Die „Letzte Generation“ mobilisiert. Ab nächsten Donnerstag wollen die Klimaaktivisten, so heißt es vollmundig in ihrer Ankündigung, „Berlin zum Stillstand [bringen], um die Regierung zum Aufbruch zu bewegen“. Ersteres könnten die rund 1.000 Klimakleber, mit denen gerechnet wird, erreichen. Letzteres ist jedoch eine sehr naive Vorstellung; genau wie ihre sonstigen Forderungen. Die Klimabewegung steht an einem Scheideweg. Wer die Mehrheit von seinen Gedanken überzeugen will, sollte sie mitnehmen. Aktionen wie die der Klimakleber erreichen das genaue Gegenteil. Offenbar ist die Gedankenwelt privilegierter Wohlstandskinder nicht mit der Lebenswirklichkeit derer in Einklang zu bringen, deren Alltag durch derartige Aktionen blockiert wird. So schwindet die gesellschaftliche Akzeptanz, was letzten Endes die gesamte Klimadebatte desavouieren wird. Ein Kommentar von Jens Berger.
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Zum Thema: Klimadebatte – Angst und Panik sind schlechte Ratgeber
Ich gebe zu: Es fällt mir schwer, die Letzte Generation wirklich ernst zu nehmen. Das liegt keinesfalls daran, dass ich die Gefahren des Klimawandels nicht ernst nehme – im Gegenteil. Auch die Idee eines klimaneutralen Deutschlands halte ich per se nicht für falsch. Der apokalyptische Unterton, der bereits im Namen „Letzte Generation“ mitschwingt, und die teils elitäre Arroganz, die die Gedankenwelt der Aktivisten prägt, sind mir jedoch unheimlich. Fast möchte ich sagen: Ich beneide diejenigen, für die der Klimawandel offensichtlich das größte, wenn nicht gar das einzige Problem unserer Zeit darstellt. Das ist durchaus ein Privileg; ein Privileg, das die meisten unserer Mitbürger nicht genießen.
Und spätestens, wenn es um die Aktionen der Aktivisten geht, wird es richtig „kompliziert“. Spitzen wir es ruhig mal zu: Der Außendienstler aus der niedersächsischen Pampa wird wenig Verständnis dafür haben, dass er seinen Termin in Berlin wegen der Klimakleber nur mit mehreren Stunden Verspätung absolvieren kann. Die Reise mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist mangels vorhandener Alternative für ihn keine Option. Wird er nun ein schlechtes Gewissen haben und aufgrund der Verspätung die Forderungen der Letzten Generation teilen? Sicher nicht. Und dies ließe sich auf andere Bereiche ausweiten: Den Rentner wird man nicht zum Klimaschützer machen, wenn man ihn zwingt, die defekte Gastherme mit horrenden finanziellen Mitteln gegen eine Wärmepumpe auszutauschen. Für die Kassiererin sind teure vegane Fleischersatzprodukte kein realistischer Ersatz für das preiswerte Schnitzel. Und für den Berufspendler mit seinem sparsamen Diesel sind kleinere Subventionen für einen elektrisch angetriebenen Neuwagen, dessen Kaufpreis zwei seiner Netto-Jahresgehälter entspricht, kein echtes Angebot, dazu noch nicht einmal klimapolitisch sinnvoll und womöglich ohnehin nicht praktikabel, wenn er beispielsweise in einer Mietwohnung lebt und keine Möglichkeit hat, den Wagen über Nacht an eine Steckdose anzuschließen. Das ist eher ein klimapolitisches Wolkenkuckucksheim – klar ausgerichtet auf die wohlhabenden Haushalte, aus denen die „Klimakinder“ entstammen.
Die Letzte Generation bezeichnet ihren Protest selbst als „sozialen Protest“. Auch das ist bemerkenswert, ist ihr Protest doch eher ein Protest von oben gegen die Interessen der unteren Mittelschicht und erst recht der Unterschicht. Man appelliert für den Verzicht. Das klingt gut. Aber Verzicht muss man sich auch leisten können, und man braucht auch etwas, auf das man verzichten kann. Für die Krankenschwester, die sich alle zwei Jahre mal eine kleine Auszeit am Mittelmeer gönnen will, bedeutet ein Verzicht auf diese Flugreise etwas anderes als für den Unternehmer, der sich als Klimaschützer wähnt, wenn er einmal auf den Urlaubsflug verzichtet und stattdessen mit dem Tesla zum Urlaub nach Kampen oder an den Tegernsee fährt. Auf die Idee, seinen nächsten Businesstrip nach London mit dem Zug zu machen, käme er aber sicher nicht.
Und dann kommt die Forderung nach dem „Degrowth“, dem Verzicht auf Wachstum. Auch das klingt vor allem dann gut, wenn man sozioökonomisch ohnehin übersättigt ist. Dann sollen die Klimakleber doch ruhig mal ihre Mutter davon überzeugen, dass ihr Drittwagen, mit dem sie die Kinder sicher zur Schule und zu den Aktivitäten bringt, die man als Kind von Helikoptereltern so verfolgt, vielleicht abgeschafft werden sollte. Ach nein, der wurde ja jüngst gegen einen E-SUV ausgetauscht. Alles gut. Für den Hilfsarbeiter stellt der Diesel, den er sich schon mit zehn Jahren und 200.000 Kilometer auf dem Buckel vom Munde absparen musste, aber keinen Gegenstand dar, auf den man einfach mal verzichten kann, um das Klima zu retten. Aber dieser Hilfsarbeiter versteht ja auch die Sorgen der Klimakleber nicht. Dass die Temperatur in drei, vier Generationen um so und so viele Stellen hinter dem Komma steigen könnte, wird ihm weniger den Schlaf rauben als die Sorge, dass das Geld wieder einmal nicht bis zum Monatsende reicht und er seine Familie von Lebensmitteln der Tafeln ernähren muss. Wie schon erwähnt – auch die Angst vor dem Klimawandel muss man sich erst mal leisten können.
