Die blau-gelbe Fahne steht für Freiheit, das ominöse russische Zeichen „Z“ für Unterdrückung. So einfach ist der Krieg um die Ukraine aber nicht erklärbar, obwohl sich unter europäischen Staatskanzleien und Leitmedien nur diese eine Erzählung festgesetzt hat. Der Anfang April 2023 vom in Wien ansässigen ProMedia-Verlag veröffentlichte Sammelband „Kriegsfolgen – Wie der Kampf um die Ukraine die Welt verändert“ hat den Anspruch, jenseits von Propaganda-Narrativen in 17 Beiträgen von ukrainischen, russischen und deutschsprachigen Autoren die Motive und die Folgen dieser seit Generationen gefährlichsten Weltkrise zu durchleuchten. Die NachDenkSeiten präsentieren den Beitrag unseres Redakteurs Florian Warweg für den „Kriegsfolgen“-Band, in welchem er sich den wirtschaftlichen Hintergründen der Nord-Stream-Sprengung widmet. Von Florian Warweg.
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In den frühen Morgenstunden des 26. Septembers 2022 um 02:03 Uhr mitteleuropäischer Zeit erfassten seismologische Institute in Dänemark, Schweden und Norwegen zwölf Seemeilen südwestlich der dänischen Insel Bornholm Erschütterungen, die jenen eines leichten Seebebens mit einer Stärke von 2,2 bis 2,3 auf der Richterskala entsprachen. Kurz danach wurde ein massiver Druckverlust in Strang A der Nord-Stream-2-Pipeline in 70 Meter Tiefe festgestellt. Auf deutscher Seite fiel der Druck schlagartig von 105 auf etwa 7 Bar. Fast auf die Minute genau 17 Stunden später, um 19:04 Uhr, wurden erneut schwere Erschütterungen identischer Stärke registriert, diesmal nordöstlich von Bornholm, gefolgt von Druckverlust in beiden Strängen der seit 2011 in Betrieb befindlichen Ostseepipeline Nord Stream 1 in 88 Meter Tiefe.[1]
In Reaktion auf die erste registrierte Explosion (ein natürliches Beben war zu diesem Zeitpunkt bereits als Ursache ausgeschlossen worden) entsandte das dänische Militär nach eigener Darstellung von Bornholm aus F-16-Kampfjets, um das betroffene Gebiet zu fotografieren. Dabei sollen die Kampfflieger um die Mittagszeit erstmals die aus dem Wasser aufsteigenden großflächigen Methan-Blasen entdeckt haben. Rund acht Stunden später, um 20:41 Uhr, sprach die schwedische Seefahrtsbehörde dann eine Warnung vor weiteren Gaslecks aus, nachdem mehrere Schiffe von Blasenteppichen auch nordöstlich von Bornholm berichtet hatten. In der Folge verhängten die dänische und schwedische Schifffahrtsbehörde sogenannte Befahrensverbote (nautical warnings) im Umkreis von fünf Seemeilen um die Lecks. Auch der Flugverkehr unterhalb von 1000 Meter Höhe wurde in diesem Gebiet untersagt.[2]
„Gezielter Anschlag eines staatlichen Akteurs“
Weitere Untersuchungen ergaben, dass es sich insgesamt um vier Lecks handelte, wobei zwei auf die Nord-Stream-1-Pipeline entfielen, welche auf einer Länge von 250 Metern zerstört worden war, und zwei auf den Strang A der Nord-Stream-2-Pipeline. Ein Unfall gilt als ausgeschlossen, sowohl NATO-Staaten wie auch Russland gehen von einem „gezielten Sabotageakt“ aus. Der russische Regierungschef Wladimir Putin bezeichnete die Ereignisse als „internationalen Terrorismus“. In einem gemeinsamen Brief vom 29. September 2022 an den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen sprachen Schweden und Dänemark vom Einsatz „einer Sprengladung von mehreren Hundert Kilogramm TNT-Äquivalent“ – wohlgemerkt pro Leck. Die deutsche Bundesregierung erklärte am 7. Oktober 2022 in Reaktion auf eine parlamentarische Anfrage, dass sie „vor dem Hintergrund der Komplexität der Tatausführung“ von einem „staatlichen Akteur“ als Täter ausgeht.[3] Alle vier Lecks befinden sich, auch dies ein interessantes Detail, knapp außerhalb der Hoheitsgewässer in den ausschließlichen Wirtschaftszonen Dänemarks und Schwedens, die völkerrechtlich als internationale Gewässer gelten. Das heißt, wer immer die Anschläge ausführte, achtete penibel darauf, dass diese vier Explosionen im internationalen Gebiet erfolgten. Ein Anschlag innerhalb von nationalen Hoheitsgewässern hätte noch weitreichendere völkerrechtliche Implikationen gehabt.
