Das „zentrale sozialpolitische Projekt“ der Bundesregierung wird schon im Stadium der Anbahnung parteipolitisch so zerrieben, dass am Ende bestenfalls eine halbe Sache dabei herausspringen wird. Mit der FDP unter Parteichef und Finanzminister Lindner ist die Kindergrundsicherung nur billig zu haben – bei einem Maximum an digitalem Firlefanz. Grünen-Familienministerin Paus gibt die wackere Vorkämpferin sozialer Gerechtigkeit und für die SPD-Frontfrau Esken hat sich eine „wesentliche Erhöhung der Leistungen“ schon erledigt. Und der Bundeskanzler sagt gar nichts. Dabei wäre das Instrument, sofern richtig gemacht, ein echter Fortschritt. Dass es überhaupt kommt, erscheint längst nicht ausgemacht. Von Ralf Wurzbacher.
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Ja, es gibt es wirklich – ein Vorhaben, für das die Ampelparteien zu loben sind beziehungsweise wären, so es denn am Ende umgesetzt würde. Aber noch wabert eben der Konjunktiv über dem, was die hauptzuständige Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) das „zentrale sozialpolitische Projekt“ der Bundesregierung nennt: die sogenannte Kindergrundsicherung. Diese könnte tatsächlich das Zeug zu einem „Neustart der Familienförderung“ haben, wie im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP geschrieben steht. Und weiter: Das Instrument werde „bisherige finanzielle Unterstützungen (…) in einer einfachen, automatisiert berechneten und ausgezahlten Förderleistung bündeln“ und „ohne bürokratische Hürden direkt bei den Kindern ankommen und ihr neu zu definierendes soziokulturelles Existenzminimum sichern“.
Gewiss ein guter Vorsatz, gäbe es da nicht diese Ungewissheit in Gestalt der Freien Demokratischen Partei. Deren Vorsitzender Christian Lindner nimmt sich nämlich als amtierender Bundesfinanzminister seit Monaten die Freiheit, die Pläne seiner grünen Ministerkollegin zu durchkreuzen. Ihm sei das Ganze zu kostspielig, lässt er zu jeder Gelegenheit verlauten, wenngleich der Ansatz vom Prinzip her freilich zu begrüßen sei. Ob das mal so aufrichtig ist? Bekanntlich sind die Liberalen ja für vieles zu haben: für Steuererleichterungen – zum Wohle der Unternehmerschaft –, für weniger Regulierung, weniger Staat, „mehr Eigenverantwortung“, ja auch für Aufrüstung, Kriegstreiberei, US-Frackinggas und noch mehr Autos und Autobahnen. Aber für ein sozialpolitisches Rundumpaket mit dem Anspruch, das Los der hierzulande massenhaft in Armut lebenden Kinder und Jugendlichen zu erleichtern? Zweifel sind angebracht.
70 Prozent lösen Ansprüche nicht ein
Tatsächlich gilt jeder fünfte Heranwachsende in Deutschland als „armutsgefährdet“, was unbeschönigt heißt, die Betroffenen leiden Not – wirtschaftlich und, besonders folgenschwer, in puncto Bildungsteilhabe, womit sich ihre Chancenlosigkeit in der Regel verstetigt. Das liegt zuvorderst an einem kapitalistischen System, das beträchtliche Teile der Gesellschaft zum Vorteil seiner Profiteure vom Wohlstand ausschließt, aber auch an einem Sozialsystem, das den sozialen Unwuchten nur unzureichend beikommt. Die geplante Kindergrundsicherung würde die vielfältigen Problemlagen nicht lösen, aber könnte immerhin Abhilfe dabei schaffen, den Lebensweg von Kindern ein Stück unabhängiger zu machen von der ökonomischen Benachteiligung ihres Elternhauses.
