferte die einflussreiche Indonesian Association of Muslim Intellectuals (ICMI) die Gesamtzahl der Arbeitslosen mit zwölf Millionen. Jene, die noch Beschäftigung hatten, wurden mit erzwungenen Überstunden und abgesenkten Löhnen in die Zange genommen, wobei selbst das gesetzlich fixierte Lohnminimum seit Frühjahr 1997 nicht angehoben wurde und mit umgerechnet etwa 65 US-Cents pro Tag möglicherweise das weltweit niedrigste war. Gleichzeitig stiegen die Preise aller notwendigen Bedarfsgüter – wie Reis, Öl und Zucker – mitunter bis zu 200 und mehr Prozent. Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen sackte binnen weniger Monate von umgerechnet etwa 1.000 auf 230 US-Dollar ab. Allein in einem Stadtteil im Großraum Jakarta mußte die Hälfte der dortigen gut 120 Gesundheitseinrichtungen geschlossen werden; es fehlte schlichtweg an Medikamenten, die zu 70 Prozent importiert wurden.
In einem Beitrag in der Washington Post [3] forderte der frühere US-Außenminister Henry Kissinger seitens des IWF und der WB einen Krisenmechanismus, der künftig verhindern sollte, dass eine ökonomische Krise eine politische heraufbeschwört, die dann ihrerseits eine wirtschaftliche Gesundung in dem entsprechenden Land erschwert, wenn nicht gar unmöglich macht. In diesem Zusammenhang zitierte Kissinger den Chefökonomen der Deutschen Bank in Tokio, der dem IWF vorgeworfen hatte, sich wie ein auf die Behandlung von Masern spezialisierter Arzt verhalten zu haben, der meinte, mit seinen Kenntnissen und Rezepten gleich sämtliche Krankheiten angemessen diagnostizieren und heilen zu können. In einigen Ländern Südostasiens, darunter Indonesien, so Kissinger weiter, habe das IWF-Austeritätsprogramm zeitweilig jedweden Handel verunmöglicht und selbst prinzipiell gesunde Firmen in überlebensfähigen Bereichen in den Bankrott getrieben, was angesichts des Fehlens eines Sozialsystems zur massenhaften Verarmung beigetragen habe.
Die angespannte soziale und wirtschaftliche Lage schürte eine Pogromstimmung gegen die chinesische Minderheit [4] sowie interethnische und -religiöse Konflikte, die ihrerseits von den Herrschenden instrumentalisiert wurden. Teilweise handelte es sich hier um die Konsequenzen des unter Suharto ambitioniert verfolgten Transmigrationsprogramms, das die Übervölkerung Javas stoppen sollte und in zahlreichen Regionen des Archipels weitreichende demographische Veränderungen bewirkte.
Zentrifugale Tendenzen im Schatten von „Reformasi“
Seit Mitte der 1960er-Jahre schuf das Militär die sogenannte „Neue Ordnung”, wobei es sich selbst die Doppelfunktion (dwi fungsi) der äußeren Verteidigung und sozialpolitischen Befriedung im Innern zuwies. Aufstände in den Molukken (Maluku) und in Aceh (Nordsumatra) wurden niedergeschlagen, Staatsfeinde in Lager gesperrt, Intellektuelle – darunter renommierte Schriftsteller wie Pramoedya Ananta Toer und Rendra – mit Schreib-, Veröffentlichungs- und Redeverbot belegt. Nichtregierungsorganisationen (NRO) und erst recht unabhängige Gewerkschaften, die sich für die Einführung eines landesweit geltenden Mindestlohns von umgerechnet gerade mal vier Mark pro Tag einsetzten, ein Ende militärischer Einmischung in Arbeitskonflikte sowie das Recht auf Bildung freier Gewerkschaften forderten, blieben den Machthabern ein Dorn im Auge. Solche Forderungen lagen ihrer Meinung nach mit der ideologisch verbrämten Herrschaftsphilosophie über Kreuz: der Pancasila, den „Fünf Säulen” des Staates (Glaube an Gott, Menschlichkeit, Nationalismus, vom Konsensprinzip geleitete Demokratie, soziale Gerechtigkeit).
