Der französische Verfassungsrat hat sein Urteil über die Rentenreform des Staatspräsidenten Emmanuel Macron gefällt. Mit seiner Billigung eines Großteils des Gesetzes ist der legale Weg zur Verabschiedung des Gesetzes beendet. Allerdings ist die Art und Weise, wie der Staatspräsident und seine Premierministerin die Durchsetzung der Erhöhung des Mindestrenteneintrittsalters durchgesetzt haben, der Grund dafür, dass der gesellschaftliche Widerstand und die Proteste in Frankreich nicht abreißen. Denn einmal mehr wurden die anachronistischen und undemokratischen Strukturen der V. Republik sichtbar. Ein Bericht von Sebastian Chwala.
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Nicht nur die Tatsache, dass es der Regierung möglich ist, ohne jede parlamentarische Beteiligung und Kontrolle zentrale Gesetzesprojekte zu erlassen, empört die Franzosen. Auch passiert dies in einer politischen Gemengelage, in der der Staatspräsident Macron keine eigene politische Mehrheit mehr besitzt und nur noch anhand der Sondervollmachten der französischen Verfassung, die zwischen 1958 und 1962 unter der Ägide des Präsidenten und starken Mannes Charles de Gaulle ausgearbeitet worden war, sein Lager an der Macht hält. Über ein halbes Jahrhundert später ist die politische Krise im Land zwar ähnlich groß wie zu Beginn der Machtübernahme de Gaulles, allerdings ist der Ruf nach einem starken Mann verstummt. Vielmehr wird heute die Forderung nach einer Rückgabe der Souveränität an das französische Volk immer lauter.
Die Allianz zwischen Macron und dem Verfassungsrat
Ihren Zweifel an der Ablehnung des Gesetzes durch die sogenannten „Weisen“, wie die Mitglieder des Verfassungsrats genannt werden, hatten am Freitag schon kurz vor der Verkündung des Urteils Tausende Menschen vor den Rathäusern französischer Großstädte kundgetan. Die Zusammenkünfte verwandelten sich in der Folge zu lautstarken Spontandemonstrationen von überwiegend jungen Menschen, die seit dem 16. März 2023 abends und manchmal bis spät in die Nacht ihre Wut über Macron und seine Entourage zum Ausdruck bringen. Angemerkt sei, dass an jenem 16. März Premierministerin Borne den Artikel 49.3 der Verfassung nutzte, um die Rentenreform ohne Aussprache oder Abstimmung im Parlament per Dekret in Kraft zu setzten. Dies war bereits das elfte Mal in ihrer noch nicht einmal einjährigen Amtszeit, dass sich Borne einer potenziellen Abstimmungsniederlage in der Nationalversammlung auf diese Weise entzog.
Schon in der ersten Lesung des Rentengesetzes hatte die Regierung die Debatte dadurch verkürzt, dass sie die Gesetzesvorlage zu einem „haushaltsrelevanten“ Gesetz erklärte, was die deutliche Verkürzung der Aussprache in der Ausschuss-und Parlamentsberatung zur Folge hatte, ohne dass der Gesetzestext abschließend beschlossen werden konnte und somit unverändert als Dekret in den Senat (die zweite Parlamentskammer) weitergereicht wurde, wo die Regierung erzwang, dass nur über die ihr genehmen Passagen und Änderungsanträge abgestimmt wurde. Anschließend hätte die Vorlage erneut in der Nationalversammlung diskutiert werden sollen, was Borne schließlich verhinderte. Noch niemals zuvor hatte in der jüngeren politischen Geschichte Frankreichs eine Regierung auf allen Ebenen eine derartige Obstruktionspolitik gegenüber den parlamentarischen Gremien betrieben.
