„Respekt im Zeitalter der Ungleichheit“. Eine soziologische Betrachtung von Richard Sennet über die häufig außer Acht gelassenen sozialpsychologischen Wirkungen des „Umbaus des Sozialstaates“
Die Kritik an den langen Fragebögen für die Bezieher von Arbeitslosenhilfe wird von Vielen nicht verstanden. Schließlich müssten doch auch Sozialhilfeempfänger gegenüber den Sozialämtern Auskunft über ihr Vermögen geben, wird von den Befürwortern der Umstellung von der Arbeitslosenhilfe zum Alg 2 entgegen gehalten.
Wer so argumentiert verkennt, dass es dabei um etwas tiefgreifend anderes geht: Die früheren Arbeitslosenhilfebezieher wurden (vom Staat und meist auch von ihren Mitmenschen) eben nicht wie Sozialhilfeempfänger behandelt. Auch das Gesetz machte einen Unterschied. Deshalb konnten Langzeitarbeitslose auch neben der Arbeitslosenhilfe auf ihr angespartes Vermögen zurückgreifen, brauchten nicht in eine billigere Wohnung umzuziehen oder sie konnten eine erwerbstätige Ehefrau haben, die nicht persönlich „herangezogen“ wurde. Dass die Kinder oder sonstige Angehörige der „Bedarfsgemeinschaft“ zum Lebensunterhalt beizutragen haben, war in diesem „Versicherungssystem“ gleichfalls nicht vorgesehen.
Die Bezieher von Arbeitslosenhilfe hatten – ob dies nun von der Finanzierungsquelle her berechtigt war oder nicht – (jedenfalls überwiegend) das Gefühl, dass sie eine Leistung in Anspruch nehmen, die auf Grund einer eigenen Vorleistung – nämlich ihrer Arbeit und ihren Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung – (zurück-)erstattet wird und nicht (nur) auf Grund von Bedürftigkeit. Mit der Gleichbehandlung der Arbeitslosenhilfe mit der Sozialhilfe wird gewollt oder ungewollt ein Gefühl der Abhängigkeit erzeugt – „die Schande der Abhängigkeit“, wie Sennet das nennt, kommt über diese Menschen.
Hat man wirklich darüber nachgedacht, wie es für die Alg 2 – Bezieher wirken muss, wenn sie für eine (zugewiesene) Arbeit ein oder zwei Euro in der Stunde „verdienen“ dürfen? Würde man ihnen nicht mehr „Respekt“ entgegenbringen, wenn man diese Arbeit als „ehrenamtlich Tätigkeit“ einstufen und statt eines Hunger-„Lohns“ eine Art „Aufwandsentschädigung“ bezahlen würde?
Über die Frage der Selbstachtung und die Erhaltung des Selbstbewusstseins (vor allem der im wirtschaftlichen Wettbewerb Benachteiligten) in einer ungleicher werdenden Gesellschaft und dem gegenseitigen Respekt im Umgang zwischen den an den Rand Gedrängten und denen, die erfolgreich in der Mitte der Gesellschaft stehen, kurz: Um die Frage, wie soziale Gerechtigkeit oder eine „Politik des Respekts“ im „Zeitalter der Ungleichheit“ aussehen könnte, handelt dieser lesenswerte Essay.
Das Buch ist nicht für Menschen geschrieben, die Zahlen, Daten, Fakten zum Sozialstaat suchen. Die wissenschaftliche Analyse in der Form eines typisch angelsächsischen Essays, hier noch mit einer stark biographischen Komponente versucht die sozialpsychologischen Aspekte etwa von Caritas, Fürsorge, bürokratischer, solidarischer oder ehrenamtlicher Hilfe für Schwächere darzustellen.
Richard Sennet; Respekt im Zeitalter der Ungleichheit, Berlin Verlag 2002