Eines der teuersten Energie-Infrastrukturprojekte aller Zeiten
Der mutmaßliche Anschlag eines staatlichen Akteurs zielte auf eines der teuersten und größten Energie-Infrastrukturprojekte Europas. Allein der Bau von Nord Stream 1 schlug mit 7,4 Milliarden Euro zu Buche, der jüngere Pipelinebruder Nord Stream 2 mit 10 Milliarden. Beide Pipelines mit ihren je zwei Strängen erstrecken sich über je 1224 Kilometer. Im Falle von Nord Stream 1 trugen rund die Hälfte der Bauinvestitionen (51 Prozent) der russische Erdgaskonzern Gazprom und zu je 24,5 Prozent die beiden deutschen Konzerne BASF (Wintershall) sowie E.ON (Ruhrgas). Zumindest Nord Stream 1 gilt folglich als ein rein russisch-deutsches Projekt.[4]
Bei Nord Stream 2 wurden die Beteiligungen etwas breiter gestreut, hier waren neben den genannten Konzernen noch die niederländisch-britische Shell, die französische Engie-Gruppe sowie der österreichische Gaskonzern OMV, wenn auch mit weniger Anteilen, involviert. Alle genannten westeuropäischen Konzerne haben durch das Ende von Nord Stream nach eigenen Angaben mindestens je eine Milliarde Euro verloren.[5]
Mit einer Transportkapazität von jährlich bis zu 110 Milliarden Kubikmetern Erdgas hätten allein die vier Stränge von Nord Stream 1 und 2 ausgereicht, den gesamten Erdgasverbrauch Deutschlands als Industrienation zu sichern. 2021 betrug der gesamte bundesdeutsche Erdgasverbrauch 90,5 Milliarden Kubikmeter.
Die Bedeutung der Ostseepipeline für Deutschland
Bereits mit der vollen Inbetriebnahme von Nord Stream 1 im Oktober 2012 wurde die Bundesrepublik Deutschland zu einem zentralen Transitland des europäischen Gashandels. Da Deutschland zu dem Zeitpunkt mit E.ON und der BASF-Tochter Wintershall auch die zwei dominierenden privaten Energieversorger in Europa stellte, versetzte Nord Stream 1 das Land in die Lage, Marktmacht-Kontrolle über die Versorgungssicherheit anderer europäischer Staaten und insbesondere Großbritanniens auszuüben. Das führte, zumal es sich um ein rein deutsch-russisches Projekt handelte, zu starken Verstimmungen insbesondere in US-amerikanischen Politik- und Wirtschaftskreisen. Diese sollten sich mit Planung und Bau von Nord Stream 2 nochmals verstärken. In einem Arbeitspapier der regierungsnahen Denkfabrik Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) von September 2005 wird offen ausgeführt, wie insbesondere unter Mithilfe des damaligen Vorsitzenden des Ostausschusses der Deutschen Wirtschaft, Klaus Mangold, nach und nach die ausländische Konkurrenz für Nord Stream 1 ausgebootet wurde.[6]
Zuvor, das sollte man sich in der aktuellen Hysterie noch mal ins Gedächtnis rufen, hatte Gazprom neben E.ON und Wintershall auch Gespräche mit BP, Royal Dutch/Shell, Gasunie, Gaz de France und Norsk Hydro geführt. Gazprom verhandelte zudem 2002 direkt mit der niederländischen Regierung zur Realisierung des Projekts. Londons Interesse drückte sich in einem entsprechenden Erdgas-Moratorium zur Zusammenarbeit aus, welches im Juni 2003 vom damaligen britischen Premierminister Tony Blair und dem russischen Präsidenten Putin unterzeichnet wurde. Das heißt, es waren vor allem deutsche Unternehmen und die damalige Bundesregierung, die ein rein russisch-deutsches Pipeline-Projekt im Auge hatten, nicht die russische Seite.
