Mehr als sechs Jahre nach dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt laufen immer noch Ermittlungen. Die offizielle Version vom Alleintäter Anis Amri ist spekulativ und verhindert vor allem die tatsächliche Aufklärung. Manche Manipulationen sind derart primitiv, dass sie einer Beleidigung der menschlichen Intelligenz gleichkommen. Womit wir nahtlos beim Anschlag vom Berliner Breitscheidplatz und der zweifelhaften Arbeit der Ermittlungsorgane wären. Von Thomas Moser.
Am Tat-LKW stellten die Ermittler in der Nacht vom 19. auf den 20. Dezember 2016 in einem Loch der vorderen äußeren Karosserie ein Mobiltelefon der Marke HTC sicher. Dieses Gerät, das dem angeblichen Attentäter Anis Amri gehört haben soll, gilt als eines der Beweisstücke für die Täterschaft des Tunesiers. Die Geodaten des HTC-Telefons sollen belegen, dass es am 19. Dezember 2016 zwischen 19:30 Uhr und 20 Uhr zur selben Zeit denselben Weg von Berlin-Moabit zum Breitscheidplatz in Berlin-Charlottenburg zurückgelegt hat wie der 40 Tonnen schwere Sattelschlepper. Mit diesem Gerät soll Amri während der Anfahrt sogar ein Gespräch mit einem Vertreter des IS (Islamischer Staat) geführt haben, der ihn im Tatentschluss ermutigt haben soll.
Die Irrwege eines Handys
Wie das Handy in das Loch der LKW-Karosserie gelangt ist, kann das BKA, die zentrale Ermittlungsinstanz, nicht sagen. Sicher ist, dass es durch den Aufprall auf die Buden des Weihnachtsmarktes nicht geschehen sein kann. Die Ermittler können lediglich vermuten, dass das Teil bei der Bergung des toten Speditionsfahrers aus der LKW-Kabine fiel und dann von jemandem in das Karosserieloch gesteckt worden sei – die reine Spekulation.
Tatsächlich stellt das Handy im Gegenteil ein Beweisstück für eine Tat- und Tatort-Manipulation dar.
Nach weiteren Angaben der Ermittler sollen die Geodaten des Handys auch ergeben, dass es „nach dem Anschlag“ in einer Funkzelle im Wedding eingeloggt war, wo sich in der Freienwalder Straße die Wohnung befand, in der Amri mit drei anderen Männern zusammengewohnt hatte. Eine genaue Uhrzeit oder ein Zeitraum werden nicht genannt.
Die Wegmarken des HTC-Handys am Abend des 19. Dezembers 2016 wären demnach also gewesen: Anfahrt LKW zum Breitscheidplatz, danach Amris Wohnung im Wedding, danach wieder Breitscheidplatz und LKW-Karosserie.
Und die Fragen, die sich aus dieser Geschichte ergäben, wären unter anderem folgende: Wer brachte das Handy nach dem Anschlag vom Breitscheidplatz in den Wedding und warum? Wer brachte es anschließend vom Wedding wieder zum Breitscheidplatz, und wer steckte es in die LKW-Karosserie? War das ein und dieselbe Person? War es Amri? Waren es mehrere Personen?
Einzeltäter oder mehrere Beteiligte?
Die Frage nach mehreren Beteiligten am Tatgeschehen stellt sich genau besehen bereits für die Anfahrt des LKW zum Breitscheidplatz. Hatten zwei Personen den LKW in ihre Gewalt gebracht, eine lenkte ihn, die andere bediente das Handy? Dazu passt, dass zwei Zeugen gesehen haben wollen, wie der LKW beim Bahnhof Zoo noch einmal anhielt und ein Mann ausstieg, ehe das Fahrzeug den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche ansteuerte. Vielleicht befand sich das Handy auf der Anfahrt zum Breitscheidplatz zwischen 19:30 Uhr und 20 Uhr aber gar nicht im LKW, sondern in einem Begleitfahrzeug vor oder hinter ihm. Auch dann gab es mehrere Beteiligte.
Wir brauchen für die alternative Tatgeschichte keine Verschwörungstheorie, geheime Akten oder anonyme Hinweisgeber. Sie basiert auf den Aussagen von Zeugen des BKA in den Untersuchungsausschüssen und ergibt sich aus dem Bericht des Abgeordnetenhauses von Berlin: öffentliche Quellen also, für jedermann nachvollziehbar. Im Ausschussbericht des Abgeordnetenhauses findet sich auf Seite 747 der Satz: „Die Auswertung der Geodaten des HTC-Handys von Amri weisen darauf hin, dass er nach dem Anschlag in seiner Wohnung gewesen sein muss.“ Urheber des Satzes ist das Bundesinnenministerium, und da es um Ermittlungserkenntnisse geht, kommt als Quelle nur das BKA in Frage.
