Spätestens seit dem Ende der Sowjetunion hat in allen Nachfolgestaaten eine rege Neubewertung der über siebzigjährigen kommunistischen Herrschaft eingesetzt, die selten frei von nationalen Egoismen ist. Dabei gehen alle Seiten nicht gerade zimperlich mit der eigenen Verstrickung in die staatlichen Verbrechen der Sowjetepoche um: Sie wird in der Regel bagatellisiert oder schlicht geleugnet! Von Leo Ensel.
In Kiew und anderen ukrainischen Städten toben die Straßenkämpfe. Nein, diesmal sind nicht die Abwehr- oder Rückeroberungskämpfe gegen die russischen Invasoren gemeint. Es geht um die „Derussifizierung“, die „Dekommunisierung“, sprich: die „Dekolonialisierung“ der Ukraine. (Überflüssig zu betonen, dass diese Begriffe – zumindest aus ukrainischer Sicht – synonym sind!) Allein in Kiew sollen 296 Straßen umbenannt werden.
Die Lenin-Denkmäler sind längst gefallen, die Straßennamen siegreicher Generäle der Roten Armee wurden bereits vor Jahren zugunsten ukrainischer Nationalisten aus der Zwischenkriegszeit umbenannt – dass da öfters auch Nazikollaborateure und Judenkiller aus dem Bandera-Lager dabei waren: Schwamm drüber! –, und der Tag des Sieges über Hitler-Deutschland ist nun schon mal EU- und NATO-kompatibel vom 9. auf den 8. Mai vorverlegt. Dagegen steht vor dem Kiewer Michaeliskloster das Denkmal für die Opfer des „Holodomor“ (ist es ein Zufall, dass dieses Wort an ein anderes anklingt?), der Hungerkatastrophe von 1932/33, schon seit Anfang der Neunzigerjahre.
Ähnliches lässt sich in einem anderen postsowjetischen Land mit NATO-Ambitionen beobachten. Eine „Topographie des Terrors“ findet man nämlich seit einigen Jahren nicht nur rund um das ehemalige Reichssicherheitshauptamt in Berlin, sondern auch in der georgischen Hauptstadt Tbilissi – errichtet mit freundlicher Unterstützung der Heinrich-Böll-Stiftung. Gemeint ist hier der rote, insbesondere der stalinistische Terror. Anhand einer Reihe von Gebäuden und Plätzen wird hier akribisch demonstriert, wie die georgische Bevölkerung unter der kommunistischen Terrorherrschaft zu leiden hatte.
In den Nachfolgestaaten der UdSSR, die auf EU- und NATO-Mitgliedschaft spekulieren, ist die Dekommunisierung in vollem Gange. Parallel dazu werden neue nationale Geschichtsnarrative gebastelt, und die laufen in der Regel auf einen unausgesprochenen simplen Satz hinaus: Schuld am Kommunismus waren immer nur die Russen!
Nicht Vertreter einer bestimmten Ideologie waren also die Täter, sondern Vertreter einer bestimmten Nation. Dasselbe gilt für die Opfer: Opfer waren nicht Kulaken, Kleinbauern, Adlige, Priester, Dissidenten, unliebsame Wissenschaftler und Künstler, sondern schlicht alle Völker der ehemaligen Sowjetunion – außer den Russen! (Eine Perspektive, die im Westen gerne aufgegriffen wird.) Mit einem Wort: Wir sind gerade Zeugen eines bemerkenswerten geschichtsrevisionistischen Prozesses, den man etwas akademisch-sperrig als ‚posthume Renationalisierung der Sowjetgeschichte‘ bezeichnen könnte.
Nur die Russen?
Natürlich stimmen diese voluntaristisch konstruierten schrägen Narrative hinten und vorne nicht: Stalin und sein berüchtigter Geheimdienstchef Lawrentij Berija zum Beispiel waren Georgier. Auch Vertreter anderer Nationalitäten wie der Schlächter der Kronstädter Matrosen Leo Trotzki, der Gründer der berüchtigten Tscheka Felix Dserschinski, die Regisseure der stalinistischen Schauprozesse Wyschinski und Jagoda sowie der Killer von Katyn und Völkerverschieber Anastas Mikoyan waren Verbrecher des Sowjetregimes.
