Politik, Wissenschaft und Publizistik als Werbeträger der Versicherungswirtschaft
Die Woche begann mit der Botschaft, die Rentner müssten sich für weitere Jahre auf Nullrunden einstellen. Möglicherweise 10 Jahre lang, so der Ministerpräsident von Niedersachsen Christian Wulff (CDU). (Entsprechende AP-Meldung siehe Anhang) In den Koalitionsvereinbarungen ist die Rede von vier Jahre dauernden Nullrunden. Zugleich haben die Koalitionäre verlautbart, dass sie nicht wissen, wie es danach weitergeht.
In diesen Kontext gehört dann auch noch die Erhöhung des Renten-Eintrittsalters auf 67 Jahre. Alle diese lautstark vorgetragenen Einschätzungen und Vereinbarungen untergraben das Vertrauen in die gesetzliche Rentenversicherung. Das ist auch so gedacht.
Die Berliner Koalitionäre arbeiten – wie schon Rot-Grün – eng zusammen mit der Versicherungswirtschaft und den Banken. Sie gebärden sich wie bezahlte Werbeagenten dieser Unternehmen.
Die Woche geht übrigens mit der Nachricht zu Ende, dass der Bundespräsident zusammen mit der Bertelsmann-Stiftung in Sachen Demographie tätig wird. (Siehe Tagebucheintrag vom 26.11.2005 und “idw-online”). Auch die Dramatisierung des demographischen Problems dient der Werbung für die Privatvorsorge.
Die Lebensversicherer setzen auf die Riester-Rente und andere Formen der Privatvorsorge. Sie haben diese Modelle bisher schlecht verkauft und drängen deshalb offenbar auf eine weitere Erosion des Vertrauens in die gesetzliche Rente und auf eine weitere staatliche finanzielle Förderung. Trotz knapper Kassen ist die Subvention für die Privatvorsorge in Form der Förderrente auch jetzt bei den Koalitionsgesprächen und bei den weiteren Spar-Überlegungen des Finanzministers nie infrage gestellt worden. Obwohl der Staat angeblich überall sparen muss. Hier erwägt er es nicht.
In diesem Zusammenhang ein paar Zahlen:
Am 30.9.2005 gab es 4,7 Mio. Riester-Rente-Verträge.
Bisher wurden 551,5 Mio € an Zulagen ausgezahlt.
Nach den Zahlen der Steuerschätzung vom Nov. 2005 ist unter Berücksichtigung des Sonderausgabenabzugs mit folgenden Aufwendungen zu rechnen:
06: 870 Mio., 07: 1650 Mio., 08: 2002,5 Mio., ab 2009 mit jährlich 3195 Mio. €. Aus dem Subventionsaufwand für die Riester-Rente könnte man ab dem Jahr 2007 locker eine Rentenerhöhung von 1,5% p.a. finanzieren. (Eine Rentenerhöhung um 1% kostet 2,1 Milliarden €)
Die Versicherungswirtschaft kann und konnte sich offenbar auf alle Parteien, die in Fraktionsstärke im früheren Bundestag vertreten waren und als potentielle Regierungsparteien im Spiel waren, verlassen. Anders ist die Tatsache nicht zu erklären, dass zum Beispiel die Allianz AG schon im Vorfeld der Bundestagswahl in Kooperation mit der Bild-Zeitung eine große Kampagne für die so genannte Volksrente (= Riester-Rente) begann. Eine solche teure Kampagne hätte auch ein großes Unternehmen wie die Allianz AG nicht beginnen können, wenn sie nicht ganz sicher gewesen wäre, dass jede Regierung, gleich welcher Farbe, die Privatvorsorge finanziell und propagandistisch auch nach den Wahlen fördern wird.
Dahinter steckt eine langfristig angelegte Strategie der Versicherungswirtschaft. Offenbar sind die Parteien ihre Werkzeuge. Das stelle ich ganz nüchtern fest. Eine solche Feststellung erscheint nur deshalb exotisch, weil kaum mehr jemand die Wahrheit sagt über die Verflechtung von Politik und Wirtschaft und über den Einfluss der Wirtschaft auf die Politik.
