Ein Merkmal aller Kriege, an denen die USA und mit ihnen die Staaten der NATO derzeit beteiligt sind, ob in Afrika, im Mittleren Osten oder in Europa, ist ihre globale Bedeutung über den lokalen Kriegsschauplatz hinaus. In ihnen manifestiert sich der Anspruch, die Welt nach den eigenen Interessen zu ordnen, als „regelbasierte Ordnung“ diplomatisch im Umlauf. Diese Ordnung unterscheidet sich nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich von der Völkerrechtsordnung, die seit ihrer Gründung in der UNO-Charta 1945 die alleinige Matrix der internationalen Ordnung sein sollte – auch für die NATO. Von Norman Paech.
Der Widerstand gegen diese alte Ordnung der Dominanz des Westens und ihren ungebrochenen Herrschaftsanspruch hat offengelegt, dass das koloniale Zeitalter auch nach den erfolgreichen Befreiungskämpfen noch nicht Vergangenheit ist. Die koloniale Herrschaft hat sich in eine postkoloniale Unterwerfung und Abhängigkeit der kleineren und schwächeren Staaten verwandelt. Wer sich dagegen auflehnt, wird mit dem ganzen Arsenal imperialer Gewalt vom Boykott über Embargo und Erpressung bis zum Krieg unter die alte Ordnung gezwungen, so in Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen oder Syrien. Alle diese Kriege sind „Systemkriege“, um die „regelbasierte Ordnung“, sprich die Dominanz der alten Mächte, wiederherzustellen und durchzusetzen. Die Völkerrechtsordnung spielt dabei höchstens in den Pressekonferenzen eine Rolle. Der laute Ruf nach dem Völkerrecht und einem internationalen Tribunal, um Präsident Putin vor Gericht zu stellen, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich hier nur um eine weitere Sanktion gegen Russland und seinen Präsidenten handelt, nicht aber eine grundsätzliche Rückkehr zur Völkerrechtsordnung. Prozesse gegen die möglichen Kriegsverbrecher Kissinger (Vietnam), Busch, Rumsfeld, Cheney (Irak) etc. stehen immer noch aus und haben keine Aussicht, je nachgeholt zu werden.
In dem Doppelkrieg Russlands gegen die Ukraine und der NATO gegen Russland wird die Systemfrage sehr deutlich. Es geht nicht mehr um West gegen Ost in der ideologischen Auseinandersetzung zwischen Kapitalismus und Sozialismus, sondern um West gegen Ost und Süd im Kampf um die ökonomische, politische und militärische Vorherrschaft. Der Krieg der NATO gegen Russland greift weit über den Kriegsschauplatz Ukraine hinaus, indem er die VR China schon als nächsten Gegner ins Visier nimmt und die großen Staaten des Südens, Indien, Südafrika und Brasilien, in sein Sanktionsregime gegen Russland einzubeziehen versucht – vergeblich bisher. Die Weigerung dieser und weiterer Staaten, die Front der NATO gegen Russland zu verstärken, ist ein deutliches Zeichen ihrer Absicht, sich aus der nachkolonialen Abhängigkeit von ihren alten Kolonialregimen zu befreien. Dies scheint mir der tiefere Sinn des neuen Begriffs von der Zeitenwende zu sein.
Gegenstand der folgenden Untersuchung ist der Graubereich der Interventionen – noch nicht Krieg, aber doch folgenreiche Einmischung in die internen Angelegenheiten der Staaten –, mit denen vor allem die USA auf „friedlichem“ Wege (Regime Change) die Gefolgschaft der Staaten zu sichern versucht. Auch hier erweist sich, dass der juristische Rahmen, den sich die Staaten selbst gegeben haben, von den alten Mächten ohne Konsequenzen ignoriert werden kann. Selbst die internationalen Gerichtshöfe, die nicht ohne Grund ihren Sitz im Westen in den Niederlanden haben, sind gegenüber dem Einfluss der alten Mächte weitgehend machtlos.