Dadurch waren viele verfassungsrechtliche Fragen aufgeworfen worden, welche der Verfassungsrat, der von der Regierung, aber auch von der linken und ultrarechten Opposition angerufen worden war, nun zu klären hatte. Zwar war die Nutzung des Artikels 49.3 rechtlich nicht zu beanstanden, allerdings die Frage, ob das Gesetz wirklich unmittelbare Notwendigkeit für das Budget des Jahres 2024 ist und ob die Parlamentsdebatte in transparenter und aufrichtiger Form verlaufen war, wie es die französische Verfassung vorschreibt. Den Verfassungsrat interessierten allerdings diese ernsthaften Einwände nicht. Zu mehr als der Feststellung, dass das Vorgehen ungewöhnlich, aber legal sei, rang man sich nicht durch. Mehr noch, als illegal wurden allein „sachfremde“ Passagen erklärt, welche die Beschäftigungssicherung im Alter gewährleisten sollten, da sich diese nicht mit Finanzierungsfragen des Rentensystems befassten. Diese waren allerdings als Kompromiss mit jenem Teil der weit rechts stehenden „Republikaner“ ins Gesetz gelangt, der bereit war, Macron und die Regierung bei der Verabschiedung der Rentenreform zu stützen. Ausgerechnet jene abfedernden Aspekte wurden jetzt allerdings noch gekippt, was dem „Macronismus“ jedoch lange vorher bereits klar war, da dies durch die interne rechtliche Begutachtung des Gesetzes offensichtlich war, da sachfremde Artikel in Gesetzen laut Verfassung illegal sind. Auch hier hat man also bewusst Bündnispartner politisch vorgeführt.
Dass der Verfassungsrat das Gesetz in Gänze für illegal erklären wird, war allerdings nicht zu erwarten gewesen. Sowohl sein Selbstverständnis als auch seine Zusammensetzung lassen das Gremium eher als Legitimationsorgan der Exekutive erscheinen. So sind seine Mitglieder in der Regel keine Berufsrichter, sondern ernannte Ex-Politiker und hohe Verwaltungsbeamte, die aufs Engste mit der politischen Elite des Landes verbunden sind. Bis in die 1970er-Jahre weigerten sich seine Mitglieder sogar, über Fragen, welche Grundrechte betrafen, überhaupt zu urteilen und beschränkten sich darauf zu überwachen, dass die Parlamentarier ihre ohnehin schon schwachen Rechte gegenüber der Regierung nicht zu weit auslegten. Man urteilte also nur über Verfahrensfragen. Die Verfassung der sogenannten V. Republik entstand unter dem Eindruck des politischen Chaos der späten 1950er-Jahre. Die harten innenpolitischen Konflikte über den Umgang mit den revoltierenden Kolonien im Allgemeinen und Algerien im Besonderen sowie die wirtschaftlichen Folgen der Finanzierung der Kolonialkriege Frankreichs hatten das Land an den Rand der Unregierbarkeit gebracht. Das französische Militär setzte schließlich de Gaulle als Staatspräsidenten durch. Dieser lehnte den Parlamentarismus, der die Grundlage der IV. Republik war, ab. Auch ein autonomes Verfassungsgericht stieß auf de Gaulles Ablehnung. Somit blieb der Verfassungsrat ein vollständig politisches und kein juristisches Gremium.
Aktuell werden je drei Mitglieder vom Staatspräsidenten, der Nationalversammlung und dem Senat benannt. Beide noch lebenden Ex-Präsidenten sind zwar von Amts wegen auch Mitglieder, verzichten aber darauf, ihre Mitgliedschaft aktuell wahrzunehmen. Die politische Rechte und der „Macronismus“ verfügen über eine große Mehrheit in diesem Gremium. Mit dem Ex-Premierminister Alain Juppé, der durch Macron ernannt wurde, sitzt sogar ein vorbestrafter ehemaliger Regierungschef in dem Rat, der 1995 mit „seiner“ Rentenreform teilweise scheiterte, nachdem es zu wochenlangen Streiks der Eisenbahner gekommen war. Das ideologische Bedürfnis, Macron den Weg politisch endgültig freizuräumen, ist in diesem Gremium übermächtig und wird als wichtiger betrachtet, als die innenpolitischen Brände (im wahrsten Sinne des Wortes!) zu löschen, die Macron angefacht hat. Mit der Entscheidung, selbst offensichtlich verfassungswidrige Aktionen zu legitimieren, gibt dieser Rat Borne und Macron grünes Licht für weitere „Schocktherapien“, welche Borne auf dem Parteitag der jetzt „Renaissance“ heißenden Macron-Partei am vergangenen Samstag auch schon angekündigt hat.
Macrons repressive Strategie schafft neue Bündnisse
Doch die immer weiter zunehmende gesellschaftliche Isolierung des „Macronismus“ auf einen Kern von Vermögensbesitzern und Rentnern lässt ein derartig allgemeines Klima der Missachtung gegen Macron als Person und seine Politik wachsen, dass selbst militante (und politisch fragwürdige) Aktionen inzwischen von einer Mehrheit der Bevölkerung sogar fast akzeptiert werden. Macron, der sich gerne als intellektuell angehauchter Erneuerer inszeniert und sich umgeben fühlt von dümmlichen, arbeitsscheuen Proletariern, die jede Form von Selbstverantwortung für ihr Leben ablehnen, wird als sinnbildlicher Exponent eines arroganten Angehörigen des französischen Großbürgertums betrachtet, der Klassenpolitik „von oben“ betreibt.
