Revolte auf Rügen. Die Bewohner der Ostseeinsel wehren sich mit Macht gegen Pläne zum Bau eines LNG-Terminals unweit der berühmten Kreidefelsen. Die Ampelregierung will davon bis zu zwölf an Deutschlands Küsten hochziehen, obwohl der Markt mit Flüssiggas überschwemmt, die Speicher gut gefüllt und die Preise im Keller sind. Ein Rechtsgutachten von Umweltschützern konstatiert Verfassungsbruch und den Aufbau von Überkapazitäten zum Schaden des Klimas. Wirtschaftsminister Habeck macht das nicht heiß und kauft auch gleich die nötigen Pipelinerohre – von Putin. Von Ralf Wurzbacher.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download
Majestätisch und weiß strahlen die Kreidefelsen am Königsstuhl – und in Sichtweite verschandelt ein monströses LNG-Terminal vor Sassnitz Idylle, Küste und Meer. Schöne Aussichten? Nicht für jeden. Die Bewohner von Rügen laufen Sturm gegen Pläne der Bundesregierung, auf oder nahe der Ostseeinsel eine Anlage zur Regasifizierung von Flüssiggas (Liquefied Natural Gas) zu errichten. Seit Monaten ziehen sie alle Register: Demonstrationen, Umfragen, Petitionen, Brandbriefe. Am vergangenen Donnerstag machen sie zu Hunderten Rabatz, als der Bundeskanzler und sein Vize zur Stippvisite anrücken. Gemeinsam wollen sie den Menschen erklären, warum das Projekt so wichtig ist und kein Weg daran vorbeiführt.
Als Olaf Scholz (SPD) und Robert Habeck (Grüne) im Mercedes vor dem Tagungshaus in Binz vorfahren, hebt ein lautes Pfeifkonzert an, Buh- und Pfuirufe ertönen, auf Plakaten prangt „Keine Lügen auf Rügen“. Der Besuch ist freilich nur einer für die Kamera. Man mimt den Kümmerer und tut so, als nehme man die Sorgen ernst. Die Einheimischen fürchten um ihr größtes Wirtschaftsgut, den Tourismus, den berühmten Ostseebädern drohe die Aberkennung. Aber auch der Hering, die Schweinswale und die Wasserqualität würden durch das Industrieungetüm und den künftigen Tankerverkehr leiden. Wird schon alles nicht so schlimm und man unterstütze die Insel nach Kräften, beteuern die Gäste aus Berlin. Umsonst. Mit ihren Argumenten überzeugen sie keinen, die einfachen Leute so wenig wie die politischen Vertreter vor Ort. Als die Prominenz wieder abschiebt, sind sich alle einig: „Der Kampf geht weiter!“
Gasmarkt pappsatt
Die Vorgänge sind von starker Symbolik. An ihnen zeigt sich, dass die LNG-Strategie der Ampelregierung nicht mehr so verfängt wie am Anfang, als unter dem Eindruck des russischen Einmarschs in der Ukraine alle Ja und Amen sagten zum großen Masterplan, sich aus der Energieabhängigkeit von Moskau zu befreien. Vor allem ist inzwischen der Druck der Mondpreise raus aus dem Kessel. Der Gaspreis befindet sich seit vier Monaten im Sinkflug, in diesen Tagen wird eine Megawattstunde an der Börse in Rotterdam mit knapp über 40 Euro gehandelt, im Dezember waren es noch hundert Euro mehr. Die Welt ist überschwemmt vom Frackinggas aus den USA. Es wurde einfach viel zu viel davon eingekauft, niemand weiß mehr, wohin mit dem ganzen Zeug. Das geht so weit, dass auf den Meeren LNG-Tanker ziellos umherirren, weil sie keine Abnehmer für ihre Fracht finden.
Das alles muss zwar nicht so bleiben. Aber fürs erste ist der Markt pappsatt, was für die Jahreszeit eine absolute Besonderheit ist. Wie in der Vorwoche die Berliner Zeitung schrieb, haben die europäischen Gasspeicher ihr aktuelles Niveau schon elf Wochen früher erreicht als 2021. Hierzulande liegt der Pegel bei 65 Prozent und damit 22 Prozentpunkte über dem Durchschnitt der Jahre 2017 bis 2021. In Spanien, wo sich die meisten LNG-Terminals in Europa befinden, sind die Speicher bereits zu 85 Prozent gefüllt. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass der deutsche Gasbedarf auf längere Perspektive gedeckt sein wird. Selbst unter Annahme eines Extremsommers, in dem viel Gas zum Kühlen gebraucht würde, und eines langen frostigen Winters ist keine Gasmangellage in Sicht.
Riesige Umweltsauerei
Das alles spricht sich herum und wirft Fragen auf, welchen Sinn es macht, immer mehr LNG-Terminals an deutschen Küsten hochzuziehen. Bis dato sind zwei in den Regelbetrieb gegangen, eines in Wilhelmshaven an der Nord- und das in Lubmin bei Greifswald an der Ostsee. Die Anlage in Brunsbüttel befindet sich noch im Testbetrieb. Daneben will die Regierung aber bis zu neun weitere Standorte klarmachen, also insgesamt zwölf bis zum Jahr 2026, um, wie sie vorgibt, „die Energieversorgung in Deutschland sicherzustellen“. Damit die Sache reibungslos und rasch über die Bühne geht, hatten SPD, Grüne und FDP im Mai des Vorjahres im Schweinsgalopp das sogenannte LNG-Beschleunigungsgesetz (LNGG) beschlossen. Das Regelwerk nötigt Behörden und Gerichte dazu, die Projekte möglichst anstandslos durchzuwinken, um so auch Proteste von Anwohnern und Naturschützern kleinzuhalten.
