Stimmen aus Lateinamerika: Die „Geapolitik” des guten Lebens als Gegenmodell zur westlichen „Geopolitik“

Stimmen aus Lateinamerika: Die „Geapolitik” des guten Lebens als Gegenmodell zur westlichen „Geopolitik“

Stimmen aus Lateinamerika: Die „Geapolitik” des guten Lebens als Gegenmodell zur westlichen „Geopolitik“

Ein Artikel von amerika21

Worum geht es bei dem neuen Gedanken der sogenannten Geapolitik aus Bolivien? Wie unterscheidet sich dieser Ansatz gegenüber dem westlichen, kapitalistisch geprägten Verständnis von Entwicklung und Geopolitik, dem heutzutage fast alle Lebensbereiche untergeordnet sind? Ein Interview mit dem bolivianischen Vizepräsidenten David Choquehuanca. Von Stephan Rist.

Was ist der grundlegende Unterschied zwischen Geopolitik und Geapolitik?

Uns Bolivianern wurde während der letzten 500 Jahre eingebläut, dass wir im Zug der Kolonisierung unsere eigene Identität verloren haben und wir nun zum westlich-europäisch geprägten „lateinamerikanischen” Kulturkreis gehören. Wir haben das selbst geglaubt und auch lange wiederholt. Das ist seit dem Jahr 1992 (500 Jahre der Ankunft von Kolumbus in der Karibik) vorbei. Mit der Geapolitik des guten Lebens, stellen wir die Idee der Erde als Lebewesen und Mutter ins Zentrum des Verständnisses unserer heutigen Situation. Damit sind wir nicht allein. Die Mutter Erde als Lebewesen ist im Griechischen als Gea und Gaia bekannt gewesen, bei uns als Pachamama, und in den Veden aus Indien wird sie als Prithivi besungen.

Trotz Jahrhunderten der Kolonisierung und Ausgrenzung der indigenen Menschen und ihrer Denkweise respektieren wir grundsätzlich jede Form der menschlichen Kultur. Natürlich auch unsere eigene. Deshalb habe ich in meiner ersten Rede, als ich die Vizepräsidentschaft übernommen habe, gesagt: „mit der Erlaubnis unserer Götter”. Ich sprach von Zeus, aber auch von Tunupa (andine Gottheit), die nicht mehr ausgeschlossen bleibt. Ich sagte „„mit der Erlaubnis von Pachamama (Mutter Erde)” – und fügte hinzu: „mit der Erlaubnis unseres Vaters, der Sonne und von unserem heiligen Kokablatt”.

Und am Ende meiner Rede sagte ich die eine Wahrheit: Die Kolonisatoren und ihre Nachfahren lügen uns seit 500 Jahren an. Sie sagten, dass wir „Latein-Amerikaner” sind und deshalb von Europa abstammen, und dass unsere Trikolore (die bolivianische Nationalflagge), unser Land als Teil von diesem „Latein-Amerika”“ verkörpert. Aber vor der Kolonialzeit gab es hier unsere eigene Flagge, die Wiphala. Sie ist völkerverbindend und verbindet uns mit dem vorkolonialen Territorium des Condesuyo und Abya Yala.

Im Namen der heutigen Nationalflaggen haben sie unsere Lebensräume zerstückelt und unsere Länder und Ressourcen systematisch geplündert. Die Wiphala hingegen ist der Kodex der Integration und verkörpert den Regenbogen. Der Regenbogen hat keine Grenzen, er ist nicht bolivianisch, nicht argentinisch, nicht peruanisch, nicht schweizerisch, nicht japanisch. Der Regenbogen ist ein Teil der Natur und hat deshalb keine Grenzen. Er ist ein Bild der Einheit, nicht der Trennung.