Dies weckt einmal mehr „revolutionäre“ jakobinische Reflexe in der Gesellschaft. Die Bündnisse gegen Macron lassen daher auch Widersprüche zwischen Gruppierungen brüchig werden, die sich milieubedingt auch in Frankreich gezeigt haben. So ist es nicht unbedingt zu erwarten gewesen, dass Polizeigewalt gegen (teils akademische) Klimaaktivisten, wie jüngst am 25. März geschehen, zu einem Katalysator der Proteste gegen die Rentenreform werden konnte, der die Reihen der Protestbewegung weiter wachsen ließ. Emmanuel Macron hat es in sechs Jahren seiner Amtszeit allerdings geschafft, sich mit jeder gesellschaftlichen Gruppe außer der kleinen reichen Elite, die allerdings die Medien kontrolliert, anzulegen. Somit wird Klimapolitik auch nicht nur als abstrakte Frage nach einem „nachhaltigen“ persönlichen Lebensstil betrachtet, sondern als politischer Kampf gegen die mächtige französische Agrarlobby und ihren unverantwortlichen Umgang mit den natürlichen Ressourcen.
Gleichzeitig reagiert der „Macronismus“ zunehmend autoritär und repressiv gegen die gesamte Gesellschaft. Waren in der Vergangenheit immer „nur“ einzelne Gruppierungen und Fraktionen betroffen (Migranten, Schüler, Studierende, Gewerkschafter), ist seit den massiven Angriffen des Staats gegen die „Gelbwesten“-Bewegung 2018 und 2019 zunehmend auch die „Mitte“ der Gesellschaft betroffen, die das ganze Arsenal an Protokriegswaffen (Tränengas, Granaten, Gummigeschosse etc.) zu spüren bekommt. Außerdem agiert der Staat mit Massenverhaftungen bei Demonstrationen und der Kriminalisierung der Zivilgesellschaft. Schon in der ersten Legislaturperiode erließ der „Macronismus“ ein sogenanntes Gesetz gegen „(gesellschaftlichen) Separatismus“ und „Antirepublikanismus“, das es dem Innenminister Darmanin deutlich erleichterte, per Verordnung unliebsame Vereine zu verbieten. Nachdem mit der Fortdauer der Proteste gegen die Rentenreform die „Macroniten“ immer brutaler gegen die Demonstrierenden agierten, wurden auch aus der liberalen Zivilgesellschaft Stimmen laut, die die rechtsstaatlich illegalen Methoden der Polizeitrupps anprangerten. Selbst diesen drohen jetzt offen Sanktionen des Staates. So wird die traditionsreiche „Liga der Menschenrechte“, die Ende des 19. Jahrhunderts im Kontext der „Dreyfus-Affäre“ entstand, nun staatlicherseits infrage gestellt. Während das Innenministerium sämtliche Subventionen einstellen möchte, unterstellt die Premierministerin der Liga „Antisemitismus“. Da passt es ins Bild, wenn Innenminister Darmanin hinter den Protesten gegen die antisoziale Politik des „Macronismus“ den „intellektuellen Terrorismus“ der Linken, im Besonderen von Jean-Luc Mélenchon, zu erkennen meint.
Der „Macronismus“, der aktuell versucht, den ultrarechten RN politisch ein wenig reinzuwaschen, um ihn zum punktuellen Bündnispartner machen zu können, indem „France insoumise“ zum wahren radikalen Gegner der republikanischen Ordnung stilisiert wird, spielt ein gefährliches, aber logisches Spiel. Den RN zur einzigen legitimen Opposition aufzubauen, macht programmatisch Sinn. Schließlich lehnt diese Partei nicht nur jede Form des öffentlichen Protests sowie Streikaktionen gegen Macrons Politik ab. Sie steht dem „Macronismus“ auch in zentralen Fragen seiner Wirtschaftspolitik nahe und fordert einseitig weitere Entlastung für Vermögende. Taktisch wäre ein Wahlsieg des RN und Le Pen nach dem Ende der Präsidentschaft Macrons 2027 (eine weitere Kandidatur ist nicht möglich) für die gesellschaftliche Elite daher interessant, da keine wirkliche Veränderung der Wirtschaftspolitik drohen würde, aber der Eindruck eines Austauschs der politischen Eliten stattfinden könne.
