Lidl lohnt sich – vor allem für Firmengründer Dieter Schwarz. Den Grundstein seines Handelsimperiums legte er vor 50 Jahren, heute ist er Deutschlands schwerster Milliardär. Die Medien bedenken den Jubilar für sein Schaffen mit Bewunderung und Ehrfurcht. Und verlieren kein Wort dazu, dass er seinen Reichtum der Armut von Millionen verdankt und dem, was etwa Gerhard Schröder mit seiner „Agenda 2010“ dazu beigetragen hat. Telegener ist da doch das Bild des selbstlosen Philanthropen, der die Kamera scheut. Das hat der Mann nicht verdient, findet Ralf Wurzbacher.
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Lidl ist 50 Jahre alt geworden. Am 16. Mai 1973 eröffnete die Discounterkette ihre erste Filiale in Ludwigshafen-Mundenheim. Das muss gebührend gefeiert werden, meint man in der Führungsetage. Geschlagene „20 Wochen“ soll die Party gehen, mit „zahlreichen attraktiven Geburtstagsangeboten, Rabatten, Gewinnspielen, Events und Retro-Kollektionen“. Dazu mit „starken Persönlichkeiten“, der Entertainerin Barbara Schöneberger und Comedystar Max Giermann, vorneweg mit Deutschlands Schlagerqueen Helene Fischer. Sie wird als das strahlendste Gesicht einer gewaltigen und gewiss nicht billigen Werbekampagne zum Dauergast in unserem heimischen Wohnzimmer werden. Oh weia!
Aber haben wir das nicht verdient? Schließlich wäre Lidl ohne uns, die Kunden, nicht das, was Lidl beziehungsweise die dahinter stehende Schwarz-Gruppe heute ist: ein Handelsimperium, das viertgrößte weltweit, mit 13.300 Zweigstellen (inklusive Kaufland), 550.000 Beschäftigten und einem Jahresumsatz von über 133 Milliarden Euro. Ein Megakonzern, der sich neuerdings sogar zum „Innovationsmotor“ aufschwingt, um die lahmende Digitalisierung im Land zu pushen und in puncto Künstliche Intelligenz (KI) die Techgiganten aus den USA und China herauszufordern.
Spaghetti Milionario
Wir alle haben das mitermöglicht, indem wir, vielleicht schon vor einem halben Jahrhundert, für eine Packung Nudeln nur noch die Hälfte dessen hinlegen wollten, was Tante Emma um die Ecke verlangte. Und die wir uns heute darüber freuen sollen, nicht mehr 99 Cent für eine Packung Spaghetti der Lidl-Eigenmarke zu zahlen, sondern 79 Cent. Dank sei einer „Rabattschlacht“ in der Branche, die über ein Jahr lang mit ihrer nicht nur inflationsverschuldeten Mondpreispolitik bei den Verbrauchern abkassiert hat. Zur Erinnerung: Vor dem Ukraine-Krieg gingen Spaghetti bei Lidl, Aldi und Co. noch für 49 Cent über den Scanner.
Vor allem haben wir Lidl-Gründer und Firmenpatriarch Dieter Schwarz zum reichsten Deutschen gemacht, mit einem geschätzten Vermögen von zuletzt 43 Milliarden Euro. Um die Dimensionen seines Reibachs zu beziffern: Vor neun Jahren nannte der damals 75-Jährige „nur“ 15 Milliarden Euro sein Eigen. Heute, mit 83 Lenzen, bleibt dem Mann nicht mehr allzu viel Zeit, das ganze Geld zu verjubeln, könnte man meinen. Aber gewiss werden seine beiden Töchter dereinst Verwendung dafür finden.
Es gibt Menschen, die so viel Reichtum unanständig finden, obszön und asozial, und die sagen, derlei müsse sich eigentlich verbieten, das heißt politisch verboten werden, nicht nur, weil einer zahlenmäßig winzigen Geldkaste ein globales Milliardenheer an Armen und Ausgebeuteten gegenübersteht. Auch verbinde sich mit zu viel Geld ein Zuviel an Macht und Einfluss, die in aller Regel in einer Weise wirken, die die Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten weiter zuspitzt, wodurch Armut und Leid auf dem Globus noch zunehmen. Und dann gibt es aufmerksame Zeitgenossen, die Schwarz, den Aldi-Brüdern und Penny-Chefs ihre vermeintliche Billigstrategie nicht abnehmen, weil die Preise der Discounter sich immer mehr denen der hochpreisigen Konkurrenz annähern, und dies nicht erst seit Beginn der großen Krisen unserer Zeit. Zumal: Wäre Schwarz tatsächlich der freundliche Billig-Onkel von nebenan, wie hätte er dann so riesige Besitztümer auftürmen können.