Wundert es da, dass die Angst vor dem Klimawandel um so ausgeprägter ist, je geringer die alltäglichen Sorgen sind? Und wundert es wirklich, dass die breite Mehrheit kein Verständnis dafür hat, wenn selbsternannte Weltretter sich auf der Straße festkleben? Um was zu erreichen? Darauf hat die Letzte Generation Antworten, und diese Antworten überraschen selbst hartgesottene Zyniker. An erster Stelle fordert man „ein Tempolimit von 100 km/h“ und die Einführung eines „dauerhaften 9-Euro-Tickets“. Das klingt so absurd, als hätte die RAF in den 1970ern die Erhöhung des Sozialhilfesatzes um zwei Prozentpunkte und die Einführung einer bezahlbaren Kinderbetreuung für alle gefordert. Sicher, sowohl über ein Tempolimit und ein bezahlbares Monatsticket für den ÖPNV ließe sich diskutieren; aber beide Forderungen sind angesichts des Weltuntergangsgeredes der „letzten“ (sic!) Generation doch lächerlich klein. Polemisch könnte man fragen, den Emissionen wie vieler der 1.000 geplanten chinesischen Kohlekraftwerke diese beiden Sparmaßnähmchen entsprechen.
Aber das ist ja noch nicht alles. Die Kernforderung der Letzten Generation ist die Errichtung eines „Gesellschaftsrats, der sozialgerechte Antworten auf die Klimakrise erarbeitet“. „Die Teilnehmenden [dieses Rats] werden per Los gefunden, zusammen bilden sie ein Deutschland im Kleinen ab“, so der Forderungskatalog. Weiter: „Veganer:innen und Autofans diskutieren gemeinsame Lösungen, denn auch sie haben ein geteiltes Interesse: die Lebensgrundlagen auf diesem Planeten schützen und den Weg dahin sozial gerecht gestalten.“ Das klingt recht eigenwillig. Noch eigenwilliger ist jedoch, dass dieses „Deutschland im Kleinen“ gar nicht ergebnisoffen diskutieren soll. Denn was am Ende dabei herauskommen soll, gibt die Letzte Generation bereits vor.
„Der Gesellschaftsrat erarbeitet in einem definierten Zeitraum die nötigen Schritte unter der Fragestellung: Wie beendet Deutschland bis 2030 die Nutzung fossiler Rohstoffe? Das bedeutet, dass wir unsere Energieversorgung komplett auf 100% erneuerbare Energien umstellen. Zudem müssen menschengemachte Treibhausgasemissionen, die nicht durch das Verbrennen fossiler Rohstoffe entstehen, ebenfalls beendet werden. Dazu gehört eine Kreislaufwirtschaft, die der Verschwendung ein Ende bereitet und somit den Energiebedarf erheblich reduziert und eine klimapositive, also kohlenstoffbindende Landwirtschaft.“
Was wäre eigentlich, wenn die ausgelosten Veganer und Autofans an fossilen Rohstoffen festhalten wollen, weil beispielsweise ihr Job in der Industrie von bezahlbaren Energien abhängt? Diese Option gibt es nicht. Die Letzte Generation gibt die Ziele vor. Ein nach Zufallsprinzip zusammengesetzter Gesellschaftsrat „bestimmt“ dann, wie diese Ziele praktisch zu erreichen sind, und die Regierung hat dann die Aufgabe, dies umzusetzen. Überflüssig zu erwähnen, dass dies mit der Gewaltenteilung des Grundgesetzes nicht zu vereinbaren ist. Glauben die Klimakleber tatsächlich, dass die Bundesregierung das Grundgesetz beiseitelegt und diesen Forderungen nachgibt, weil sich in Berlin 1.000 Kinder aus besserem Hause auf der Straße festkleben? Ist es Naivität? Ist es Anmaßung? Ist es Größenwahn?
Letzten Endes ist es vor allem eins: Die Sabotage einer ernsthaften Debatte, wie man in Deutschland eine sinnvolle Klimapolitik so gestalten kann, dass sowohl die Menschen als auch die Wirtschaft dabei mitgenommen werden und die soziale Frage nicht gegen die Klimafrage ausgespielt werden kann. So paradox es für diese Klimaaktivisten klingen mag: Mit derartigen Aktionen schaden sie der Klimadebatte mehr, als dass sie ihr nutzen. Wenn westliche Wohlstandskinder, die letztlich nur ihrer eigenen Privilegiertheit überdrüssig geworden sind, für sich in Anspruch nehmen, die Stimme der Klimapolitik zu sein, wird die große Mehrheit sich deren Partikularinteressen nicht etwa anschließen, sondern ganz im Gegenteil in Fundamentalopposition gehen. Eine rationale Debatte, bei der am Ende vielleicht sogar etwas rumkommen könnte, ist dann nicht mehr möglich. Manchmal glaube ich ja fast, die Letzte Generation wird im Geheimen von den großen Öl- und Kohlekonzernen finanziert.