Natürlich bedürfte es dafür in der Gesamtheit deutlich mehr Geld – in einem Umfang, der wirklich zur vollen Teilhabe an der Gesellschaft befähigt, indem zum Beispiel kein Kind ausgesondert wird, weil es sich die Teilnahme an schulischen Aktivitäten wie Exkursionen oder Klassenfahrten nicht leisten kann. Genau darauf zielen auch schon bestehende staatliche Transfers, allerdings nehmen viele diese Angebote nicht wahr, sei es aus Scham vor sozialer Ächtung oder schlicht aus Unwissenheit. Nach Paus’ Angaben nehmen heute „bis zu 70 Prozent aller Familien, die einen Anspruch auf Leistungen haben, diesen nicht wahr“.
Staatliche Servicepflicht
Hier setzt die Kindergrundsicherung an. Sie soll alle vorhandenen Sozialleistungen für Kinder zusammenfassen, wovon es eine ganze Menge gibt: Kindergeld, Kinderzuschlag, Leistungen zur Bildung und Teilhabe, Mutter-und-Kind-Hilfen, Unterhaltsvorschuss, steuerliche Entlastungen, Mutterschaftsgeld, Pflegeunterstützungsgeld, Elterngeld. Das seien so viele, dass laut Paus „selbst Expertinnen und Experten nicht mehr durchblicken“. Die wichtigste Neuerung neben deren Bündelung soll nun darin bestehen, die bisherige „Holschuld“ der Eltern durch eine „Bringschuld“ oder „Servicepflicht“ des Staates abzulösen. Dafür will die Ministerin „ein digitales Kindergrundsicherungsportal“ sowie den automatisierten und regelmäßigen „Kindergrundsicherungs-Check“ schaffen. Das System hält quasi Aufsicht über den Kreis der Betroffenen und schlägt Alarm, sofern Ansprüche nicht geltend gemacht werden. Damit erreiche es „alle Familienkonstellationen, auch die Mittelschicht“, so Paus. Denn: In eine finanzielle Schieflage zu geraten, könne jeden treffen, etwa im Falle einer Trennung, wodurch häufig gerade Frauen in Schwierigkeiten kämen.
Ob man für all das einen „digitalen Wachhund“ von der Leine lassen muss, sei dahingestellt. Allein der Aufbau der Technik dürfte reichlich Steuermittel, Energien, Zeit und Nerven kosten, wie in anderen Bereichen bewiesen. Zum Beispiel hatte es seinerzeit Monate gedauert, ein Portal zur Beantragung von „Überbrückungshilfen“ für Studierende zu installieren, die während der Corona-Krise ihren Job verloren hatten. Dasselbe Trauerspiel wiederholte sich beim Aufbau einer Plattform, über die Hochschüler an ihre 200-Euro-Energiepreispauschale gelangen können. Auch hierbei sollten sich die Antragsteller digital „nackig machen“ und einen Ladenhüter namens „BundID“ zwangsweise zu bislang ungeahnten Nutzerzahlen pushen. Erst später stellte sich heraus: Man hätte auch ohne den digitalen Striptease zu seinem Geld kommen können.
Hängepartie programmiert
Die Neigung unter ausnahmslos allen Regierenden, umfassende E-Government-Strukturen zu etablieren, dürfte einer der Gründe dafür sein, dass es auch mit der Kindergrundsicherung nur schleppend vorangeht. Obwohl Paus schon weit über ein Jahr Zeit hatte, die Dinge ins Rollen zu bringen, soll der Startschuss erst 2025 erfolgen. Im Herbst desselben Jahres wird der Bundestag neu gewählt – die Sache könnte also ziemlich knapp werden. Klar stellt es einen bürokratischen Kraftakt dar, eine Vielzahl an staatlichen Leistungen unter einen Hut zu bringen – noch dazu, wenn die Zuständigkeiten unterschiedlichster Ministerien berührt sind. Gleichwohl ruft es Argwohn hervor, wenn schon bei der politischen Anbahnung so viel Sand im Getriebe ist, dass eine Hängepartie unvermeidlich erscheint.