Der Aldi-Entzauberer
In den Würdigungen der Leitmedien zum 50. Firmenjubiläum klingen solche Einwände und Einsprüche nicht an. Hier dominiert der Ton der Bewunderung, des Respekts vor einem ausgefuchsten Geschäftsmann, der mit Geschick, Fleiß und Beharrlichkeit Lidl zu einer Weltmarke aufgebaut hat. Vor allem wird Schwarz größte Anerkennung dafür zuteil, wie er es fertig brachte, den anfangs übermächtigen Aldi-Platzhirschen zu überflügeln und hierzulande zur Nummer 2 im sogenannten Niedrigpreissegment zu degradieren und im Ranking der global umsatzstärksten Einzelhändler vier Plätze hinter sich zu lassen.
„Wie Dieter Schwarz Aldi das Fürchten lehrte“, titelte zum Beispiel das Handelsblatt (hinter Bezahlschranke) und lüftete die „sieben Erfolgsgeheimnisse des Ausnahmeunternehmers“. Lediglich „sechs Erfolgsgeheimnisse“ gab die WirtschaftsWoche über den „Discounter-König“ preis, wobei eines lautet: „Schütze die Privatsphäre!“ Gemünzt ist das auf dessen Scheu vor Scheinwerferlicht, seine strikte Zurückgezogenheit, die es ihm erlaube, als der „reichste Deutsche ohne Sorge durch seine Heimatstadt Heilbronn flanieren“ zu können, unbehelligt von „lästigen Geschäftsangeboten, unseriösen Spendenanfragen oder sonstigen Zudringlichkeiten“.
Das wohl wichtigste „Erfolgsgeheimnis“ des Lidl-Anti-Zampanos haben die Hofberichterstatter indes für sich behalten. Die Deutschen mögen traditionsgemäß preisbewusster beim Lebensmittelkauf agieren als beispielsweise unsere französischen Nachbarn, denen ihre Bereitschaft, mehr Geld fürs Essen zu zahlen, folgerichtig mit besserer Auswahl und Qualität vergolten wird. Die verschärfte und sprichwörtliche Geiz-ist-geil-Mentalität ist uns aber nicht per Genpool mitgegeben. Vielmehr hat sie ihre Ursprünge in einer Politik, die breite Schichten der Gesellschaft systematisch vom Wohlstand ausgeschlossen und sie zur Sparsamkeit bis hin zum Hungern genötigt hat. Insbesondere ist das ein Erbe der rot-grünen Ära unter Gerhard Schröder (SPD) und seiner „Agenda 2010“. Mit ihr wurden eine ganze Reihe neuer Methoden der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft durchgesetzt und millionenfach prekäre Arbeitsverhältnisse etabliert und kultiviert.
„Übermäßige Gewinnmitnahmen“
Es war dieses Verarmungsprogramm im Zeichen der Hartz-Arbeitsmarktreformen, gepaart mit einer beispiellosen Umverteilung von unten nach oben (Stichworte: Unternehmenssteuerreform, Deregulierung, Privatisierung), die erst den Boden für die „Erfolgsgeschichte“ eines Dieter Schwarz bereitet haben. Günstig einzukaufen war bis dahin schon irgendwie in Mode, und Aldi und Lidl waren dafür die Wegbereiter. Ab Anfang der 2000er-Jahre wurde der Billigeinkauf allerdings für viele und immer mehr zur Pflicht, zu einer Frage der Existenz. Die Riege der Discounter hat davon prächtig profitiert und tut dies bis heute, weil neben der klassischen Klientel die inzwischen von Deklassierung bedrohten Mittelschichten ebenso in ihre Läden strömen.