Als uns das klar wurde, fragten wir uns: Hey, sind wir Römer? Nein, wir sind keine Römer, denn die Wiphala spricht zu uns und sagt: „Hey, wir sind eigene Völker mit eigener Kultur und eigenen Namen: Quechuas, Aymaras, Guaranies, Chiquitanos, wir sind Yuracarés und Mojeños.” Aber die Kolonisatoren – und später die Wissenschaft – wollten uns weismachen, dass wir Lateiner (Römer) sind. Sogar über unsere Religion sagten sie, sie sei „apostolisch, katholisch und römisch”. Deshalb haben wir dem mit der neuen Verfassung von 2010 ein Ende gesetzt und festgelegt, dass bei uns der Staat von den Religionen getrennt ist.

Die Trikolore steht also für etwas, das nicht zu uns gehört, sie ist „lateinamerikanisch”. Sie steht für die materiell fokussierte, egozentrische Entwicklung des „immer mehr Habens”, sie ist der erste Januar, die Universität, das instrumentelle Wissen und sie ist Geopolitik.

Die Wiphala hingegen weist uns den Weg zu uns selbst. Sie ist Abya Yala, sie steht für das „gute Leben” in freien Gemeinschaften, sie ist der 21. Juni (Wintersonnenwende, unser wirkliches Neujahr), sie steht für die Pluriversität, Multiversität, kosmosophisches Denken oder – kurz gesagt – die Wiphala ist die Geapolitik.

Mit Geapolitik bringen wir zum Ausdruck, dass wir uns auf einem Weg befinden, der uns vom Ungleichgewicht zum Gleichgewicht führen wird. Deshalb sprechen wir von Pachakuti. Dieser Begriff steckt in der Wiphala. Pacha ist „Gleichgewicht in Raum und Zeit”. Kuti ist „Rückkehr”.

Pachakuti führt uns zum Umbau der Republik in den plurinationalen Staat. Wir verstehen das als einen radikalen Prozess des Wandels. Er geschieht nicht über Nacht und wir können ihn nicht erzwingen. Wir bringen ihn nur voran, indem wir uns von seiner Notwendigkeit überzeugen. Darum ist der Prozess des Wandels auch demokratisch. Es ist eine Revolution der Ideen.

Der Kolonialismus hat unsere Köpfe stark beeinflusst. Er hat uns mit den Ideen des Individualismus, der Gier, des Rassismus und des Hasses infiziert. Jetzt müssen wir all das schmerzhafte Denken verbannen. Nur so können wir das werden und wiedererlangen, was zu uns gehört.

Deshalb sagen wir, hört auf, individualistisch zu sein und euch spalten zu lassen. Hass und Rassismus müssen wir hinter uns lassen. Das bedeutet, zum Jiwasa-Sein zurückzukehren. Das ist auch ein Wiphala-Code. Jiwasa besagt, dass wir so in der Welt stehen, dass wir in erster Linie sagen „wir sind” und nicht „ich bin”. Jiwasa ist der Tod des Egozentrismus, des Anthropozentrismus, des Eurozentrismus. Im Sinn des argentinischen Philosophen, Enrique Dussel, ist Jiwasa unser Weg zurück von der kolonialen Barbarei, hin zur eigenständigen Zivilisation.

Für uns ist klar: Auch die Begriffe „links, rechts, überlegen, unterlegen, arm, reich” kommen von außen. In unseren Gemeinschaften gab es keine Spaltung. Wir haben uns nicht von Pachamama getrennt. Die Spaltung kam mit der Kolonisierung. Deshalb wird unsere derzeitige Veränderungsetappe auch „Dekolonisierungsprozess” genannt. Wir müssen uns selbst entkolonisieren, wir müssen zu unserem integralen Menschsein, das ein Teil der Natur ist, zurückkehren. Nur so hören wir auf, ein verwaistes menschliches Wesen zu sein, das isoliert von seiner gespaltenen Familie lebt. Das bedeutet die Dekolonisierung des Denkens.