Das Missfallen mit der Situation auf US-amerikanischer Seite hatte noch umfassendere Gründe. Während die USA im Zuge der sogenannten Jukos-Affäre (Zerschlagung des Jukos-Konzerns sowie Inhaftierung seines Besitzers, des Oligarchen Michail Chodorkowski) und des Streits um den Irak-Krieg ihren Energiedialog mit Russland praktisch beendet hatten und Investitionen zurückfuhren, erwarben deutsche Konzerne auf dem russischen Markt strategische Vorteile gegenüber ihren US-amerikanischen Konkurrenten.[7] Deutsche Unternehmen erlangten folglich sowohl eine privilegierte Position im rasant wachsenden russischen Markt als auch Wettbewerbsvorteile durch den Zugang zu günstigen Energieträgern via der langfristig angelegten, privilegierten und für beide Seiten lukrativen Zusammenarbeit im Gas- und Ölgeschäft. Diese manifestierte sich am 7. September 2005, zehn Tage vor der Bundestagswahl, mit der Unterzeichnung des Vertrags zum Bau der Ostseepipeline, welche erstmals eine Gasverbindung zwischen Russland und Deutschland ohne direkte Interventionsmöglichkeiten von den stark an die USA angebundenen bisherigen Transitländern wie Polen und Ukraine ermöglichen sollte.
Die Bedeutung von Nord Stream für Russland
Die Vorteile des Ostsee-Pipeline-Projekts für Russland liegen auf der Hand. Der weltweit größte und mehrheitlich in Staatsbesitz befindliche Erdgaskonzern Gazprom verfügte mit Nord Stream erstmals über eine direkte und ungestörte Verbindung zum westeuropäischen und insbesondere deutschen Absatzmarkt. Durch den Wegfall der bei Landpipelines anfallenden Transitgebühren entledigte sich Russland gleich zweier Probleme: Erstens schmälern Transitgebühren signifikant die Gewinne, zweitens können diese von den Transitländern als politische und wirtschaftliche Waffe, wie regelmäßig vor allem von der Ukraine und Polen praktiziert, gegen Russland eingesetzt werden. Ebenso verhindert man die illegale unentgeltliche Entnahme von Gas, ein oft von Gazprom beklagtes Problem beim Transfer durch die Ukraine. Nord Stream ermöglichte es Russland, sich unabhängiger von bestehenden landgestützten Pipelinerouten zu machen und in Folge über eine größere Vielfalt an Transportwegen gen Westeuropa zu verfügen, ein klassischer Ansatz von Diversifizierung. Dieser Diversifizierungsmaxime folgte, was heute gerne vergessen wird, zunächst auch die EU und unterstützte Anfang der 2000er noch vorbehaltlos den Bau der Ostseepipeline.[8]
Nord Stream steht vitalen US-Interessen im Wege
Noch vor wenigen Jahren herrschte in der LNG-Branche der USA Katastrophenstimmung. Der Fracking-Boom Ende der 2010er-Jahre hatte für ein massives Überangebot von Erdgas gesorgt. Ab Beginn der 2020er-Jahre lag beispielsweise der Spotmarktpreis am US-Knotenpunkt Henry Hub bei nur noch knapp fünf Euro pro Megawattstunde. Die mit vielen Milliarden US-Dollar vom Finanzsektor ausgestattete US-Fracking-Branche und in logischer Folge auch signifikante Teile des US-Finanzsystems standen angesichts dieser Preisentwicklung vor dem Bankrott.[9] Denn die Investitionen waren, wie im Big Business der USA üblich, mit wenig Eigen- und viel Fremdkapital getätigt worden. Zur Verhinderung des sich anbahnenden Kollapses gab es eigentlich nur eine Möglichkeit: Expansion auf den EU-Markt und hier insbesondere auf den mit Abstand größten Erdgasimporteur mit einem jährlichen Bedarf von ungefähr 100 Milliarden Kubikmeter: die Bundesrepublik Deutschland.[10] Doch welches Interesse sollte Deutschland und sein Industriesektor haben, US-amerikanisches LNG-Gas zu importieren, welches (vor Kriegs- und Sanktionsbeginn) um den Faktor 7 teurer war als das via Pipeline ins Land strömende russische Erdgas ? Auf freiwilliger und rationaler Entscheidungsgrundlage erst mal gar keines.