Mit dem Ende der Ära Suharto im Mai 1998 endete keineswegs der während seiner Regentschaft konsolidierte und sämtliche Poren des öffentlichen Lebens durchdringende Machteinfluss des Militärs. Die mit großen gesellschaftlichen Reform-Erwartungen (reformasi) verknüpfte Post-Suharto-Ära blieb überschattet von sozialpolitischen Unruhen in zahlreichen Provinzen des Archipels und zentrifugalen Kräften in Aceh, Maluku sowie in Irian Jaya (Westpapua). Dort praktizierte das Militär mit dem Argument, unbedingt die Einheit des Landes und nationale Integrität wahren zu müssen, unterschiedliche Strategien der Counterinsurgency (Aufstands- oder Aufruhrbekämpfung) – mit fatalen Folgen für die Zivilbevölkerung. [5] Ganz zu schweigen von der ehemaligen portugiesischen Kolonie Osttimor, wo der Suharto-Nachfolger Bacharuddin Jusuf Habibie ein Plebiszit über weitgehende Autonomie oder Unabhängigkeit zuließ, bei dem am 8. August 1999 der Löwenanteil der osttimoresischen Bevölkerung für die Unabhängigkeit votierte. Doch Osttimors Weg in die Unabhängigkeit (20. Mai 2002) war von Gewalt und Brutalität gesäumt, als vom indonesischen Militär gebildete und/oder geduldete paramilitärische Verbände in Kooperation mit pro-indonesischen Milizen ein systematisches Kesseltreiben gegen Befürworter/innen der Unabhängigkeit entfachten, dem sehr spät nach Osttimor entsandte UN-Truppen tatenlos zusahen. [6]
Nach Habibie bekleideten mit Abdurrahman Wahid und Megawati Sukarnoputri (Tochter des Staatsgründers und ersten Präsidenten Ahmed Sukarno) zwei weitere Zivilisten das höchste Staatsamt, bis am 20. Oktober 2004 mit Susilo Bambang Yudhoyono erneut ein Ex-General die Präsidentschaft übernahm. Unter seiner Ägide gedieh eine Kultur der Straffreiheit, und selbst zaghafte Ansätze, die Ära Suharto jenseits staatlich verordneter Verklärung kritisch aufzuarbeiten, verebbten rasch. Bereits Ende September 2000 war Suharto ärztlich attestiert worden, nicht vernehmungs- und haftfähig zu sein. Gegen ihn angestrengte Verfahren wegen Korruption und Amtsmissbrauch verliefen allesamt im Sand. [7] Eine Anklage wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurde nie gegen ihn erhoben. Fortan genoss er Immunität und verbrachte – unbehelligt von nationalen und internationalen Strafverfolgern – seinen Lebensabend in Jakartas Nobelviertel Menteng. [8] Statt Aufarbeitung der Vergangenheit gilt ungebrochen Amnesie als Staatstugend. Vor allem die Verbrechen 1965 ff. bleiben bis dato tabuisiert. [9] Der 86-Jährige selbst schloss infolge mehrfachen Organversagens am 27. Januar 2008 für immer seine Augen.
Späte Einsichten?
Es war eine erstaunliche Geschichte, die die Washington Post in ihrer Ausgabe vom 11. Januar 2023 publizierte. Unter dem Titel „Indonesien räumt historische Rechtsverletzungen ein – drückt sich aber vor der Rechenschaftspflicht“ zitiert die Zeitung den indonesischen Präsidenten Joko Widodo, der anlässlich einer Pressekonferenz vor dem Präsidentenpalast in Jakarta sein Bedauern über die ungeheuerlichen Menschenrechtsverletzungen der letzten sechs Jahrzehnte in seinem Land zum Ausdruck brachte. Dazu gehörte auch eine von den USA unterstützte „antikommunistische Säuberungsaktion“, die auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges zu einem Massaker an mindestens 500.000 Indonesiern führte.
„Mit klarem Verstand und aufrichtigem Herzen gebe ich als indonesisches Staatsoberhaupt zu, dass es in vielen Fällen zu schweren Menschenrechtsverletzungen gekommen ist”, sagte Widodo. Und er fügte laut Washington Post hinzu: „Ich habe Mitgefühl und Empathie für die Opfer und ihre Familien.”
Er versprach, ähnliche Übergriffe zu verhindern, ohne jedoch die Rolle der Regierung bei den Gräueltaten ausdrücklich einzugestehen oder sich zu verpflichten, die Verantwortung dafür zu übernehmen.