Aus diesem eigenen Denken heraus müssen wir unseren plurinationalen Staat aufbauen. In der Wiphala ist „unser eigenes Denken” als Yuyay kodifiziert. Es ist die Philosophie und Kultur des Lebens, der Brüderlichkeit, der Harmonie, der Komplementarität, des Konsenses und des Friedens. Sie lehnt die Ideologie der Herrschaft, der Unterwerfung oder der Spaltung ab. Das ist Amuyu in Quechua. So gesehen ist klar: Auch wir können denken, auch wir haben unsere Ideologie und unsere Philosophie. Eigentlich haben wir alles! Das ist es, was wir hervorheben wollen, das ist es, was wir zurückgewinnen wollen, wenn wir über Geapolitik sprechen.

Aus unseren Ländern in Europa hören wir in diesem Zusammenhang oft folgende Frage: Wie können wir von hier aus gewissermaßen geapolitisch arbeiten? Es ist klar, dass die Antworten von uns selbst kommen müssen, so wie das bei euch der Fall ist. Aber da wir die Gelegenheit haben, mit Ihnen über dieses Thema zu sprechen, könnten Sie uns ein paar Ideen oder Überlegungen dazu geben?

Wir leben heute alle mehr oder weniger im Sinn des westlichen, kapitalistischen Entwicklungsverständnisses. Es ist die Anwendung der Werte der Geopolitik – also die Beherrschung und Unterwerfung – auf die Menschen, Wirtschaft, Politik und Natur. Was haben wir davon? Ernährungs-, Wasser-, Klima-, Energie- und Finanzkrisen. Das betrifft die ganze Menschheitsfamilie. Die Geopolitik der Beherrschung und Unterwerfung hat die Menschen, unsere Berge, unsere Flüsse in eine existenzielle Krise gebracht. Die Mutter Erde ist gefährdet, die Pflanzen, die Bienen sind gefährdet, mit anderen Worten: Das Leben selbst ist höchst schutzlos geworden.

Die geopolitische Denkweise kann nicht fortgesetzt werden. Sogar der Generalsekretär der Vereinten Nationen hat in einer seiner Reden gesagt, dass die Staats- und Regierungschefs der Welt sich zu einer Versammlung der Erde treffen sollten. In dieser müssen wir die Probleme, die wir heute haben, offen diskutieren. Wichtig wäre die Diskussion, um die Zukunft der Erde nicht von einem anthropozentrischen Standpunkt aus zu führen; denn das Denken des – jetzt auch Anthropozän genannten – Zeitalters hat uns sehr geschadet. Wir müssen zum Leben zurückkehren. Wir müssen das Leben verteidigen und es grundsätzlich neu überdenken.

Wie werden wir gegen all diese Krisen ankämpfen? Wir dürfen keine passiven Zaungäste sein. Wir müssen handeln, auf der Grundlage des eigenen Denkens, das aus der Energie des Bewusstseins speist, das fragt: Was wollen wir unseren Kindern hinterlassen? Wir müssen zurückkehren und unser Leben leben, aber mit Leidenschaft und Liebe.

Das gilt für alle, auch für die Schweizer! Wenn wir das nicht tun, werden wir alle transhumanisiert. Dieser westliche Weg der „Entwicklung” hat uns zum totalen Zusammenbruch geführt. Wir stehen am Rande einer globalen Katastrophe. Wir können also nicht mit verschränkten Armen zusehen. Deshalb müssen wir – jeder an seinem Ort und in seiner Kultur – intensiv nach Alternativen suchen und dann unsere menschliche Kreativität wecken und bündeln. Viel zu lange haben wir, wie Papageien, einfach wiederholt: „Unsere eigene Kreativität ist tot. Die Rettung liegt in der Technik, der Digitalisierung und der Regierung von oben nach unten.”

Wir werden als Objekte der „Entwicklung” betrachtet, und neuerdings will man für uns und die Natur sogar einen Marktpreis fixieren. Aber wir sind keine Gegenstände, wir sind keine Objekte, wir sind Menschen! Deshalb müssen wir an Alternativen arbeiten. Wir dürfen den Weg des „Chaosmos”[1] nicht weitergehen.