Militärische Interventionen
Im Oktober 2022 veröffentlichte der „Congressional Research Service“ (CRS), der den deutschen „Wissenschaftlichen Diensten des Bundestages“ entspricht, eine Untersuchung mit dem Titel „Instances of Use of United States Armed Forces Abroad, 1789-2022“. Danach haben die Vereinigten Staaten in den Jahren zwischen dem Ende des Kalten Krieges 1991 und 2022 mindestens 251 militärische Interventionen in fast allen Staaten der Erde durchgeführt. Geht man auf das Jahr 1789 zurück, waren es nach den Erkenntnissen des Forschungsdienstes insgesamt 469. Bei allen diesen Interventionen haben die USA nur elfmal formell den Krieg erklärt. Zudem räumt der Dienst ein, dass er keine verdeckten militärischen Sondereinsätze oder CIA-Operationen berücksichtigt habe. In dem Bericht heißt es:
„Die Liste enthält weder verdeckte Aktionen noch die zahlreichen Fälle, in denen die US-Streitkräfte seit dem Zweiten Weltkrieg im Ausland als Besatzungstruppen oder zur Teilnahme an Organisationen für gegenseitige Sicherheit, an Basisabkommen oder an routinemäßigen militärischen Hilfs-oder Ausbildungsmaßnahmen stationiert waren.“
So findet z.B. die verdeckte CIA-Operation zur militärischen Unterstützung des Putsches von General Mohamed Suharto ab Oktober 1965 keine Erwähnung. Der Putsch führte zu der Ermordung von über 500.000 Kommunisten und Gewerkschaftern in Indonesien. Nicht erwähnt wird auch die massive militärische Intervention in Angola gegen die dort stationierten kubanischen Truppen. Auch wird der von den USA finanzierte und gesteuerte Contra-Krieg in Nicaragua von 1981 – 1990 nicht erwähnt, obwohl er über 60.000 Opfer kostete und die USA 1986 vom Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag wegen vielfältiger Verstöße gegen das Völkerrecht verurteilt wurden.
Das Military Intervention Project (MIP) des Center for Strategic Studies der Tufts University kommt auf noch höhere Werte. Dort heißt es:
„Die USA haben seit 1776 über 500 militärische Interventionen durchgeführt, davon fast 60 % zwischen 1950 und 2017. Mehr noch, mehr als ein Drittel dieser Einsätze fand nach 1999 statt… Mit dem Ende der Ära des Kalten Krieges würden wir erwarten, dass die USA ihre militärischen Interventionen im Ausland reduzieren, da sie von geringeren Bedrohungen und Interessen ausgehen. Diese Muster zeigen jedoch das Gegenteil – die USA haben ihre militärischen Einsätze im Ausland erhöht.“
Für alle diese völkerrechtswidrigen militärischen Interventionen sind die USA, bis auf die Beteiligung am Contra-Krieg in Nicaragua, gerichtlich nicht zur Verantwortung gezogen worden.
Beide Untersuchungen haben sich auf die Interventionen mit militärischen Mitteln konzentriert, die mindestens ebenso zahlreichen politischen, ökonomischen und finanziellen Interventionen haben sie außer Acht gelassen. Doch jeder Krieg hat seine Vorgeschichte, und jeder Krieg wird vorbereitet. Diese Vorbereitung beschränkt sich nicht nur auf die Organisation der eigenen militärischen Streitmacht, sondern hat sich vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg jeweils weit in den gegnerischen Staat vorverlagert, um evtl. das Kriegsziel – Regime Change – auch mit zivilen Mitteln der Intervention zu erreichen oder das Feld für einen militärischen Schlag zu bereiten.