Es ist das eigene Ermittlungsmaterial des BKA, das die offizielle Version vom Anschlag auf dem Breitscheidplatz und dem Alleintäter Amri widerlegt. Was wir vorfinden, ist schlimmer als eine Verschwörungstheorie: Es ist die Beschreibung einer Verschwörungspraxis.
Mit dem Beweismittel HTC-Handy liegt jedenfalls eine Tatortmanipulation vor. Und die Frage nach der Person, die es vom Wedding zum Breitscheidplatz in Charlottenburg gebracht hat, ist genau genommen eine nach der Tätergruppierung sowie nach der Beteiligung bundesdeutscher Sicherheitsstellen. Hinter dem Terroranschlag mit 13 Toten und Dutzenden Verletzten steht offensichtlich eine Operation – eine, an der mehrere Täter beteiligt waren, inklusive V-Leute der verschiedensten Sicherheitsbehörden. In der später aufgelösten Fussilet-Moschee, von der aus der Anschlag geplant und durchgeführt wurde, waren unter den 40, 50 Moscheegängern mindestens sieben V-Leute von mindestens vier Sicherheitsorganen.
Beeinflussung der Ermittlungen von Anfang an
Wie die Manipulationen im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Tatgeschehen, so stand auch am Anfang der Aufklärung des Anschlags eine Manipulation. Nachdem Anis Amri als alleiniger Täter festgelegt worden war, wurde die Amri-Akte im LKA durch die Sachbearbeiter verändert, indem die strafbaren Erkenntnisse über ihn abgeschwächt und seine Komplizen aus den Akten eliminiert wurden. Aus einem gefährlichen Gruppentäter wurde ein weniger gefährlicher Einzeltäter gemacht.
Die Manipulationen durchziehen den Anschlagskomplex komplett. Selbst nachdem der Untersuchungsausschuss des Bundestags im Frühjahr 2021 seine Beweiserhebung abgeschlossen und die öffentlichen Sitzungen beendet hatte, musste er noch einmal auf bittere Weise feststellen, dass selbst er manipuliert worden war. Die Abgeordneten schrieben seit Wochen am Abschlussbericht, Mitte Juni sollte dieser dem Bundestagspräsidenten übergeben werden, als das Bundesinnenministerium Anfang Mai mitteilte, im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) habe man Akten übersehen, die für den Ausschuss bestimmt gewesen seien. Ende Mai und sogar noch Anfang Juni wiederholte sich die Demütigung der Legislative durch die Exekutive weitere zwei Male. Zig Ordner mit Tausenden von Seiten wurden so spät geliefert, dass die Abgeordneten damit nicht mehr arbeiten konnten. Der Sicherheitsapparat demonstrierte dem Parlament, dass dessen Erkenntnisse unvollständig sind und sein Untersuchungsbericht wertlos ist. Er zeigte, wer die Macht im Staat hat.
Immerhin entdeckten aufklärungsinteressierte Ausschussmitglieder bei der schnellen Durchsicht der Akten, dass es in der Fussilet-Moschee einen zweiten V-Mann des BfV gegeben hat. Mehrere ranghohe Zeugen des BfV hatten geschworen, es habe nur eine Quelle gegeben.
Diese eine Quelle beschäftigte sogar das Bundesverfassungsgericht. Weil das Innenministerium weder den Klarnamen der Quelle noch den Namen ihres Führungsbeamten herausgeben wollte, riefen drei Fraktionen das oberste deutsche Gericht an. Das jedoch entschied pro Verfassungsschutz und pro Bundesinnenministerium. Der Quellenschutz gehe vor, ansonsten sei das Staatswohl in Gefahr. Wenn man dann allerdings erfährt, dass es um mindestens zwei Quellen in der Moschee ging, von der aus der Anschlag organisiert wurde, heißt das nichts anderes, als dass das Bundesverfassungsgericht vom Bundesverfassungsschutz und der Bundesregierung getäuscht und missbraucht wurde. Der Geheimdienst hat der Staatsgewalt Justiz sein Wissen vorenthalten und auch ihr gegenüber seine Dominanz demonstriert.
Die Hinterlassenschaften Anis Amris
Damals, im Frühjahr 2021, machte der Vertreter der Bundesanwaltschaft in der letzten öffentlichen Ausschusssitzung Ende März die überraschende Ankündigung, dass die Asservate von Anis Amri, die in Italien lagerten, weil der angebliche Attentäter dort vier Tage nach dem Anschlag, am 23. Dezember 2016, ums Leben kam, nach Deutschland geholt werden sollen, um hier kriminaltechnisch untersucht zu werden.
Die Bundesanwaltschaft als federführende Ermittlungsbehörde reagierte damit auf die im Ausschuss wie unter Opfern zunehmende Skepsis gegenüber der Korrektheit der Ermittlungen wie der Einzeltäterschaft von Amri.