Das ist auch eine Chance. Vor allem die Jugend muss aufwachen, sie muss ihre Kreativität erwecken und Larama entdecken. Dieser Wiphala-Code bezeichnet den „rebellischen Krieger”, der aufhört, unterwürfig zu sein. Die Kodizes der Wiphala und des guten Lebens sind angesichts der globalen Krise des Kapitalismus entstanden. Sie stehen für Gleichgewicht, Harmonie und Brüderlichkeit.

In diesem Zusammenhang sprechen wir vom Ayllu, einer Idee, die auch in der Wiphala steckt. Das Ayllu geht über die „Organisation der reinen Menschen-Gesellschaft” hinaus. Es ist also mehr als das, was sie uns an den Universitäten lehrten. Es ist keine anthropozentrische Organisation, die nur für das menschliche Wohl sorgt. Es ist eine Gesellschaftsform, im Sinne von Taqpacha, was „jedes Wesen, das den Planeten bewohnt” bezeichnet. Damit wird das Ayllu zur Grundlage der integralen Organisation von allem, was lebt. Der Mensch muss bescheidener werden. Deshalb gilt im Ayllu auch Tupo. Dieser Wiphala-Code bedeutet, allem respektvoll und mit Maß zu begegnen, egal ob wir es zu tun haben mit unseren Bienen, unserer Großmutter, unseren Bergen, unserem Regen, unserem Großvater Feuer, dem Jaguar, unserer Volkssouveränität oder mit unseren Autoritäten.

Mit Pachakuti sprechen wir von der Rückkehr zum Pfad des Respekts, zum Pfad der Wahrheit. Das ist der Qhapaj Ñan „der Weg der edlen Integration”. Auf diesem Weg erlernt der Mensch das kosmische Wissen in und um sich kennen, das Heilen, die Wahrheit und Komplementarität erkennen. So suchen wir die Harmonie mit der lebendigen Natur. Das Ayllu wird somit zu einer Organisation aller Lebewesen. Es ist deshalb die Grundlage für unsere ganzheitlichen Lebensformen, die wir in Spanisch „vivir bien” nennen (Das gute Leben).

Im Sinne der Geapolitik des guten Lebens müssen wir auch unser Qhawana erwecken. Dieser Gedanke kommt auch aus der Wiphala und bedeutet „über das hinausschauen, was die Augen sehen können”. Um diese Fähigkeit auszubilden, brauchen wir Begegnungen, den Austausch von Erfahrungen und kosmosophischem Wissen, für eine reale Wiederbegegnung mit der Mutter Erde. Aber wenn wir versuchen, unser Qhawana zu erwecken, stellen wir fest, dass viele dieser Fähigkeiten eingeschlafen sind, sie sind annulliert worden. Die Geapolitik ist dazu da, diese Fähigkeiten neu zu erwecken; Qhawana bedeutet nicht nur „weiter schauen, als die Augen sehen können”, sondern bedeutet vor allem auch „nach innen schauen”. Das ist sehr wichtig, denn nur so können wir die eigenen Wurzeln und Werte erkunden.

Unsere Wurzeln bezeichnen wir als Saphi. Das ist wieder ein Code der Wiphala, der uns sagt, dass man nicht vergessen darf, dass man Kultur hat, dass man kulturelle Wurzeln hat. Deshalb heißt es, dass „Menschen, die ihre kulturellen Wurzeln nicht schützen und nicht pflegen, dazu bestimmt sind, zu verschwinden”.