Maidan – für Demokratie und Freiheit
Nehmen wir als jüngstes Beispiel den Putsch gegen den ukrainischen Präsidenten Janukowitsch, der nach dem Massaker auf dem Maidan in Kiew am 20. Februar nach Russland floh. Allen neueren Erkenntnissen zufolge war dies ein vom Westen gesponserter Putsch, wie der ehemalige CIA-Offizier Ray Mc Govern auf YouTube schon am 21. September 2014 erklärte. Victoria Nuland habe im US-Außenministerium zusammen mit dem US-Botschafter in der Ukraine, Geoffrey Pyatt, die Fäden gezogen. Der US-Milliardär Soros, der sich den Regime Change durch die Unterstützung der Farbenrevolutionen von Belgrad über Tbilisi bis Kiew zur Aufgabe gemacht hatte, war schon lange vor dem Maidan in den Aufbau einer Protestbewegung involviert. Über die zahlreichen NGO in der Ukraine wie Open Society, Freedom House, National Endowment for Democracy oder die britische Westminster-Stiftung fließen enorme Gelder nach Kiew. Allein vom US-Außenministerium sind seit 2002 65 Mio. US-Dollar vor allem zur Unterstützung des US-Kandidaten Wiktor Juschtschenko ausgegeben worden. Die Abteilungsleiterin im Außenministerium, Victoria Nuland, spricht sogar von fünf Mrd. US-Dollar, die über die Stiftungen zur Förderung von Demokratie und Freiheit in die Ukraine geleitet wurden. Etliche Dollar sind dabei auch in den Aufbau der Protestbewegung PORA – „Es ist Zeit“ investiert worden, die dann bei den Maidan-Demonstrationen eine strategische Rolle spielen sollte. Mit den Geldern werden nicht nur Vortragsreisen, Ausbildungszirkel, Lehrgänge, Trainings, Schulungen und Seminare finanziert. Auch Material- und Sachspenden wie die Ausrüstung der Maidan-Demonstranten mit orangenen T-Shirts und über 1.500 Zelten kommen ins Land, um den aus allen Provinzen anreisenden Jugendlichen den Aufenthalt im winterlichen Kiew zu ermöglichen. Es sind immerhin anderthalb Millionen, die am 27. November 2014 den Maidan und die angrenzenden Straßen bevölkern – ein Spektakel, welches ohne die massive Unterstützung durch die zahlreichen Stiftungen nicht möglich gewesen wäre. In Belgrad wurden 1999, finanziert von der Freedom-House-Stiftung, 5.000 Exemplare des Buches „From Dictatorship to Democracy. Ein methodisches Buch zur Befreiung“ des US-amerikanischen Professors Gene Sharp von der Bostoner Albert Einstein Institution verteilt. DER SPIEGEL zitiert aus diesem Brevier für „198 Methoden der gewaltfreien Aktion“:
„Meine Prinzipien haben nichts mit Pazifismus zu tun. Sie basieren auf der Analyse der Macht in einer Diktatur und wie sie gebrochen werden kann – nämlich dadurch, dass die Bürger auf allen Ebenen der Staatsmacht und ihren Institutionen den Gehorsam verweigern.“
Mit derartigen Mitteln wird der Boden bereitet, auf dem dann die bunten Revolutionen den Sturz des alten Regimes und die Ersetzung durch ein neues, dem Westen ergebenes Regime vollstrecken sollen. Präsident Petro Poroschenko, der durch den Putsch an die Macht gekommen war, bedankte sich im September 2014 vor dem US-Kongress nicht ohne Grund für die „Solidarität der USA“.
Regime Change in Syrien
Das Modell dieser oft offenen, aber überwiegend geheimen Organisation des Umsturzes einer dem Westen missliebigen Regierung ist die verdeckte Kriegsführung. Ihre Operationen provozieren einen Putsch wie 2014 in der Ukraine oder aber bürgerkriegsähnliche Spannungen und Kämpfe, die den Vorwand für militärische Interventionen bieten, wie in Libyen 2011 und Syrien 2014. So begründeten die USA ihren Bombenangriff auf Syrien vom 23. September mit Terrorbekämpfung, obwohl die Terroranschläge radikaler Dschihadisten der Muslimbrüder, der Al-Nusra-Front, von al-Qaida und dem Islamischen Staat im Irak und Syrien (ISIS) sowie der Freien Syrischen Armee (FSA) den Sturz der Regierung Assad in Damaskus zum Ziel hatten und keine Bedrohung für die USA darstellten. Präsident Obama hatte weder ein Mandat des UNO-Sicherheitsrats noch die Zustimmung von Präsident Assad, er hatte nur das gleiche Ziel wie die Dschihadisten – den Sturz der Regierung Assad. Dass das offen völkerrechtswidrig war, hat aber die Intervention und die Präsenz US-amerikanischer Truppen in Syrien bis heute nicht berührt.