Die Amri-Asservate bestehen aus den Kleidungsstücken und anderen Gegenständen, dem Rucksack, aber vor allem auch aus der Pistole der Marke Erma, mit der der polnische Speditionsfahrer erschossen worden sein soll und mit der Amri auf die beiden italienischen Polizisten geschossen haben soll, die dann ihn getötet haben.
Der Vertreter der Bundesanwaltschaft begründete die Untersuchung der Asservate in Deutschland damit, es solle ausgeschlossen werden, dass jemand anderes als Amri der Täter war. Man wolle aber auch Legendenbildungen vorbeugen, unter denen die Opfer und Hinterbliebenen leiden würden.
Der angestrebte Zweck muss sich allem Anschein nach schwieriger als gedacht erwiesen haben. Bis heute präsentiert die Karlsruher Behörde kein konkretes Ergebnis. Zunächst erfuhr man noch im Jahr 2021 lediglich, dass die Asservate in Deutschland vorlägen und „derzeit kriminaltechnisch untersucht“ würden. Dann erfuhr man eineinhalb Jahre lang gar nichts mehr. Jetzt, im April 2023, teilt die Behördensprecherin auf Nachfrage mit, dass die „Untersuchung der aus Italien übersandten Asservate inzwischen vorläufig [sic!] abgeschlossen“ wurde. Und dann folgt der Satz: „Ich bitte um Verständnis, dass wir uns angesichts der insgesamt fortdauernden Ermittlungen zu Einzelheiten nicht äußern.“
Beleg, dass Amri der Täter war? Widerlegung von Legenden? Was für Ermittlungen dauern noch fort? Jene im Zusammenhang mit einer gemeinsamen Operation mehrerer Verfassungsschutzämter unter dem Namen „Opalgrün“, hinter der sich mutmaßlich die Verstrickung der Organisierten Kriminalität in den Anschlag verbirgt? Oder handelt es sich um anhaltende Ermittlungen zur Tatwaffe Erma? Sie soll, was bisher aber weder bestätigt noch verneint wurde, in gesäubertem Zustand vorliegen. Das hieße, dass an der Pistole Spuren verwischt wurden.
DNA mehrerer Personen an der Tatwaffe
Die Waffe war aus Ermittlersicht von Anfang an ein brisantes und widersprüchliches Beweismittel. Amri hatte sie zwar in seinem Besitz, neben seiner DNA und der DNA des polnischen Speditionsfahrers fanden sich aber noch DNA-Spuren von zwei weiteren Personen: Eine war bisher nicht identifiziert, die andere gehört Kamel A., dem Hauptmieter der Wohnung, in der Amri bis zum Anschlagstag gewohnt hatte.
Seltsamerweise zählt Kamel A. trotzdem nicht zu den Tatverdächtigen. Allerdings hat das BKA die Ermittlungsakte zu ihm frisiert. Im Januar 2017 war festgestellt worden, dass sich an der Tatpistole DNA von Kamel A. fand. Er muss daraufhin von den Ermittlern damit konfrontiert worden sein. Diese Vernehmung fehlt aber in den Unterlagen. Im selben Monat, Januar 2017, hielten die Ermittler Kamel A.s Mitbewohner Khaled Abdeldaim, der sich mit Amri das Zimmer teilte, vor, Kamel A. habe von der Waffe gewusst. Abdeldaim erklärte, er habe aber nicht davon gewusst.
In den vorliegenden Akten gibt es fünf Vernehmungen mit Kamel A. Die fünfte und letzte wurde im Januar 2018 durchgeführt. Dabei wird ihm erklärt, seine DNA sei an der Pistole gefunden worden. Und Kamel A. erklärt, er habe die Waffe noch nie gesehen. Diese fünfte Vernehmung erscheint wie eine Konstruktion.
Tatsächlich wurde Kamel A. insgesamt sechs Mal vernommen. Das erklärte der zuständige Ermittler des BKA im April 2021 jedenfalls im Untersuchungsausschuss von Nordrhein-Westfalen, nachzulesen im Ausschussbericht. Eine sechste Vernehmung gibt es aber in den Unterlagen nicht. Es müsste sich um jene vom Januar 2017 handeln, in der A. mit dem Fund seiner DNA an der Pistole konfrontiert wurde. Das aber würde bedeuten, dass das BKA jene Vernehmung aus den Akten genommen hat und ein Jahr später, angesichts der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse, eine neue Vernehmung konstruiert und in die Akten eingefügt hat.
Hängen die Schwierigkeiten der Bundesanwaltschaft, sich zu den Ergebnissen der Untersuchung von Amris Asservaten und der Tatpistole zu äußern, etwa mit diesen Manipulationen zusammen?
Terrortaten können nützlich sein, wenn man Polizeigesetze verschärfen oder Landesgrenzen schließen möchte. Sie sind unangenehm, wenn man Täter ermitteln muss und dabei feststellt, dass staatliche Stellen ihre Finger im Spiel haben – inklusive der eigenen.