Widodo erwähnte in seiner Rede insgesamt zwölf Ereignisse in der Geschichte seines Landes, die „bedauerlich“ seien, darunter außergerichtliche Hinrichtungen unter dem damaligen Präsidenten Suharto in den 1980er-Jahren und die Entführung von pro-demokratischen Aktivisten in den 1990er-Jahren. Widodo, der sich dem Ende seiner zweiten und letzten Amtszeit nähert, ist nach Abdurrahman „Gus Dur“ der zweite indonesische Präsident, der sich öffentlich zu den Ungerechtigkeiten der vom Militär geführten „antikommunistischen Säuberung“ von 1965/66 bekannte.
Bis heute indes behaupten die Sicherheitskräfte des südostasiatischen Inselstaates – allen voran das Militär –, dass die seinerzeit weltweit drittgrößte kommunistische Partei, die Kommunistische Partei Indonesiens (PKI), im Zuge eines von ihr angeblich angezettelten Putschversuchs für die Ermordung sechs hochrangiger Generäle verantwortlich gewesen sei. Ein hartes Vorgehen gegen die PKI, so die Lesart des Militärs, sei schon allein aus Gründen der Wahrung nationaler Sicherheit und Ordnung notwendig gewesen. Überdies hätte der damalige Präsident und Staatsgründer Sukarno sozialistische Sympathien gehegt und engere politisch-diplomatische Beziehungen zur Volksrepublik China angestrebt.
Widodos Äußerungen sind zwar das bis dato deutlichste Eingeständnis der prekären Menschenrechtslage in Indonesien, doch nationale wie internationale Menschenrechtsaktivisten zeigen sich enttäuscht. Die Washington Post zitiert in ihrem Bericht u.a. Andreas Harsono von Human Rights Watch, der verbittert konstatierte:
„Die Behörden sagen, sie wollen Versöhnung. Aber auf welcher Grundlage? Basierend auf welcher Wahrheit?“
Aktivisten wie Harsono fordern stattdessen endlich die Einrichtung eines Menschenrechtstribunals nach dem Vorbild der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission. Bevor sich allerdings eine solche konstituiert, so steht zu befürchten, könnte ausgerechnet ein Restposten des Ancien Régime, der Ex-General, Ex-Schwiegersohn Suhartos und seit 2019 amtierende Verteidigungsminister Prabowo Subianto [10], nach zweimalig erfolglosem Anlauf aus der im kommenden Jahr anstehenden Präsidentenwahl als strahlender Sieger hervorgehen – für die zahlreichen Opfer und Hinterbliebenen des staatsterroristischen Antikommunismus ein bleiernes Erbe!
Titelbild: Syarif Abdurrahman/shutterstock.com
Anmerkungen & weiterführende Literatur
[«1] Im Mittelpunkt der Verhandlungen mit dem Gouverneur der Bank Indonesia, J. Sudradjad Djiwandono, und Vertretern der Ressorts Wirtschaft, Handel und Finanzen stand die Umsetzung folgender IWF-„Empfehlungen”: Die Höchstgrenze einer 49-prozentigen ausländischen Kapitalbeteiligung an indonesischen Unternehmen aufzuheben; Handelsmonopole für Weizen, Mehl und Sojabohnen (nicht aber für Reis und Mais) sowie die staatliche Logistikbehörde Bulog sukzessiv zu entflechten; die Zölle auf über 150 Einfuhrerzeugnisse zwischen fünf und 15 Prozent und gleichzeitig die Importzölle auf breiter Front – beispielsweise bei chemischen Produkten um bis zu 40 Prozent – zu senken; den Großhandel bis 2003 für Ausländer zu öffnen; Mehrwertsteuerbefreiungen bei Exporten von zehn auf 18 strategische Produktgruppen zu erweitern, nämlich um Eisen und Stahl, Automobilteile, Maschinen und Maschinenkomponenten, Schmuck, Chemikalien, Kautschuk, mineralische sowie Plastikerzeugnisse; zweijährige zollfreie Einfuhr von Maschinen und Ausrüstungsgütern; Restrukturierung des gesamten Bankenwesens sowie die Einstellung von 81 Großprojekten in Höhe von umgerechnet über drei Mrd. US-Dollar. Darunter fiel das ambitionierte Nationalwagen-Projekt PT Timor Putra Nasional von Suhartos jüngstem Sohn, Hutomo „Tommy” Mandala Putra, an dem sich japanische und südkoreanische Firmen (KIA) interessiert gezeigt hatten. Überdies geriet die nationale Luftfahrt- und Rüstungsindustrie, das Steckenpferd B. J. Habibies, ins Visier der Kritik. – Näheres u.a. in: Weatherbee, Donald E. (1986): Indonesia: Its Defense Industrial Complex, in: Katz, James E. (Ed.): The Implication of Third World Military Industrialisation, Lexington.