Es ist wichtig zu beachten, dass alle diese Codes, die uns die Wiphala gibt, nicht nur Worte sind. Es sind die Worte, mit denen Pachamama zu unseren Herzen spricht. Es ist die Stimme aus dem Dialog mit Pachamama. Saphi sagt uns also: „Vergiss nicht, woher du kommst, vergiss nicht deinen Vater, dein Dorf, deine Gemeinschaft, deine Lamas, vergiss nicht die Bienen, vergiss nicht, die Sonne zu grüßen… denn all das ist Teil deiner Wurzeln. Vergiss nicht deine Großmutter, deine Philosophie, vergiss nicht deine Kultur, die Kultur des Lebens; du bist nicht von der Kultur des Todes, du bist nicht von der Kultur der Konfrontation.”

Dies bezieht sich dann auf Amtaña; amt’a ist ein weiterer Wiphala-Code. Amtaña ist Planung. Das heißt, wir haben alles, wir wissen, wie man plant! Nur kommt die Planung von unseren Wurzeln her, von unserer Kultur und nicht mehr von dem, was wir nicht sind. Mit diesen Codes sind wir ein denkender Kosmos, ja das sind wir.

Können Sie das noch etwas genauer erklären, warum wir als Menschen „denkender Kosmos” werden können?

Das habe ich im Buch über den Dialog zwischen unseren und den westlichen Wissenschaften[2] so ausgeführt: Alles beginnt mit der Intuition und von dort geht es weiter zur Vernunft, aber im indigenen Wissen sind die beiden nicht getrennt. Deshalb sagen wir „corazonar”[4] oder „mit den Herzen denken”. Ohne dies haben unsere Handlungen keinen tieferen Sinn. Es bedeutet das Denken fühlen und das Fühlen denken. Es ist ein ständiger, zirkulärer Prozess, den wir Amuyu nennen. Damit verbinden wir uns in unserem Denken, Fühlen und Handeln mit unseren Wurzeln und werden so Teil des denkenden Kosmos.

Ist dieses „Erwecken der eigenen Wurzeln” auf Bolivien beschränkt?

Nein, nein, das ist nicht auf Bolivien beschränkt! Die Wiphala kennt keine Grenzen. Außerdem enthält sie den Code Tama, was die „die große Menschheitsfamilie” heißt. Die Wiphala und die Geapolitik suchen die Wiedervereinigung der großen Menschheitsfamilie. Und wer ist Teil der großen Menschheitsfamilie? Das sind wir alle, die wir uns von der Milch der Mutter Erde, also dem Wasser, ernähren. Wir sind Brüder und Schwestern. Deshalb streben wir nach Brüderlichkeit auf nationaler und kontinentaler Ebene; wir brauchen Brüderlichkeit im Dialog. Das ist der einzige Weg, um den Frieden zu garantieren. Dafür ist Geapolitik da.

Gibt es auch eine realpolitische Dimension der Geapolitik?

Ja, klar, auch die Politik müssen wir neu denken lernen. Die Rechten haben ihre Angst vor den Linken schon längst verloren. Deren Interessen an uns Indigenen sind sehr ähnlich: Sie wollen uns vor allem spalten. Zusammen bilden sie die Elite der Saboteure und Räuber der Ressourcen der Mutter Erde und des Lebens. Diese Elite hat sich schon immer der Spaltung bedient, und natürlich hat die Rechte die Linke dominiert, aber im Grunde genommen haben beide Angst vor uns, den jahrtausendealten Kulturen. Aber jetzt sind die Turbinen des alten Systems ins Stocken geraten, sie können nicht mehr! Der Geopolitik ist der Dampf ausgegangen! Wir wollen jedoch keinen Krieg, sondern einen friedlichen Übergang von der Geo- zur Geapolitik! Deshalb ist es uns wichtig, von unseren Familien her die Idee der Geapolitik zu entfalten. Das ist unser Beitrag, um das Leben und die Pachamama zu retten.

Leider wissen immer noch zu wenig Leute, warum wir die Codes der Wiphala in unserer Verfassung haben und was das mit dem Regenbogen zu tun hat. Das begann im Jahr 1992. Da organisierten wir die Kampagne „500 Jahre Widerstand”. Es kamen viele Menschen aus der ganzen Welt nach Twianaku [alte Einweihungsstätte in der Nähe von La Paz].