Doch der Krieg begann nicht erst mit dem Angriff im September 2014. Schon weit vor dem März 2011, als in der Stadt Dara dicht an der Grenze zu Jordanien die ersten großen Demonstrationen stattfanden, waren geheime Operationen im Gange. Wie der US-amerikanische Journalist Seymour Hersh im April 2016 aufdeckte, gab es bereits 2006 in der US-amerikanischen Administration Überlegungen und Pläne, wie man die Regierung in Damaskus destabilisieren und religiöse Spannungen anheizen könne. Er berichtete von einer Regierungsdepesche aus dem Jahr 2006, die belegte, „dass die US-Botschaft fünf Millionen Dollar für die Finanzierung von Dissidenten ausgegeben hatte“. Eine Untersuchung von Mitarbeitern des US-Kongresses datiert den Beginn der Umsturzpläne sogar in das Jahr 2003, unmittelbar nach dem Irak-Krieg, als die US-Administration die Regierung in Damaskus als zu links einschätzte. Diesmal waren aber nicht die USA und ihre europäischen Verbündeten die Hauptsponsoren, sondern vor allem Katar und Saudi-Arabien versuchten, mit Geld und Waffenlieferungen den Sturz der Regierung zu beschleunigen. Die Kollaboration der USA mit den Golfstaaten ergab allerdings nicht eine Arbeitsteilung der Art, dass die einen Geld, die anderen Waffen lieferten. Schon zu Beginn der Zusammenstöße in Dara kamen in Libyen erbeutete Waffen mit unmarkierten NATO-Kriegsflugzeugen über die Türkei nach Syrien in die Hände der Dschihadisten. „Französische und britische Spezialeinheiten trainieren die syrischen Rebellen vor Ort, die CIA und amerikanische Spezialeinheiten beliefern die Rebellen mit Aufklärungsdaten, damit sie starken Verbänden der syrischen Armee ausweichen können“, berichtete der ehemalige CIA-Analytiker Philip Girardi im Dezember 2011. Katar beteiligte sich an dem verdeckten Krieg neben Geld und Waffen mit einer besonders wertvollen Waffe: Der in Katar stationierte Fernsehsender Al Jazeera befeuerte die Auseinandersetzungen von außen. Die USA haben sich immer damit zu rechtfertigen versucht, dass sie nur die „moderaten“ Rebellen unterstützen. Doch in einem Bericht der „Defence Intelligent Agency“ (DIA) vom 12. August 2012 heißt es unmissverständlich:
„Die Salafisten, die Muslimbruderschaft und al-Qaida im Irak sind die treibenden Kräfte des Aufstands in Syrien… Der Westen, die Golfstaaten und die Türkei unterstützen die Opposition, während Russland, China und Iran das Regime unterstützen.“
Man scheut offensichtlich keinen Widerspruch. Unter dem Zeichen der Terrorbekämpfung arbeiten die USA und NATO mit den Dschihadisten zusammen, die vor keinem Terror zurückschrecken, weil sie das gleiche Ziel verfolgen, Assad zu stürzen. Sie fördern den Terror, den sie zu bekämpfen vorgeben.
Libyen – bis zur Ermordung Gaddafis
Nehmen wir als letztes Beispiel Libyen. Schon lange vor der Bombardierung Libyens durch die NATO, die am 19. März 2011 begann, hatten die USA versucht, den unbequemen Muammar Gaddafi zu stürzen. Seit den frühen achtziger Jahren wurde er von den meinungsbildenden Medien in den USA und Großbritannien als „Terroristen-Warlord“ dämonisiert. Im Juli 1981 wurde der Presse ein Plan der CIA durchgestochen, Gaddafi zu stürzen und möglicherweise zu töten. 1982 konnte abseits der großen Medien Hissène Habré mit der Unterstützung der CIA und israelischer Truppen die Regierung von Goukouni Wedeye stürzen. Human Rights Watch berichtete:
„Unter Präsident Reagan haben die USA durch geheime paramilitärische Unterstützung der CIA, geholfen, Habré zu installieren, um, so Außenminister Alexander Haig, ‚Gaddafi eine blutige Nase‘ zu verpassen“.
Ein Report von Amnesty International berichtete über massive militärische und finanzielle Unterstützung für Habré durch den Kongress. Sie galt dem geheimen Krieg gegen Gaddafi. Doch die USA kamen nicht an ihr Ziel. Verschiedene weitere Pläne scheiterten.