Dass Schwarz den Wandel schneller erfasst hat als seine Wettbewerber, indem er beispielsweise früher auf ein um Markenartikel ergänztes Sortiment oder das Onlinegeschäft gesetzt hat, darf man gerne seinem kaufmännischen Instinkt zuschreiben. Ihn deshalb zum Supermann hochzuschreiben, übersieht jedoch die polit-ökonomischen Umstände und die Zuarbeiten seiner politischen „Förderer“. Vor allem blendet die Sicht die vielen Opfer aus, auf denen sein Triumphzug gründet. Da ist nicht nur die Schar an Kunden, die als Verarmte ohne Billig nicht leben können und die trotzdem seit Monaten von ihrem Lieblingsdiscounter mit lieblosen Preisen belegt werden, die laut Branchenkennern auf „übermäßige Gewinnmitnahmen“ schließen lassen.
Dazu kommen andere gravierende Folgen, die Mensch und Natur insgesamt betreffen und die auch und gerade auf das Konto der Discounter gehen: der exzessive Konsum von Billigfleisch und -gemüse, die Massentierhaltung à la Tönnies samt Legebatterien und Kükenschreddern, die Turbolandwirtschaft, die Verpackungsmüllberge sowie die mit all dem verbundenen Schäden für Gesundheit, Umwelt und Klima. Nicht zu vergessen die Verdrängung traditioneller Berufe, also von Bäckern, Fleischern und Floristen zugunsten einer immer höheren Marktkonzentration mit tendenziell steigenden Preisen bei sinkender Qualität. Verheerender wird das Ganze noch dadurch, dass das deutsche Discountermodell mit all seinen Schattenseiten längst die inner- und außereuropäischen Grenzen überwunden hat, wobei im Speziellen Lidl mit einer aggressiven Auslandsexpansion auffällt.
Bildungscampus vor der Haustür
Das alles gehört zur Gesamtbilanz von Dieter Schwarz. Genauso wie die 2004 im „Schwarzbuch-Lidl“ durch die Gewerkschaft ver.di dokumentierten Angriffe auf die innerbetriebliche Mitbestimmung und Fälle von Bespitzelung, Arbeitshetze, unbezahlter Mehrarbeit und Mängeln beim Gesundheitsschutz. Oder der 2008 aufgeflogene Skandal um die systematische Mitarbeiterüberwachung mittels Kameras und Detektiven, die sogar Liebschaften innerhalb der Belegschaft auskundschafteten.
Aber Schwarz bleibt von solcher Kritik nicht nur weitgehend verschont. Die „Qualitätsmedien“ huldigen ihm stattdessen als generösem Mäzen und Philanthropen – zum Beispiel dafür, dass die nach ihm benannte Stiftung in Kooperation mit der Technischen Universität vor seiner Haustür in Heilbronn einen IT-Bildungscampus hochziehen ließ und der TU in diesem Rahmen mal eben 20 Lehrstühle „schenkte“. Ein besonderer Fokus werde dabei auf „mittelständische Unternehmen“ und „familiengeführte Hightech-Firmen“ gelegt, heißt es, während Kritiker argwöhnen, Schwarz betreibe hier seine eigene Lidl-Berufsschule. Außerdem zieht dieser mit Unterstützung des Landes Baden-Württemberg einen Innovationspark Künstliche Intelligenz hoch, wo künftig 5.000 Menschen arbeiten sollen, um Google, Windows und Amazon demnächst Paroli zu bieten. „Ein KI-Ufo für Heilbronn“, befand dazu jüngst die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ).
Alles nur der guten Sache wegen? Schwarz wird mit seiner „gemeinnützigen“ Stiftung laut Selbstdarstellung „dort tätig, wo Wirtschaft und Gesellschaft Anforderungen stellen, die staatliche Organe nicht oder nicht ausreichend erfüllen können“. Sein „Altruismus“ knüpft exakt da an, wo die seit Jahrzehnten praktizierte Entstaatlichung des Gemeinwesens schlimme Krater im gesellschaftlichen Gefüge hinterlassen hat, und macht genau diese Leerstellen – vor allem in Bildung und Wissenschaft – zu Goldgruben, aus denen die Schwarz-Gruppe in Zukunft Wert schöpfen wird.
Es sind fraglos selbstlosere Unternehmungen vorstellbar. Wie wäre es damit: Bei Lidl eine Woche lang für umsonst einkaufen. Ein Dieter Schwarz könnte das locker verkraften. Nur lohnen würde sich das nicht.
Titelbild: Birute Vijeikiene/shutterstock.com