Die Lakotas aus Nordamerika überbrachten uns damals eine Botschaft, die sie von ihren Vorfahren vor hunderten von Jahren bekommen hatten. Die Botschaft lautete: „Wenn die Welt am Rande des Abgrundes steht, wenn die Menschheit im Chaos versinkt, wenn es eine totale Krise gibt, dann werden aus dem Süden des Kontinents kraftvolle Krieger des Regenbogens auftauchen, um die Harmonie wiederherzustellen.” Da haben wir verstanden, wir sind diese Krieger des Regenbogens. Wir müssen uns von hier aus erheben, denn wir kennen die Kodifizierung des Regenbogens in der Wiphala.

Um zu versuchen, wie wir als Regenbogen-Krieger von hier aus handeln können, haben wir vereinbart, die Idee der Pachamama in die Vereinten Nationen nach New York zu tragen. Eine große Mehrheit der Vollversammlung fand das wichtig. Im Jahr 2010 wurde unser Antrag bewilligt, und der bisherige „UNO-Tag der Erde” (22. April) wurde in den „Tag der Mutter Erde” umgewandelt. Mit dieser Erklärung wurde die Erde zu einem Subjekt, das lebt, kommuniziert und so auch zum Rechtsträger. Und wenn wir über Mutter Erde als Subjekt sprechen, dann sprechen wir auch über die Geapolitik. Dieser Vorschlag der Pachamama kam nicht aus der Wissenschaft, sondern aus dem Widerstand der tausendjährigen Kulturen.

Die Geapolitik lässt sich nicht übers Knie brechen, wie uns die eigene Geschichte zeigt: Als Atahualpa, der indigene Widerstandskämpfer, im Jahr 1532 in Cajamarca geopfert wurde, wussten die Yatiris (Schamanen), dass er in Händen böser Menschen war. Sie gingen dorthin, um ihn zu retten. Unterwegs trafen sie auf einige Brüder, die ihnen sagten, dass Atahualpa bereits hingerichtet wurde. „Was sollen wir tun?” fragten sie sich. Sie bildeten einen Kreis und trafen eine weise Entscheidung. „Wenn wir die Spanier angreifen, vernichten sie uns”. Dann sagten sie „Wir werden jetzt zu Stein, und in 500 Jahren werden wir wieder sprechen.” Es ist ein langes Stadium von Muk’i – was Reifung und Vorbereitung bedeutet. Aber schau her, das war 1532 in Cajamarca – und jetzt ist das Jahr 2032 schon recht nahe! Darum sagen wir spaßeshalber auch: „Weil wir, die Aymara, auch Stein sind, verbiegen wir uns vor niemandem – und nur manchmal brechen wir krachend auseinander!”

(Leicht gekürzt. Die Vollversion des Interviews finden Sie hier)

Stephan Rist ist Agrarwissenschaftler und war bis 2021 Professor für Humangeographie an der Uni Bern. Zuvor arbeitete er neun Jahre als Schweizer Ko-Direktor des Agrarökologie Programms der Universität Cochabamba in Bolivien. Heute gehört er zum Team der Akademie – Freiheit Lebenswerk (AFL)


[«1] Neuschöpfung des Vizepräsidenten: “caosmos” bezeichnet eine Kombination aus Chaos und Kosmos, also den ins “Chaos geratenen Kosmos”

[«2] Delgado Burgoa, J. and Rojas, C. S., 2021. Avances Teóricos Metodológicos y Experiencias de Diálogo Intercientifico en Países Andino Amazónicos. Ministerio de Educación, La Paz, Bolivia. Download

[«3] Wortschöpfung in Spanisch. In Anlehnung an das Aymara eine Integration der beiden Begriffe corazón (Herz) und razonar (Nachdenken)

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