Schließlich bombardierte die US-amerikanische Luftwaffe am 14./15. April 1986 zum ersten Mal die Hauptstadt Tripolis und Bengasi. Der Angriff war illegal, nur die Briten unterstützten die USA. Präsident Ronald Reagan begründete ihn damals als Reaktion auf den Anschlag in der Berliner Diskothek La Belle, konnte aber nur wenige überzeugen, es handele sich um einen Akt der Verteidigung gem. Art. 51 UN-Charta. Auch dieser Plan scheiterte und die militärischen Aktionen gegen Libyen verschwanden aus den Medien. Doch die CIA arbeitete weiter an ihren Plänen und baute eine geheime Armee auf, die aus zahlreichen Libyern bestand, die in den achtziger Jahren in die Grenzkämpfe mit dem Tschad verstrickt waren. Als das Gerücht aufkam, Gaddafi ließe chemische Waffen entwickeln, engagierten sich auch die Briten und gründeten mit dem Geheimdienst MI6 verschiedene Oppositionsgruppen in Libyen, die sie finanzierten, darunter auch die „Libysche Nationalbewegung“ in London. Doch alle weiteren Anschläge blieben ohne Erfolg. Die großen Ölreserven und die für die Europäer wichtige Funktion Libyens, die afrikanischen Flüchtlinge vor ihrem Weg über das Mittelmehr nach Europa zu stoppen, konnten die USA und ihre NATO-Verbündeten nur vorübergehend mit Gaddafi versöhnen. Dieser hingegen machte aus seiner anti-imperialistischen Haltung keinen Hehl. Als er in der UNO-Generalversammlung 2009 forderte, dass die Schuldigen des Irakkrieges vor Gericht gestellt werden müssten – „Es war ein Massaker, ein Genozid: Mehr als 1,45 Millionen Menschen kamen ums Leben. Wir werden uns dafür einsetzen, dass der Irak-Fall vor den Internationalen Strafgerichtshof (ICC) kommt, und wir wollen die Verantwortlichen dieser Massenmorde vor Gericht sehen“ –, lebten die alten Pläne des Umsturzes wieder auf. Sie sollten sich im Februar 2011 in den Wirren des Arabischen Frühlings verwirklichen lassen, bei denen die von MI6 und CIA aufgebauten Oppositionsgruppen zweifellos eine wichtige Rolle spielten. Am 19. März 2011 begannen Frankreich und USA mit der Bombardierung Libyens. Zwei Tage zuvor hatte der UN-Sicherheitsrat mit seiner Resolution 1973 beschlossen, eine Flugverbotszone über Libyen zu errichten, um die Zivilbevölkerung vor Angriffen der libyschen Luftwaffe zu schützen. Im Mai waren dieser Auftrag und auch das Mandat des Sicherheitsrats erfüllt, die NATO-Verbände setzten ihre Angriffe jedoch fort, bis Gaddafi am 20. Oktober 2011 getötet wurde. Das war völkerrechtswidrig, da die Angriffe nun ohne Mandat fortgesetzt wurden. Der Sicherheitsrat schwieg dazu allerdings, was angesichts seiner Zusammensetzung nicht verwundern konnte. Auch der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag sah keine Veranlassung zu einer Untersuchung. Allerdings hatte er bereits am 3. März 2011 auf Initiative der USA eine offizielle Untersuchung gegen Gaddafi wegen des Verdachts auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit bei seinem Kampf gegen die Rebellen aufgenommen.
Der verdeckte Krieg im Völkerrecht
Wenden wir uns der juristischen Bewertung dieser oftmals geheimen Wühlarbeit, Machenschaften und Interventionen, die unter dem Begriff „verdeckter Krieg“ zusammengefasst werden können, zu, so müssen wir zunächst darauf hinweisen, dass das internationale Recht den Begriff „Krieg“ nicht kennt. Dort wird der Krieg enger und präziser als „bewaffneter Konflikt“ definiert. Das bedeutet, dass für den Wirtschaftskrieg oder den Cyberkrieg die Regeln des humanitären Völkerrechts, wie sie in den Haager und Genfer Konventionen sowie weiteren Konventionen und Pakten kodifiziert sind, nicht angewendet werden können. Für diese nichtbewaffneten Konflikte müssen andere Regeln gefunden und vereinbart werden. Ähnlich strikte und verbindliche Regeln wie im humanitären Völkerrecht finden wir hier nicht. Das hat zur Folge, dass die Grenzen zur Illegalität bei diesen „nichtbewaffneten „Konflikten“ weit nach hinten verschoben sind. Die UNO-Charta listet in Art. 33 zwar verschiedene Alternativen auf, die den Streitparteien eine friedliche Beilegung ihrer Streitigkeiten ermöglichen sollen, „durch Verhandlung, Untersuchung, Vermittlung, Vergleich, Schiedsspruch, gerichtliche Entscheidung, Inanspruchnahme regionaler Einrichtungen oder Abmachungen“, stellt aber keine Verfahren zur Verfügung, mit denen diese „friedliche Beilegung“ erzwungen werden könnte.