[«2] Zit. nach: „Intensivstation Asien”, ein Situationsbericht von IMBAS (Initiative für die Menschenrechte der Bürger/innen in den ASEAN-Staaten), 27. Januar 1998, S. 1, Ffm.
[«3] Kissinger, Henry (1998): The Asian Collapse: One Fix Does Not Fit All Economies, in: The Washington Post, 9. Februar, Washington, D.C.
[«4] Margot Cohen beschrieb in ihrem in der Hongkonger Far Eastern Economic Review (13. März 1997, S. 42ff.) mit „Under The Volcano” betitelten Feature anschaulich die angespannte soziale und wirtschaftliche Lage im Lande und schilderte, wie sich – wie bereits bei früheren politischen Unruhen geschehen – latenter Hass gegen die gut sechs Millionen zählenden Chinesen (etwa drei Prozent der Bevölkerung) entlud, denen unterstellt wurde, Hauptnutznießer während der Ära Suharto gewesen zu sein.
[«5] Siehe: acehkita (2004): In the Name of Territorial Integrity (Inside: Exlusive Evidence of Civilian Victims), August, Jakarta und Tiwon, Sylvia (2000): From East Timor to Aceh: The Disintegration of Indonesia? in: Bulletin of Concerned Asian Scholars (BCAS, Vol. 32, Nos. 1 & 2), Boulder, CO, S. 97-104.
[«6] Siehe dazu: Catry, Jean-Pierre (1999): Indonesiens Doppelspiel in Ost-Timor: Die UNO garantiert keine Sicherheit, in: Le Monde Diplomatique (deutschsprachige Ausgabe), S. 18, Juni, Berlin/Zürich; Chomsky, Noam (1999): Von guten Freunden viel gelernt – Indonesiens Armee kopiert die Operation Phönix, in: Die Wochenzeitung (WOZ), 16. September, S. 13, Zürich; Durand, Frederic (2001): Das Erbe des General Suharto: Kalimantan – Ethnische Säuberung und wirtschaftliche Rivalität, in: Le Monde Diplomatique, S. 11, April, Berlin/Zürich; Bertrand, Romain (1999): Indonesiens Armee, eine Söldnerfirma: Machtkalkül und Widerstand im Konflikt um Osttimor, in: Le Monde Diplomatique, S. 9, Oktober, Berlin/Zürich; Evers, Georg (2001): Osttimor – der schwierige Weg zur Staatswerdung, hg. vom Internationalen Katholischen Missionswerk missio, Aachen sowie Schlicher, Monika (2005): Osttimor stellt sich seiner Vergangenheit: Die Arbeit der Empfangs-, Wahrheits- und Versöhnungskommission, hg. vom Internationalen Katholischen Missionswerk missio, Aachen.
[«7] Werning, Rainer (2003): Des Westens General – Aufstieg und Abgang des indonesischen Ex-Präsidenten Suharto, Sendemanuskript eines SWR2-Radio-Features, ausgestrahlt am 5. Dezember 2003, Stuttgart/Baden-Baden. – Siehe ferner: Kleine-Brockhoff, Moritz (2006): Über Suhartos Verbrechen muss die Geschichte richten, in: Frankfurter Rundschau, 17. Mai, Ffm.
[«8] Marks, Kathy (2008): Suharto, tyrant of Indonesia, dies without facing justice, in: The Independent, 28. Januar, London; Anderson, Benedict (2008): Exit Suharto – Obituary for a Mediocre Tyrant, in: New Left Review 50, March-April. London * https://newleftreview.org/issues/ii50/articles/benedict-anderson-exit-suharto – Siehe ferner: Indonesisches Gericht: Suharto war nicht korrupt, in: Der Tagesspiegel, 28. März 2008, Berlin.
[«9] Siehe u.a.: Keller, Anett (Hg.) für die Südostasien-Informationsstelle (2015): Indonesien 1965ff. – Die Gegenwart eines Massenmordes. Ein politisches Lesebuch. Berlin: regiospectra Verlag; Bevins, Vincent (2023): Die Jakarta-Methode: Wie ein mörderisches Programm Washingtons unsere Welt bis heute prägt. Köln: PapyRossa Verlag sowie eine Rezension des Buches von Werning, Rainer (2023): Kartografie des Grauens – südostasien 1-2023 / Stiftung Asienhaus – Köln * https://suedostasien.net/kartografie-des-grauens/.