Wie unter anderem der auf Energiefragen spezialisierte Journalist Jens Berger darlegt, hat erst seit der Eskalation des Ukrainekrieges und den damit verbundenen EU-Sanktionen gegen Russland der Preis für Fracking-Gas ein Niveau erreicht, das es den US-Energiekonzernen ermöglicht, Geld zu verdienen und nicht – wie die Jahre zuvor – massiv Geld zu verlieren.
Doch selbst diese Entwicklung stand bis im Sommer 2022 noch auf einer nicht sehr nachhaltigen wirtschaftlichen Grundlage. Erst die Sprengung der Nord-Stream-Pipelines hat letzten Endes den Weg frei gemacht, um die EU und insbesondere Deutschland langfristig zu Abnehmern der US-amerikanischen Erdgas-Überschüsse zu machen und den Preis auch langfristig auf einem für US-Frackinggas-Produzenten profitablen Niveau zu halten. Die damit verbundene neue Erdgas-Abhängigkeit ihres EU-„Partners“ passt den US-Amerikanern fraglos ebenfalls ins globalstrategische Dominanz-Konzept. Nach einer Studie des Energiewirtschaftlichen Instituts an der Universität Köln (EWI) werden die USA demnächst nicht nur Russland als wichtigsten Energielieferanten ablösen, sondern nehmen dann für den EU-Gasmarkt mit einem antizipierten Importvolumen von rund 40 Prozent dieselbe dominante Rolle ein wie Russland vor dem Ukraine-Krieg.[11] So viel zur angeblichen „Reduzierung“ der energiepolitischen Abhängigkeit der EU, die Washington angeblich so am Herzen liegt.
Vieles deutet vor diesem Hintergrund auf eine Täterschaft der USA hin. Der renommierte US-amerikanische Investigativjournalist Seymour Hersh, der unter anderem das My-Lai-Massaker der US-Armee in Vietnam aufdeckte, veröffentlichte am 8. Februar 2023 einen aufsehenerregenden Artikel unter dem Titel „Wie Amerika die Nord-Stream-Pipeline ausschaltete“. Mit Verweis auf einen Whistleblower legt er detailliert dar, wie die USA und Norwegen die Sprengung der Nord-Stream-Pipelines durchführten.[12] Der US-Auslandsgeheimdienst CIA dementierte erwartungsgemäß und erklärte: „Diese Behauptung ist völlig und vollkommen falsch.“
Ganz unabhängig davon, ob die USA sich für die Sprengung von Nord Stream verantwortlich zeichnen oder nicht, sind sie nachweislich die größten wirtschaftlichen Profiteure der Tat. Vor diesem Hintergrund erlangt die Bemerkung von US-Außenminister Anthony Blinken wenige Tage nach dem Anschlag noch mal eine ganz andere Relevanz. Blinken hatte am 30. September 2022 auf einer Pressekonferenz anlässlich des Besuches seiner kanadischen Amtskollegin Mélanie Joly die Zerstörung der Nord-Stream-Pipelines unumwunden zu einer „enormen strategischen Chance“ für die USA erklärt.[13]
„Wir sind jetzt der führende Lieferant von Flüssigerdgas für Europa […]. Dies ist auch eine enorme Chance. Es ist eine enorme Chance, die Abhängigkeit von russischer Energie ein für alle Mal zu beseitigen und damit Wladimir Putin die Möglichkeit zu nehmen, Energie als Waffe und Mittel zur Durchsetzung seiner imperialen Pläne zu gebrauchen. Das ist sehr bedeutsam und bietet eine enorme strategische Chance für die kommenden Jahre.“
Worin die „enormen strategischen Chancen“ für die USA bestehen, wurde ja bereits ausgeführt.