Erst zu Jahresanfang hatte Paus die Eckpunkte der Reform vorlegt. Weil dann das große Gezeter einsetzte, vorneweg mit Lindner als mahnendem Kassenwart, forderte vor drei Wochen das Saarland mit einer Bundesratsinitiative mehr Tempo von der Bundesregierung. Der Appell, „schnellstmöglich einen Referentenentwurf“ vorzulegen und mit dem Gesetzgebungsverfahren „dann umgehend“ zu beginnen, fand indes keine Mehrheit. Selbst SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert sprang der FDP zur Seite. „Ohne Geld wird es nicht gehen, aber wenn wir Begeisterung für die Kindergrundsicherung wecken wollen, sollten wir nicht nur von Milliardenbeträgen sprechen.“
FDP will‘s einfach und digital
Wovon sonst? Sollen künftig mehr Kinder ihre Ansprüche einlösen als heute, wird das ohne Frage teuer. Dazu kommt noch der erklärte Wille, gerade benachteiligte Familien mit steigenden Zuwendungen zu bedenken. Nach einem Zwei-Säulen-Modell soll es einen fixen Garantiebetrag für alle Kinder geben – mindestens in der Höhe des heutigen Kindergelds – sowie einen flexiblen einkommensabhängigen Zusatzbetrag. Umfassen soll dieser neben einer Kinderwohnkostenpauschale unter anderem ein deutlich aufgewertetes Paket für Bildung und Teilhabe, wobei bei all dem gelten müsse: „Wer wenig hat, bekommt mehr.“
Paus von den Grünen beziffert das Finanzvolumen mit zwölf Milliarden Euro, wogegen sich Lindner sperrt. Man bedenke, wofür beim Bund sonst das Geld sehr locker sitzt: für die Aufrüstung der Bundeswehr, für zweifelhafte Impfstoffe und Schutzmasken, die in Lagern verrotten. Und wenn mal eine Bank wackelt, laufen zwölf Milliarden Euro unter Peanuts. Bei Kindern denken die Regierenden kleinlicher. Der FDP-Chef hält lediglich eine Vereinfachung der Förderung bei gleichbleibender Leistungshöhe für möglich und verweist auf die gerade erst erfolgten Draufgaben beim Kindergeld und Kinderzuschlag. Und natürlich ist dem FDP-Chef die Digitalisierung ein Herzensanliegen, die hätte einen „unglaublich großen Nutzen“ und würde „mehrere Milliarden Euro zusätzlich an Hilfen für Familien auslösen“.
Scholz schweigt lauthals
Gesagt hat er dies am Mittwoch, als die Medien unisono verkündeten, die Kindergrundsicherung werde kommen. Zwar gebe es noch Differenzen, er sei aber „sicher“, dass das Projekt realisiert werde. Davon hänge auch die Glaubwürdigkeit der Regierung ab, befand am selben Tag Paus. „Es gibt eine riesige Unterstützung für das Vorhaben in der Bevölkerung. Und deswegen bin ich sicher: Wir werden das schaffen.“ Fragt sich bloß, wann und in welcher Form. Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken wusste schon Anfang April, dass sich eine „wesentliche Erhöhung der Leistungen“ erledigt habe, wie damals Tagesschau.de schrieb, um tags darauf zu titeln: „Das Schweigen von Scholz ist dröhnend laut“. Vom Kanzler ist bis dato in der Tat noch kein flammendes Bekenntnis zu dem Vorhaben überliefert. Sind ihm durch irgendetwas die Hände gebunden? Oder plagen ihn in der Angelegenheit auch Erinnerungslücken?
Derweil versuchen es Sozialverbände und Gewerkschaften mit Appellen. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hatte bereits 2020 ein eigenes Modell vorgelegt. „Eine gute Kindergrundsicherung muss aber Kinder so gut ausstatten, dass ein gutes Aufwachsen, Lernerfolge und Chancengleichheit möglich sind“, äußerte sich zuletzt Bundesvorstandsmitglied Anja Piel. „Das ist eben nicht aus der Portokasse zu finanzieren.“ Ihr Rezept: „Indem große Vermögen und sehr hohe Einkommen für solche gesamtgesellschaftlichen Aufgaben endlich stärker herangezogen werden.“ Mit Christian Linder? Mit Olaf Scholz? Kann man vergessen!
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