Frankreich: Der Abbruch der Schweigemauer – oder der erotische Winter – Wie die Affäre Strauss-Kahn Frankreich verändert –
Heute (8. Juni 2011) ist ein recht interessanter Beitrag in der SZ (Feuilleton, S. 11, nicht im Netz) von Stefan Ulrich nachzulesen:
… Die Würde des Dominique Strauss-Kahn – Frankreich ist sie besonders wichtig. Denn das Land nimmt den Fall persönlich. Brechen nicht gerade in Amerika alte Ressentiments durch? Wird die Republik nicht als libertär und moralisch verkommen geschmäht? Sitzt sie nicht mit auf der Anklagebank in New York?…
Frankreich fühlt sich herausgefordert durch dieses spektakulär inszenierte Strafverfahren in den USA…
Nun da der erste Schock überwunden ist, öffnet sich das Land dem Zweifel. Falls sich hinter dem formidablen Siegertypen Strauss-Kahn tatsächlich ein zwielichtiger Mann verbergen sollte, könnte es da nicht sein, dass auch die strahlende Kulturnation Frankreich düstere Seiten hat?…
Um es mit einem Sprachbild Alice Millers auszudrücken: Frankreich erlebt in diesen Tagen den Abbruch einer Schweigemauer. Alles wird in Frage gestellt. Der Umgang der Politiker mit der Macht (vgl. dazu auch), aber auch die Arbeit der Journalisten, die Ausbildung der Eliten, die französische Flirtkultur und das Verhältnis der Geschlechter. Nun beginne die “Ära des großen Auspackens” schreibt das Wochenmagazin “Nouvel Observateur“. Es widmet seine aktuelle Ausgabe dem Thema “Das Frankreich der Machos” und fragt: “Sind die Gallier unbeugsame und unerträgliche Machos geblieben”.
Eine Antwort gibt der Philosoph Vincent Cespedes: Das Land werde von einer kleinen Elite weißer Männer beherrscht, die sexuelle Potenz mit Macht gleichsetzen. “Phallokratie” nennt das Cespedes….
Die “Liberation” zitiert eine amtierende Ministerin, die anonym bleiben möchte, mit den Worten: “Wenn alle, die Macht und Sex vermischen zur Rechenschaft gezogen würden, geriete die Hälfte unserer politisch Verantwortlichen in Schwierigkeiten”.
So geht es tagaus, tagein, in allen Blättern, auf allen Kanälen.
Es scheint so, als löse der Fall Strauss-Kahn eine kollektive Katharsis aus…
So entsteht, Mosaikstein auf Mosaikstein, das Bild eines Landes namens Machosistan, das von frivolen Faunen dominiert zu sein scheint…
Bislang wird in Frankreich der Schutz der Privatsphäre sehr hoch gehalten. Das Bett des Politikers war tabu. Nun sieht sich das Land mit einer total anderen Kultur konfrontiert – der nordamerikanischen. Diese verlangt den “gläsernen Politiker” (nur sexuell und nicht beim Geld?) und stellt die Informations- und Meinungsfreiheit im Zweifel über den Schutz des Privatlebens. Der Fall Strauss-Kahn steht daher auch für den Kampf zweier Kulturen (“Clash of civilizations”?)…
Es ist Zeit, Tabus zu brechen, fordert der “Liberation”-Korrespondent Jean Quatremer. Journalisten müssen Transparenz schaffen, ohne zur Schlafzimmerpolizei zu verkommen….
Frankreich sucht eine neue Balance zwischen Öffentlichem und Privatem, aber auch zwischen Frauen und Männern….
Die Fragen, die sich Frankreich stellen, reichen über das Verhältnis von Sex und Macht hinaus:
“Mit der Strauss-Kahn-Affäre beginnt eine neue Ära, in der nicht mehr alles erlaubt ist und nicht mehr alle schweigen”, freut sich der “Express”. “Die Politiker werden einen erotischen Winter kennen lernen”. Die Philosphin Sylviane Agacinski rät zu einer “Kultur des gegenseitigen Respekts”. Vielleicht wird der “Abriss der Schweigemauer” Frankreich helfen, diese Kultur aufzubauen. (SZ)
Nur die ganz zentrale politische Frage für Frankreich – oder auch Europa – , ob und wie es nach dem fulminanten politischen Ausscheiden von Strauss-Kahn in Frankreich bei den Präsidentschaftswahlen weitergehen soll – und wie gewaltig jetzt die Chancen von der rechtsradikalen “Front National” mit Marine Le Pen gestiegen sind, beschäftigt man sich dann allenfalls am Rande.
Dabei dürfte diese Frage mittelfristig für Frankreich und Europa mit dem erstarkenden Rechtspopulismus viel entscheidender werden. Aber dieses Verschweigen hat wohl auch mit den Themen zu tun, beim Schnüffeln unterm Bett fühlt sich jeder kompetent … viel schwieriger wird es dagegen bei dem immer fester sich asozial positionierenden Europa, einem Projekt, bei dem der französische Wähler schon einmal in einer Abstimmung mehrheitlich seine Skepsis zum Ausdruck gebracht hatte. Und das ist der politische Riss zwischen Bevölkerung und einer selbstherrlichen Elite, in den Marine Le Pen eindringen kann! Das Macho-Gehabe von Strauss-Kahn oder auch von Sarkozy ist vor diesem Hintergrund nur das emotional aufwühlende Abbild der Kluft zwischen Sein und Schein in der Politik.