Welche Strategie kann Macron bezwingen?
Macron mag sich zwar mit seiner Rentenreform auf legalem Wege durchgesetzt haben, legitim ist sie aber nicht. Dies zeigt sich darin, dass die Umfragen zu Beginn dieser Woche eine weiter steigende Ablehnung der Rentenreform durch die Franzosen zeigen. Zudem möchte eine deutliche Mehrheit, dass die Gewerkschaften, die im Zentrum der Proteste stehen, die Mobilisierung fortsetzen. Die V. Republik und der Glaube an die bestehende institutionelle Ordnung haben weiter Schaden genommen. Doch bleibt die Frage offen, wie der „Macronismus“ noch schärfer unter Druck gesetzt werden kann. Dass sich sämtliche Gewerkschaften, darunter im Kern die linke CGT und die pragmatische und auf Konsens setzende CDFT, zusammengefunden haben, ist ein historisches Ereignis. Traditionellerweise zeichnet sich die französische Gewerkschaftslandschaft durch Spaltung aus. Alle Gewerkschaften haben gemeinsam beschlossen, die Schärfe ihrer Aktionen schrittweise zu steigern. Seit dem 7. März werden daher gezielt immer wieder wichtige Verkehrsachsen mit Straßensperren blockiert. Auch Stromabschaltungen von strategisch wichtigen Unternehmen durch CGT-Aktivisten gibt es immer wieder.
Dennoch dienen alle diese Aktionen in erster Linie dazu, sich Gehör bei der Exekutive zu verschaffen und Verhandlungen zu erzwingen. Diese Strategie erweist sich als aussichtslos. Gleichzeitig steigen die Mitgliederzahlen an. Allein die CGT hat seit Januar 30.000 Eintritte zu verzeichnen (bei einer Gesamtmitgliederzahl, die zwischen 600.000 und 700.000 liegen dürfte).
Gerade innerhalb der CGT, die jüngst einen sehr bewegten Gewerkschaftskongress abgehalten hat, bei dem die Nachfolge von Philippe Martinez bestimmt und mit Sophie Binet zum ersten Mal eine Frau an die Spitze dieser Organisation gewählt wurde, mehren sich die Rufe nach härteren Maßnahmen. Hier wurden Stimmen laut, die eine Verschärfung der Streikaktionen bis hin zum Generalstreik forderten. Zum anderen lehnten diese Fraktionen die konsensorientierte Strategie mit den übrigen Gewerkschaften ab. Die zu zahme Haltung gegenüber Staat und Unternehmer schwäche die Handlungsfähigkeit der CGT.
Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass neben den erfolgreichen bisherigen zwölf Aktionstagen eine eher schwache und schwankende Streikbereitschaft zu konstatieren ist. Einige Kernbereiche der Volkswirtschaft, mit hohem Organisationsgrad, sowie die Müllwerker tragen und trugen seit März immer wieder neue Wellen von Streiks, die aber alle nicht ewig aufrechterhalten werden können – sei es durch den repressiven Druck des Staates oder durch die Lohnverluste, die nicht kompensiert werden können. In den zahlreichen gewerkschaftsfreien Unternehmen bleiben Arbeitsniederlegungen aus. Somit stimmt das Bild von einer Bewegung, die durch Streiks geprägt sei, welches deutsche Medien zeichnen, höchstens teilweise. Allerdings dürften diese Streiks mit niedriger Intensität noch eine Weile andauern, da die öffentliche Unterstützung hoch ist und Spenden für die Streikkassen tatsächlich in hohem Umfang eingenommen werden können. Da es dem „Macronismus“ nicht gelingt, die Unterstützung für die Aktivisten gegen die Reform zu brechen und man sich scheinbar der Illusion hingibt, die nächsten vier Jahre im faktischen Ausnahmezustand weiterregieren zu können, droht die Etablierung eines faktisch dauerhaften „Kleinkrieges“ im Inneren, die mit der vollständigen Erosion aller Gesprächskanäle zwischen dem „Macronismus“ und der Zivilgesellschaft einhergehen könnte. Ob Macron sich auf diese Weise dauerhaft an der Spitze des Staates halten kann, muss daher hier und heute sehr bezweifelt werden.
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