Tatsächlich ist die LNG-Industrie eine riesige Umweltsauerei, was im Fall von Frackinggas mit der Verseuchung von Böden und Gewässern beim Gewinn des Rohstoffs beginnt. Durch die im Gefolge des Ukraine-Kriegs massiv ausgeweitete Verschiffung werden auf den Weltmeeren Unmengen an Treibstoffen verpulvert. Mit dem Bau der Terminals und dem der angeschlossenen Pipelines gehen massive Eingriffe in die umliegenden Ökosysteme an Land und zu Wasser einher. Und schließlich werden im laufenden Betrieb riesige Mengen an toxischen Abwässern ins Meer verklappt. Von Wilhelmshaven ist bekannt, dass das Regasifizierungsschiff Höegh Esperanza seine Anlagen mit einer chlorhaltigen Flüssigkeit reinigt und anschließend ins Meer entsorgt. Der Betreiber Uniper hat die behördliche Genehmigung zur Einleitung von bis zu 35,6 Tonnen Chlor im Jahr. In Australien wurde der Höegh Esperanza 2019 als „besondere Dreckschleuder“ in ähnlichem Revier der Zugang verweigert. Der grüne deutsche Bundeswirtschaftsminister Habeck zeigt in dieser Hinsicht keinerlei Berührungsängste.
Heiße Luft vom Wirtschaftsminister
Andererseits gibt Habeck aber den Vorkämpfer für Wärmepumpen und will Hausbesitzer qua Gesetz zum Verschrotten ihrer Gasheizungen drängen. Wie die Berliner Zeitung am zurückliegenden Donnerstag aufzeigte, hat sein Agieren allerhand Widersprüchliches. Denn die Umweltbilanz von Gasheizungen werde durch den massenhaften Zukauf von Flüssiggas deutlich verschlechtert. Vorgerechnet hat dies in dem Beitrag Benjamin Sahan, Professor für Elektro- und Informationstechnik an der Hochschule Hannover. Auf Basis des damals noch überwiegend russischen Pipelinegases lag demnach der CO₂-Ausstoß vor dem Ukraine-Krieg bei 201 Gramm pro Kilowattstunde (kWh). Beim Frackinggas erhöht sich der Wert auf 300 Gramm CO₂, weil bei der Produktion Treibhausgase wie Methan und giftige Luftschadstoffe freigesetzt werden, ebenso beim Transport.
Dass der Minister einerseits LNG-Gas in großem Stil anlandet und zugleich den Menschen vorschreibt, ihre Heizung auszutauschen, offenbare „eine gewisse Doppelmoral“, befand die Autorin des Artikels. Man könnte es auch gut mit Habeck meinen: Er sorgt mit seiner ganz speziellen Art der „Energiewende“ für noch mehr Druck zum Umstieg. Ehrlich betrachtet läuft sein Treiben freilich nicht einmal auf ein Nullsummenspiel hinaus. Während das schmutzige Frackinggas schon jetzt in Massen durch Heizungsrohre strömt und Fabriken befeuert, ist ein großflächiger Wärmepumpenbetrieb ferne Zukunftsmusik. Schließlich fehlt es dafür noch auf lange Sicht an so ziemlich allem: an Wärmepumpen selbst, an Handwerkern und ausreichend Strom aus erneuerbaren Energien.
Gazprom liefert
Vielleicht kommt demnächst noch eine Leerstelle hinzu. Ein am Donnerstag veröffentlichtes Rechtsgutachten der Umweltorganisationen Green Legal Impact (GLI) und ClientEarth in Zusammenarbeit mit dem Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) wirft erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des LNG-Beschleunigungsgesetzes auf. So sei der veranschlagte Bedarf „unvollständig beziehungsweise unzutreffend ermittelt worden“, erklärte GLI-Rechtsexpertin Marie Bohlmann und weiter: „Es ist zu befürchten, dass der Klimaschutz bei Entscheidungen von Behörden und Gerichten gerade aufgrund des LNGG zu kurz kommt und dadurch Überkapazitäten aufgebaut werden.“ Wie Paula Ciré von ClientEarth ergänzte, verstoße der Gesetzgeber gegen seine verfassungsrechtlichen Pflichten, die Klimakrise zum Schutz von Leben und Gesundheit effektiv zu bekämpfen. „Für andere Staaten wird ein Anreiz gesetzt, fossile Gasgewinnung weiterzuführen oder sogar auszuweiten. Das ist nicht mit dem Grundgesetz vereinbar.“
Bleibt abzuwarten, ob die oberste Gerichtsbarkeit das genauso sieht, und wann sie sich des Falles annimmt. Bis dahin drohen, Fakten geschaffen zu werden und irreversible Schäden, demnächst womöglich vor Rügen. Der Energiekonzern RWE steht bereits in den Startblöcken, um zwei schwimmende Plattformen in Küstennähe in den Meeresboden zu rammen. Das Gas soll dann in Zukunft über eine gut 40 Kilometer lange Pipeline nach Lubmin geführt und von dort ins Netz eingespeist werden. Das Material dafür hat Habeck schon eingekauft: Röhren, die beim Bau der mittlerweile zerstörten Ostseepipeline Nord Stream 2 übrig geblieben sind. Verkäufer: Russlands Staatskonzerns Gazprom. Kein Witz, eher so was wie Realpolitik …
Titelbild: Fly Of Swallow Studio/shutterstock.com