Polen als ewiger Gegner der Pipeline
Der Beschluss zum Bau von Nord Stream 1 fiel in den beginnenden polnischen Wahlkampf des Jahres 2005 und wurde insbesondere von der rechtskonservativen Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) entsprechend genutzt. Das regierende katholisch-nationale Lager nannte das deutsch-russische Pipelineprojekt wortwörtlich eine „Existenzbedrohung“. Die Kaczyński-Brüder sprachen in diesem Zusammenhang von einem „Schröder-Putin-Pakt“, in direkter Anspielung auf den „Ribbentrop-Molotow-Pakt“ von 1939.[14]
Tatsächlich dürfte die polnische Ablehnung des gesamten Nord-Stream-Projektes aber weniger von sicherheitspolitischen Überlegungen bestimmt gewesen sein als von handfesten finanziellen Interessen – getragen von der Sorge, durch die Ostseepipeline perspektivisch die millionenschweren Transitgebühren zu verlieren, die Warschau Jahr für Jahr aus Moskau erhielt. Denn unabhängiger will man in Warschau nur von Gas-Importen für den eigenen Verbrauch werden. Beim Transit hat Polen sehr wohl Interesse an möglichst hohen Gasmengen, denn diese sorgen für entsprechende Gebühreneinnahmen. Damit wird auch klar, weshalb Polen zwar alles in seiner Macht stehende tat, um die Ostseepipeline zu verhindern, sich aber gleichzeitig nachdrücklich für den Ausbau der mit russischem Gas gespeisten Jamal-I-Pipeline mit einem zweiten Strang einsetzte, der natürlich über Polen verlaufen sollte.
Zum anderen und wohl noch relevanter sind die seit Jahren in Warschau gehegten und zum Teil schon umgesetzten Pläne, wie etwa die taz in einem Artikel von Anfang Februar 2022 ausführt, gemeinsam mit den USA „den zentraleuropäischen Gasmarkt neu aufzurollen und Deutschland das bisherige Transfergeschäft abzunehmen“.[15] Zu diesem Zweck hat Polen schon vor Jahren in Norwegen ausgedehnte Gasförderfelder gekauft, die „Baltic Pipe“ durch die Ostsee bauen lassen sowie an der Ostseeküste gigantische Gas-Zisternen für die Umwandlung von US-amerikanischem LNG errichtet, welches dann weiter exportiert werden soll. Diese immensen, von Polen mit expliziter US-Unterstützung seit Jahren getätigten Investitionen in Gas-Infrastruktur hatten von Beginn an eigentlich nur wirtschaftliche Erfolgsaussichten, wenn Nord Stream 2 nicht an den Start geht. Und wirklich Gewinn abwerfen könnte dieses Projekt nur, wenn auch Nord Stream 1 nicht mehr in Betrieb wäre.
