Der Ukraine-Krieg bestimmt weiter die Schlagzeilen. In der westlichen Wahrnehmung sind die Rollen klar verteilt: Kiew ist gut, Moskau ist böse; die blau-gelbe Fahne steht für Freiheit, das ominöse russische Zeichen „Z“ für Unterdrückung. Diese Darstellung wird der Komplexität des Konflikts nicht gerecht, weshalb die beiden Publizisten Hannes Hofbauer und Stefan Kraft einen Sammelband vorgelegt haben, in dem Motive und Folgen des gegenwärtigen Krieges jenseits von Propaganda objektiv diskutiert werden. Eine Rezension von Eugen Zentner.
Als Autoren konnten die Herausgeber zahlreiche fachkundige Persönlichkeiten aus den verschiedensten Bereichen gewinnen – ausgewiesene Russland-Kenner wie Boris Kagarlitsky etwa, den Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko (Die Linke), die ethnische Ukrainerin und Medienwissenschaftlerin Olga Baysha oder den „NachDenkSeiten“-Redakteur Florian Warweg. In ihren Beiträgen beleuchten sie verschiedene Aspekte des Konflikts – sowohl historische als auch soziale, wirtschaftliche wie geopolitische. Sie nehmen die Beteiligung des westlichen Bündnisses unter die Lupe, analysieren den Gang des Krieges und skizzieren dessen Vorgeschichte. Dazu gehört unter anderem ein differenzierter Blick auf die ukrainische Staatsbildung, mit der sich unter anderem die österreichische Wissenschaftlerin Andrea Komlosy auseinandersetzt. In ihrem Beitrag akzentuiert sie die historischen Momente und konzentriert sich auf den Zeitraum 1917 bis 1920, als sich im Zuge des Ersten Weltkriegs und der Russischen Revolution „gleich mehrere ukrainische Staaten“ herausgebildet hätten.
Eine andere Zeitenwende
Zeitlich weit zurück geht auch Autor Peter Wahl, der den zum geflügelten Wort gewordenen Begriff „Zeitenwende“ aufgreift, ihn jedoch anders unterfüttert als der deutsche Bundeskanzler: Es handle sich eher um einen Ausklang einer 500-jährigen Epoche von Kolonialismus, Imperialismus und Neo-Kolonialismus, „in der zuerst Westeuropa und später sein nordamerikanischer Ableger dem Rest der Welt seinen Willen diktieren konnte“. Washington sei jedoch nicht bereit, seinen globalen Führungsanspruch aufzugeben, und instrumentalisiere Europa für die eigenen Zwecke. Auf diesem Gedanken beruht auch der Beitrag des Herausgebers Hannes Hofbauer, der vom EU-Gipfel in Vilnius 2013 bis zum Friedensabkommen von Minsk 2015 nachzeichnet, „wie sich Europa auf die Konfrontation mit Russland vorbereitete“.
Hervorgehoben wird dabei die Rolle der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel, die kurze Zeit später praktisch zugegeben habe, dass Kiew mit dem Vertrag von Minsk Zeit verschafft werden sollte, „um sich hochzurüsten und seine Armee mit rechtsradikalen Paramilitärs verschmelzen zu können, damit diese irgendwann erfolgreich gegen die abtrünnige, von Sezessionisten geführte russische Bevölkerung im Donbass marschieren kann“. Merkel habe offensichtlich schon 2015 gewusst, dass es sich um eine Falle für Moskau handle, „mehr noch, sie hatte diese Falle selbst und bewusst ausgelegt“.
Folgen der Sanktionspolitik
Während Hofbauer auf die Vorgeschichte des Krieges eingeht, widmet sich der ehemalige Bundeswehr-Offizier Jochen Scholz stärker den Folgen, indem er die Sanktionspolitik in den Blick nimmt. Seine Schlussfolgerung hört sich alarmierend an: „Wie auch immer der Ausgang in der Ukraine sein wird, eines ist sicher: Die wirtschaftlichen Auswirkungen werden in den kommenden Jahren für alle spürbar sein, da sich die Welt zwischen dem Westen und einem sich rasch neuformierenden Eurasien aufteilt.“ Besonders hart werde es den Europäischen Wirtschaftsraum treffen, wo Scholz nicht nur einen massiven Wohlstandsverlust mit steigender Arbeitslosigkeit und wegbrechenden Absatzmärkten befürchtet, sondern auch soziale Spannungen und Unruhen. Allerdings sieht er in dieser Krisensituation auch Chancen: „Erst die durch die Folgen der Sanktionen abzusehenden innenpolitischen/gesellschaftlichen Verwerfungen dürften einen Umdenkprozess einleiten und die Erkenntnis befördern, dass Europa, ‚als westliche Halbinsel Groß-Eurasiens‘, nur dann eine unabhängige Zukunft haben kann, wenn darauf hingearbeitet wird, mit den Staaten dieses riesigen Kontinents eine gedeihliche politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit zu gestalten.“
Eine andere Art von Kriegsfolgen führt Thomas Fazi vor Augen und zieht dabei Parallelen zum Umgang mit der Corona-Thematik, bei dem ebenfalls von „Krieg“ gesprochen wurde. Der Autor sieht die Gefahr eines aufkommenden „Krisenkapitalismus“. Dieser beruhe auf einer Ausnutzung und Konstruktion einer endlosen Reihe von Krisen, wodurch der westliche Kapitalismus, so die These, einen permanenten Ausnahmezustand schaffe: „In einem solchen System stellt die ‚Krise‘ keine Abweichung von der Norm mehr dar; sie ist die Norm, der grundsätzliche Ausgangspunkt für jede Politik.“ Als Blaupause für dieses „autoritäre Management der westlichen Gesellschaften“ führt Fazi den Krieg gegen den Terror nach dem 11. September 2001 an und veranschaulicht daraufhin, wie die Covid-19-Pandemie und der gegenwärtige Ukraine-Krieg den Trend zu zunehmend konzentrierten und oligarchischen Formen der Macht beschleunigt haben. In der Zukunft dürfte sich eine Situation ergeben, „die durch einen permanenten Krisen-/Notstands-/Kriegszustand gekennzeichnet ist“.