Auch die immer wiederkehrenden Versuche, diese unterschiedlichen Formen des „verdeckten Krieges“ rechtlich einzuhegen, sind bisher nicht über Resolutionen der UN-Generalversammlung hinausgekommen. Ausgangspunkt aller juristischen Überlegungen ist der Art. 2 Z. 7 UN-Charta, der den Vereinten Nationen „das Eingreifen in Angelegenheiten, die ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören“, verbietet. Da dieses nur für die Organisation der Vereinten Nationen ausgesprochene Verbot aber von so grundlegender Bedeutung für den Schutz der staatlichen Unabhängigkeit und Souveränität ist, wird es heute auch allgemein als zwingendes Verbot zwischen den Staaten angesehen. Zu näheren Angaben über die Konkretisierung, Umsetzung oder Folgen dieses Verbots schweigt das Grundgesetz. Die Charta der Organisation der afrikanischen Staaten (OAS) von 1963 ist aus den eigenen historischen Erfahrungen konkreter. In Art. 3 benennt sie u.a. drei Prinzipien, die verbindlich sind:
„1. Die souveräne Gleichheit aller Staaten, 2. Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der Staaten, 3. Respekt vor der Souveränität und territorialen Integrität jeden Staates und für sein unveräußerliches Recht auf eine unabhängige Existenz, 4. Friedliche Beilegung von Streitigkeiten durch Verhandlung, Mediation, Versöhnung und Schiedsbarkeit.“
Doch auch diese Prinzipien lassen noch genügend Raum für unterschiedlichste Interpretationen, sodass sich noch im gleichen Jahr ein Ausschuss der Generalversammlung an die Arbeit machte, sieben maßgebliche „Völkerrechtsgrundsätze für freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen den Staaten“ zu entwickeln. Das Interventionsverbot spielte dabei eine wichtige Rolle und wurde schon 1965 in einer Resolution der Generalversammlung „Declaration of the Inadmissibility of Intervention in the Domestic Affairs of States and the Protection of their Independence and Sovereignty“ als Resolution 2131 (XX) einstimmig beschlossen. Fünf Jahre später wurde das Verbot weitgehend wörtlich in die berühmte „Friendly Relations“ Resolution 2625 (XXV) übernommen und im Konsens abgestimmt. Zum Interventions- und Einmischungsverbot heißt es dort:
„Kein Staat und keine Staatengruppe hat das Recht, sich aus irgendeinem Grund unmittelbar oder mittelbar in die inneren und äußeren Angelegenheiten eines anderen Staates einzumischen. Folglich sind bewaffnete Intervention und alle anderen Formen der Einmischung oder Drohversuche gegen die Rechtspersönlichkeit eines Staates oder gegen seine politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bestandteile völkerrechtswidrig.