Bezeichnenderweise eröffneten Regierungsvertreter Polens, Dänemarks und Norwegens die explizit als Alternativ-Pipeline zu russischem Gas konzipierte „Baltic Pipe“ just am 27. September 2022, also nur einen Tag nach dem Sabotageakt gegen Nord Stream. Anlässlich der Einweihung erklärte der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki: „Diese Gaspipeline bedeutet das Ende der Ära der Abhängigkeit von russischem Gas. Sie ist auch eine Gaspipeline der Sicherheit, Souveränität und Freiheit nicht nur für Polen, sondern in Zukunft auch für viele andere.“ [16]
Damit ist wohl der Kern des massiven polnischen Widerstands gegen das Nord-Stream-Projekt offengelegt.
Fazit
Während die deutsche und russische Wirtschaft sowie Politik ein nachvollziehbares Interesse hatten, ab Anfang der 2000er-Jahre ihre Energiepartnerschaft zu verstärken und mit Nord Stream über eine Pipeline zu verfügen, die sie unabhängig macht von unzuverlässigen Transferländern mit eigenen Agenden, sieht es insbesondere im Falle der USA und Polen genau spiegelverkehrt aus. Sowohl in Washington wie in Warschau sah und sieht man eine zunehmende Zusammenarbeit von Berlin und Moskau seit Jahrzehnten mit Argusaugen und versucht alles, um diese zu verhindern.
Wenn Drohungen in der Vergangenheit nicht halfen, wurde auch auf Gewalt zurückgegriffen. Erinnert sei nur an die Explosion der sowjetischen Tscheljabinsk-Pipeline im Sommer 1982 aufgrund einer CIA-Operation mit manipulierter Software. Diese brachte die Einstellungen von Pumpen, Turbinen und Ventilen der Gasversorgung so durcheinander, dass die Leitung explodierte. Die Explosion soll eine Sprengkraft von vier Kilotonnen gehabt haben.[17] Zuvor hatten die USA ab Februar 1982 der Bundesrepublik Deutschland massiv mit Konsequenzen gedroht, würde man das im November 1981 mit der Sowjetunion abgeschlossene Industrieabkommen zum Bau von Pipelines und der Lieferung von sibirischem Erdgas im Gesamtvolumen von jährlich 16 Milliarden Mark nicht aufkündigen. Unterschied zu heute: Der damalige Kanzler Helmut Schmidt ließ sich nicht einschüchtern und erklärte an die USA gewandt: „Da können andere noch so viel quaken, es bleibt bei dem Geschäft.“ Aufschlussreich auch die damalige Begründung des US-Kongresses für das Missfallen an dem Deal: „Unsere Geschäftsleute werden aus dem östlichen Markt heraus sein.“ [18]
Und damit sind wir auch wieder bei einem der Schlüsselergebnisse der Zerstörung von Nord Stream und des Sanktionsregimes gegen Russland. Es fällt ins Auge, dass sowohl das gesamte Business-Modell für das US-amerikanische Frackinggas als auch die im Verlauf der letzten Jahre getätigten umfassenden Investitionen auf polnischer Seite in LNG-Infrastruktur mit dem Ziel des weiteren Exports wirtschaftlich nur Sinn machen, wenn die entsprechenden Akteure bereits bei der Planung davon ausgingen, dass man zeitnah in der Lage wäre, den deutschen sowie den weiteren EU-Gas-Markt für sich zu gewinnen. Dieses Ziel war aber nur erreichbar, wenn es Washington und Warschau gelingen würde, Russland als zentralen und etablierten Exporteur aus diesem Markt herauszudrängen. Was vor Kurzem noch in den Augen vieler Experten als US-amerikanischer und polnischer Wunschtraum galt, ist nach den Ereignissen des 24. Februars und 26. Septembers 2022 zu einem Fait accompli geworden.
Auszug aus dem Sammelband „Kriegsfolgen – Wie der Kampf um die Ukraine die Welt verändert“, herausgegeben von Hannes Hofbauer und Stefan Kraft, Promedia-Verlag, Wien.