In der rund 60 Kilometer westlich von Tiflis gelegenen georgischen Geburtsstadt Stalins, Gori, befindet sich noch heute ein ‚dem großen Sohne Georgiens‘ exklusiv gewidmetes Stalin-Museum, dessen originärer Sowjetmief, inclusive ‚Stalin-Wein‘ als Merchandising-Produkt, vermutlich alles übertrifft, was an analogen Bauwerken und Gedenkstätten in Russland noch existiert – in der georgischen „Topographie des Terrors“ allerdings nirgends auftaucht! Und gehungert wurde zu Beginn der Dreißigerjahre auch außerhalb der Ukraine: Nicht zuletzt in den fruchtbaren Kuban- und Schwarzerdegebieten, im Nordkaukasus und in Kasachstan. Auch Russen sind dieser staatlich induzierten Hungerkatastrophe zu Hunderttausenden zum Opfer gefallen.
Aber die neuen Narrative dienen nicht nur der Reinwaschung der eigenen Geschichte. Sie lassen sich zugleich auch für die ideologische Auseinandersetzung im neuen West-Ost-Konflikt im Allgemeinen und besonders natürlich bezogen auf Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine trefflich instrumentalisieren. So hieß es in den Medien, als Anfang März letzten Jahres eine russische Granate den Kiewer Rundfunksender an der Melnikowa-Straße, einige Hundert Meter von Babij Jar entfernt, traf, wo Ende September 1941 Einsatztruppen der SS mit logistischer Unterstützung durch Wehrmacht und ukrainische Hilfspolizisten innerhalb von zwei Tagen 33.771 Juden erschossen hatten, die Russen hätten Babij Jar beschossen. Andriy Yermak vom ukrainischen Präsidialamt tönte vollmundig auf Twitter: „Diese Verbrecher töten zum zweiten Mal die Opfer des Holocaust.“ Später legte man noch einen drauf. Nun hieß es: „Die ganze Ukraine ist jetzt zu Babij Jar geworden!“ Die eigene Mittäterschaft an diesem Ort und die blutigen antijüdischen Pogrome durch die ukrainische Bevölkerung beim Einmarsch der Wehrmacht in Ostgalizien (der heutigen Westukraine), denen allein in Lemberg (Lviv) um die 4.000 Juden zum Opfer fielen, wurden wohlweislich verschwiegen.
Der fürsorglichen Bemutterung durch den Westen tat das keinen Abbruch. Bereits im Zuge der Krim-Krise und des kriegerischen Konfliktes in der Ostukraine im Frühjahr 2014 hatten die GRÜNEN – vergeblich – versucht, im Bundestag eine Resolution über die „Historische Verantwortung Deutschlands für die Ukraine“ durchzusetzen. (Heute wären sie da sicher erfolgreicher.) Demnach wurde am 22. Juni 1941 nicht die Sowjetunion, sondern die Ukraine von der Wehrmacht überfallen. Unwillkürlich fragte man sich damals: ‚Wo bleibt da Belarus, das im II. Weltkrieg bekanntlich ein Viertel seiner Bevölkerung verlor?‘ Aber zu diesem Zeitpunkt waren noch nicht genügend Weißrussen gegen Präsident Alexandr Lukaschenko auf die Straße gegangen, sodass Belarus noch bis zum Sommer 2020 warten musste, um gleichfalls in den Genuss grüner Sonderfürsorge zu kommen.
Die Wortwahl entscheidet
Wie die postsowjetischen Staaten die Epoche der Sowjetunion verarbeiten, ist deren Angelegenheit. Für die Auseinandersetzung in Deutschland schlage ich folgenden Sprachgebrauch vor: Nicht die Ukraine (wahlweise Belarus, Russland) wurde im II. Weltkrieg Opfer schwerster deutscher Verbrechen, sondern auf dem Gebiet der heutigen Ukraine (wahlweise Belarus, Russland) wurden im II. Weltkrieg schwerste Verbrechen von Deutschen begangen! Diese Wortwahl ist etwas umständlicher, dafür allerdings resistent gegen posthume nationalistische Vereinnahmungen.
Die Konstruktion differenzierter Geschichtserzählungen, die im Diskurs mit anderen betroffenen Nationen eindimensionale Täter-Opfer-Polarisierungen überwinden und die eigene Mittäterschaft Schritt für Schritt integrieren, ist ein äußerst mühsamer, schmerzhafter Prozess. Er wird vermutlich, wie nicht zuletzt das Ringen um die Vergangenheitsbewältigung in Deutschland gezeigt hat, Jahrzehnte dauern.
Einstweilen sollten alle Seiten – namentlich zu Kriegszeiten – zumindest auf allzu simple Schuldzuweisungen verzichten.
Titelbild: vaalaa/shutterstock.com