Kein Staat darf wirtschaftliche, politische oder irgendwelche anderen Maßnahmen anwenden oder zu seiner Anwendung ermutigen, um gegen einen anderen Staat Zwang in der Absicht anzuwenden, von ihm einen Verzicht auf die Ausübung souveräner Rechte zu erreichen oder von ihm Vorteile irgendwelcher Art zu erlangen. Desgleichen darf kein Staat subversive, terroristische oder bewaffnete Aktivitäten organisieren, unterstützen, schüren, finanzieren, anreizen oder dulden, die auf den gewaltsamen Sturz des Regimes eines anderen Staates gerichtet sind, oder in bürgerkriegsartige Kämpfe in einem anderen Staat eingreifen.“
Obwohl die Generalversammlung immer wieder in ihren Resolutionen Bezug auf die Prinzipiendeklaration genommen hat, ist sie nicht zu Völkergewohnheitsrecht erstarkt. Allerdings hat der Internationale Gerichtshof (IGH) in seinem berühmten Urteil vom 27. Juni 1986 im Streit zwischen Nicaragua und den USA einzelne Teile des Interventionsverbots als rechtsverbindlich anerkannt. Es heißt in seinem Urteil u.a.:
„A prohibited intervention must… be one bearing matters in which each State is permitted, by the principle of State sovereignty, to decide freely. One of these is the choice of political, economic, social and cultural system, and the formulation of foreign policy. Intervention is wrongful when it uses methods of coercion in regard to such choices, which must remain free ones. The element of coercion, which defines, and indeed forms the very essence of, prohibited intervention, is particularly obvious in the case of an intervention which uses force, either in the form of military action, or in the indirect form of support for subversive or terrorist armed activities within other States.“
„Eine verbotene Intervention muss… Angelegenheiten betreffen, über die jeder Staat nach dem Grundsatz der staatlichen Souveränität frei entscheiden kann. Dazu gehören die Wahl des politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Systems und die Formulierung der Außenpolitik. Eine Intervention ist unrechtmäßig, wenn sie bei diesen Entscheidungen, die frei bleiben müssen, Zwangsmittel anwendet. Das Element der Nötigung, das die verbotene Intervention definiert und sogar ihr Wesen ausmacht, ist besonders offensichtlich im Falle einer Intervention, die Gewalt anwendet, entweder in Form einer militärischen Aktion oder in indirekter Form der Unterstützung von subversiven oder terroristischen bewaffneten Aktivitäten in anderen Staaten.“
Deutlichere Kriterien für die Unterscheidung von verbotener und erlaubter Intervention liefert die Resolution nicht. Sie sind bisher auch nicht in der Staatenpraxis und der Wissenschaft entwickelt worden. Anhaltspunkte lassen sich allerdings dem Nicaragua-Urteil des IGH aus dem Jahr 1986 entnehmen. In diesem Urteil hat er die Unterstützung der in Nicaragua operierenden Contras durch die USA ausdrücklich als rechtswidrig qualifiziert. Selbst die Verteilung eines Handbuchs „Psychological Operations in Guerilla Warfare“ an die Contras hat das Gericht als Verletzung allgemeiner Prinzipien der Menschenrechte und Verstoß gegen das Interventionsverbot gewertet. Die Unterstützung von Terroristen muss also nicht immer nur militärische Mittel anwenden, um verboten zu sein. Das gilt auch für den heute häufig angewandten Druck auf Staaten zur Einhaltung elementarer Menschenrechte. Er ist nur insoweit unbedenklich, als er nicht zum Mittel des Zwangs greift. So werden politische und wirtschaftliche Sanktionen, Embargos und Boykotts im Allgemeinen nicht vom Interventionsverbot erfasst – wie etwa die Sanktionen gegen die VR China und Russland. Sobald sie jedoch einen bestimmten Grad der Intensität überschreiten, sei es der Dauer oder der Auswirkung auf die Bevölkerung, wie die viele Opfer verursachenden Sanktionen gegen Irak oder Iran oder das jetzt über 60 Jahre dauernde Embargo der USA gegen Kuba, verstoßen sie gegen das Verbot. Die jährlichen Abstimmungen in der UNO gegen den Wirtschaftsboykott der USA sind nicht nur Ausdruck politischer Ablehnung der US-Praxis, sondern reflektieren ihre Qualifizierung als rechtswidrig. Insbesondere sind Sanktionen zudem verboten, wenn sie einen Regime Change zum Ziel haben.
Mangels eindeutiger Kriterien bleibt die Grenzziehung zwischen verboten und erlaubt in jedem Einzelfall problematisch und unsicher. So hat die US-Außenministerin Albright die Auswirkungen des US-Boykotts gegen den Irak anders eingeschätzt als die beiden Sonderbeauftragten des UN-Generalsekretärs, Dennis Halliday und Hans von Sponeck, die ihren Posten quittierten, da sie die Auswirkungen des Boykotts für unverhältnismäßig und menschenrechtswidrig hielten. Auch die jahrelange Einmischung der USA in die politische Entwicklung der Ukraine unter der Überschrift „Förderung der Demokratie“ mit dem zielgerichteten Aufbau einer Opposition und aufwendigen finanziellen und ideologischen Mitteln wird wahrscheinlich in der Regierung des schließlich gestürzten Janukowitsch anders beurteilt worden sein als jetzt in der Regierung Selenski. Sieht man in den Aktivitäten die Vorbereitung eines Regime Change, was nicht weit hergeholt ist, so muss man sie als rechtswidrige Einmischung in die Angelegenheiten eines anderen Staates einordnen, so willkommen das Ergebnis den Nachfolgern der gestürzten Regierung auch ist.