Titelbild: Coverfoto Promedia-Verlag
[«1] SVT Nyheter: Seismolog: Två explosioner intill Nord Stream, 28. September 2022, svt.se/nyheter/inrikes/svt-avslojar-tva-explosioner-intill-nord-stream
[«2] Neue Zürcher Zeitung: Explosionen bei Pipelines: Die Saboteure haben die Röhren wohl von aussen gesprengt, 2. 12. 2022, nzz.ch/wirtschaft/pipeline-projekt-nord-stream-2-die-neusten-entwicklungen-ld.1483495
[«3] Deutscher Bundestag, Drucksache 20/3513
[«4] Detlef Bimboes: Das Erdgas aus dem Osten und der neue Kalte Krieg, in: AG-Friedensforschung, 2. April 2006, ag-friedensforschung.de/themen/oel/bimboes.html
[«5] Eva Brendel: So viel kostete die Energiekonzerne Nord Stream 2, in: Finance, 14. April 2022, finance-magazin.de/transformation/ukraine-krieg/so-viele-kostete-die-energiekonzerne-nord-stream-2-116661/
[«6] Roland Götz: Die Ostseegaspipeline, SWP-Aktuell 41, S. 2, Berlin September 2005.
[«7] Alexander Rahr: Berlin – Moskau 2005−2008, in: GUSbarometer Nr. 39, S. 1, Berlin 2005.
[«8] EU-Kommission: Grünbuch – Hin zu einer europäischen Strategie für Energieversorgungssicherheit, S. 42, Europäische Gemeinschaften, Luxemburg 2001
[«9] Michael Mazengarb: Climate friend or carbon bomb? Global gas market faces $1.3trn stranded asset risk, in: Renew Economy, 3. Juli 2019, reneweconomy.com.au/climate-friend-or-carbon-bomb-global-gas-market-faces-1-3trn-stranded-asset-risk-80593/
[«10] Jens Berger 2022: Die USA haben den Gaskrieg gegen Russland gewonnen, 9. November 2022
[«11] EWI-STUDIE 2022: Entwicklungen der globalen Gasmärkte bis 2030. Szenarienbetrachtung eines beschränkten Handels mit Russland, ewi.uni-koeln.de/cms/wp-content/uploads/2022/09/EWI_Endbericht_Zukunft_Gas_Globale_Gasmaerkte_2022-09-21.pdf
[«12] Seymour Hersch: How America Took Out The Nord Stream Pipeline, in: seymourhersh.substack.com/p/how-america-took-out-the-nord-stream, 8. Februar 2023
[«13] U. S. Department of State, 30. September 2022, state.gov/secretary-antony-j-blinken-and-canadian-foreign-minister-melanie-joly-at-a-joint-press-availability/
[«14] Helmut Fehr: Der Missbrauch der Vergangenheit – politische Kampagnen und Machtstrategien der nationalen Populisten in Polen, in: Frankfurter Rundschau, S. 5, 22. November 2005.
[«15] Gabrielle Lesser: Polen hofft auf Geschäft mit Gas, in: taz, 2. Februar 2022.
[«16] Wprost: Morawiecki o wybuchach w Nord Stream w dniu otwarcia Baltic Pipe: Bardzo dziwny zbieg okoliczności, 27. September 2022: biznes.wprost.pl/gospodarka/infrastruktura/10878148/morawiecki-o-wybuchach-w-nord-stream-w-dniu-otwarcia-baltic-pipe-bardzo-dziwny-zbieg-okolicznosci.html
[«17] Peter Welchering: Hacken im Kalten Krieg – Von den Anfängen des Cyberwars, in: DLF, 13. Februar 2019, deutschlandfunkkultur.de/hacken-im-kalten-krieg-von-den-anfaengen-des-cyberwars-100.html
[«18] Werner Meyer-Larsen: Der unverziehene Strang nach Osten, in: Spiegel, 21. März 1982, spiegel.de/wirtschaft/der-unverziehene-strang-nach-osten-a-7e646f14-0002-0001-0000-000014337181