„Russki Mir“ – Zusammenführung der russischen Welt
Ein besonders lesenswerter Beitrag stammt von Mitherausgeber Stefan Kraft, der darin demonstriert, dass der Sammelband nicht bloß Russland-Apologetik betreibt. Kritisches Schlaglicht fällt vor allem auf den Präsidenten Wladimir Putin. Kraft seziert dessen Rede vom 24. Februar 2022, in der die „militärische Spezialoperation“ gegen die Ukraine begründet wurde, und bringt sie in Verbindung mit Aussagen von Rosa Luxemburg und Lenin. Diese Bezüge dienen dazu, ein Konzept vorzustellen, das in Putins Politik einen großen Stellenwert einnehmen soll: die Zusammenführung der „russischen Welt“ (Russki Mir). Innerhalb dieses Gedankengebäudes habe es für den russischen Präsidenten keine Bedeutung, so Kraft, „ob es tatsächlich eine historisch geformte Idee einer von vielen Menschen getragenen ukrainischen Nation gab, sondern vielmehr, dass so eine Idee im Widerspruch steht zu einem historischen Russland und somit nicht verwirklicht werden darf“.
Für Putin sei die moderne Ukraine ausschließlich ein Produkt der Sowjetära. „Wir wissen und erinnern uns gut daran, dass sie – zu einem großen Teil – auf dem Gebiet des historischen Russlands entstanden ist“, wird dessen genauer Wortlaut wiedergegeben. In diesen Aussagen entdeckt Kraft jedoch gewisse Widersprüche. Einerseits werde ein positiver Bezug auf die Sowjetunion genommen. Andererseits stehe die „Russki Mir“ eindeutig für ein Russland vor der Errichtung der Sowjetunion, mit der die nationale Überheblichkeit ein Ende finden sollte. „Putin gelingt es,“, schlussfolgert der Autor, „diese Widersprüche zu verbinden und in der Außenpolitik die russische Nation als antiimperialistisches Land zu inszenieren.“
Spielball im geopolitischen Ringen zwischen Ost und West
Wie dieser Beitrag veranschaulichen auch die restlichen Texte des Sammelbandes, wie die Ukraine zum Spielball im geopolitischen Ringen zwischen Ost und West geworden ist. Untermauert wird das unter anderem anhand von Ereignissen wie der NATO-Osterweiterung, dem Erstarken (neo)faschistischer Kräfte oder der Nord-Stream-Sprengung. Die Schilderungen beruhen auf ausgiebigen Recherchen, wie sofort erkennbar wird. Die Autoren gehen teilweise sehr ins Detail, so wie der Schweizer Ralph Bossard, der seit 2022 als freiberuflicher Analytiker für polit- und militärstrategische Fragen tätig ist. Dass er sein Handwerk beherrscht, beweist sein Beitrag auf eindrucksvolle Weise. Darin schildert er den bisherigen Kriegsverlauf in der Ukraine und fördert Informationen zutage, die selbst kritischen und kundigen Beobachtern des Konflikts unbekannt sein dürften, geschweige denn den Stammlesern hiesiger Leitmedien.
Allerdings zieht Bossard ein Fazit, dass das westliche Narrativ stützt: „Mit der Annexion der vier Oblaste Cherson, Saporischschja, Donezk und Lugansk hat der Kreml die sprichwörtliche Katze aus dem Sack gelassen und gezeigt, worum es ihm letzten Endes wirklich ging, nämlich die Umsetzung der Neurussland-Konzeption (Novorossiya)“. Weitaus emotionaler als dieses analytisch-kritische Resümee klingen die Aussagen des Theologen und Psychoanalytikers Eugen Drewermann. Er bezeichnet Putins Krieg als Fehler: „Weil jetzt Russland alles das bekommt, was es mit dem Überfall auf die Ukraine verhindern wollte: Raketen in ungezählter Fülle, dicht bis an die Grenze. Die militärische Versorgung der Ukraine ist voll im Gange. Ob ein NATO-Staat daraus wird oder nicht, das Faktum ist längst eingeleitet. Alles, was verhindert werden sollte, steht jetzt da, die gesamte EU, Mann für Mann, die Hacken beieinander geschlagen. Die Gefolgschaft zu den USA, besser konnte es nicht kommen.“
Dadurch, dass der Sammelband einen differenzierten Blick auf den Konflikt liefert, gibt er die Möglichkeit, tief in das Thema einzutauchen und viel über dessen Teilaspekte zu lernen. Zumal die Autoren Informationen zusammentragen, die in den bisherigen Publikationen zum Ukraine-Krieg fehlen. Ob ihre Analysen und Schlussfolgerungen zutreffen, müssen die Leser selbst entscheiden. Die sehr unterschiedlichen Texte helfen jedoch dabei, den Konflikt genauer zu verstehen und sowohl die vergangenen als auch die kommenden Ereignisse besser zu beurteilen.