Fassen wir zusammen, so haben sich die Einmischungen in die politischen Prozesse in allen drei Ländern, Ukraine, Syrien und Libyen, so unterschiedlich sie waren, als schwere, rechtswidrige Interventionen in die Angelegenheiten eines fremden Staates erwiesen. Es gab keinerlei Rechtfertigung für die Aktivitäten, es sei denn, man lässt die nachträgliche Akzeptanz der US-amerikanischen Aktivitäten durch die Regierung Selenski als Rechtfertigung gelten. Die UN-Sonderberichterstatterin über die negativen Folgen einseitigen Zwanges auf den Genuss von Menschenrechten, Alena Douhan, bekannte in einem Interview, „dass ungefähr 98 % der heute beschlossenen Sanktionen die internationalen Pflichten der Staaten verletzen…“ und betonte, „dass diese Sanktionen, die zumeist im Namen der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit verhängt werden, genau diese Grundsätze, Werte und Normen untergraben“. Sie hätte „eindeutig festgestellt“, dass die Anwendung einseitiger Zwangsmaßnahmen „das Recht auf Entwicklung beeinträchtigt und die Erreichung jedes einzelnen nachhaltigen Entwicklungsziels verhindert“. (Xinhua v. 13. Juli 2021, english.news.cn/20220713/860cccd348a24f3e975945980b8476db/c.html, vgl. auch Marc Bossuet, The Adverse consequences of economic sanctions on the enjoyment of human rights, Economic and Social Council, E/CN.4/Sub.2/2000/33, 21.6.2000)
Doch bedeutet die Feststellung der Rechtswidrigkeit noch nicht die Tauglichkeit für eine Verfolgung mit juristischen Mitteln vor einem internationalen Gericht. Denn diese folgen nicht nur juristischen, sondern vor allem politischen Überlegungen. Seit März 2022 hat der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Karim Khan, in der Ukraine Voruntersuchungen zur Beweissicherung von möglichen, vornehmlich russischen Kriegsverbrechen eingeleitet. In Koblenz hat es einen viel beachteten Prozess gegen zwei Syrer wegen Staatsfolter gegeben, der mit einer Verurteilung zu lebenslanger Haft bzw. viereinhalb Jahre Haft wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit endete. Ermittlungen, die der IStGH im März 2021 wegen möglicher Kriegsverbrechen im Israel-Palästina-Konflikt aufgenommen hat, sind hingegen ohne Fortschritte geblieben. Die gegenwärtigen Machtverhältnisse hinter dem IStGH, der kein Gericht der UNO ist, sondern unabhängig auf einem internationalen Vertrag mit 124 Staaten beruht, sind derart, dass bisher kein Verfahren gegen einen Mitgliedstaat der NATO eröffnet wurde. In den Fällen, in denen die ehemalige Chefanklägerin Fatou Bensouda es versuchte – gegen USA und Großbritannien wegen Foltervorwürfen in Afghanistan und Irak –, wurden die Untersuchungen nach zum Teil massiven Interventionen eingestellt. So bleibt das Resümee zwiespältig. Die Staaten haben zwar nach Jahrzehnte dauernden Verhandlungen einen Kodex internationaler Strafnormen im Römischen Statut von 1998 entwickelt, der auf der Höhe der Zeit dem aktuellen Unrechts- und Strafbewusstsein entspricht, um Straftäter bis in die höchsten staatlichen Ämter zur Verantwortung zu ziehen. Die alte koloniale Spaltung der Welt wirkt jedoch auch nach der formalen Befreiung von der kolonialen Gewalt fort. So werden sich die alten Kolonialmächte den von ihnen selbst entwickelten Strafnormen weiter entziehen können. Daher wird auch die Subsumierung der verschiedensten Formen verdeckter Kriege unter die Strafnormen des Römischen Statuts derzeit kein Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof ermöglichen.
Ich danke Joachim Guillard für wertvolle Hinweise.
Quelle: Das Argument 340/2023, S, 182 – 191.
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