Da ich in meiner früheren beruflichen Tätigkeit als Wahlkampfplaner für die SPD und als Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt des Öfteren an der Erarbeitung und Formulierung von Strategien der Meinungsbeeinflussung beteiligt war, kann ich mich gut in die Lage und das Denken jener Kolleginnen und Kollegen versetzen, die für die Lebensversicherungs-Konzerne und die Banken Strategien formulieren. Wäre ich in ihrer Rolle gewesen, hätte ich ungefähr folgende Stichworte notiert. Wenn ich von wir spreche, dann ist diese Gruppe gemeint.
Hier also Elemente einer Strategie der Versicherungswirtschaft und der Banken zur Diskreditierung der gesetzlichen Rente:
- Die weitere Dynamik der Versicherungswirtschaft und des Bankensystems ist wesentlich darauf angewiesen, dass wir das Betätigungsfeld der privaten Lebensversicherer erweitern. Da liegt es nahe, sich dessen zu erinnern, dass die gesetzliche Rente allein mit den Beitragseinnahmen – bezogen auf das Jahr 2002 – ungefähr das dreifache der privaten Lebensversicherer umsetzt. Wenn es uns gelingt, nur 10% dieser Beiträge auf private Vorsorge um zu lenken, erzielen wir einen Umsatzzuwachs von ungefähr 25% und ungefähr 15 Milliarden €.
- Angesichts solcher zu erwartender Prämienzuwächse, müsste es möglich sein, mehrere 100 Millionen für Werbezwecke, für Lobbyarbeit bei der Politik, für die Finanzierung von Parteien, Wissenschaftlern und Publizisten abzuzweigen.
- Die gesetzliche Rente beziehungsweise das Umlageverfahren muss diskreditiert werden. Wir müssen alles tun, damit die Mehrheit und in jedem Fall die jungen Leute das Vertrauen in die gesetzliche Rente verlieren.
- Das geschieht einerseits propagandistisch und andererseits durch entsprechende politische Entscheidungen.
- Es war richtig, die sozialen Kosten der deutschen Einheit und die Rentenkosten des Aussiedlerzuzugs den Beitragszahlern aufzubürden. Dadurch wurden die Beiträge um 4 bis 5% erhöht. Das hat die Beitragszahler belastet und geärgert. Zugleich hat diese Belastung geholfen, die Beitragsstabilität als Ziel der Politik zu verankern.
- In dem es gelungen ist, die politischen Kräfte quasi aller Parteien auf Beitragsstabilität als Ziel zu fixieren, wurde quasi automatisch verankert, dass die Renten nur noch wenig oder gar nicht mehr steigen können. Damit schwindet das Vertrauen der Menschen, dass diese Art der Altersvorsorge ausreicht.
- Die Festlegung der großen Koalition, die Renten jetzt vier jahrelang nicht mehr steigen zu lassen und für die Zeit danach weitere Unsicherheit zu verbreiten, ist ein großer Erfolg unserer Strategie. Damit wird es gelingen, das letzte noch vorhandene Vertrauen in die gesetzliche Rente zu zerstören. Wenn die Renten nominell festgehalten werden und damit real in ihrem Wert fallen, dann wird auch faktisch dokumentiert, dass die Arbeitnehmer eine zusätzliche Privatvorsorge brauchen, um sich vor Altersarmut zu schützen.
- Es muss gelingen, das Kapitaldeckungsverfahren als dem Umlageverfahren überlegen darzustellen. Ein zentrales Mittel in dieser Überzeugungsarbeit ist die Thematisierung des so genannten demographischen Problems. Noch in den siebziger Jahren war es unmöglich, den Deutschen einzureden, das Wenigerwerden und das Älterwerden der deutschen Gesellschaft sei ein Problem.
- Das wird heute dank unserer Öffentlichkeitsarbeit wesentlich anders gesehen. Daran müssen wir weiterarbeiten und weiter behaupten:
- Es gibt zu wenige Kinder, wir leiden unter dem Wenigerwerden.
- Die Alterslast wird unerträglich, der Generationenvertrag trägt nicht mehr.
- Die jetzige Generation und ohnehin die Generation der Rentner leben auf Kosten der jungen Generation. Oder in anderer Formulierung: das Gerechtigkeitsproblem gibt es heute vor allem als Problem der Generationengerechtigkeit.
- Das Umlageverfahren stammt von Bismarck und ist veraltet.
- Das Kapitaldeckungsverfahren hat den Vorteil, dass dabei Kapital angesammelt wird, das Früchte trägt. Diese (falsche, weil nur einzelwirtschaftlich und nicht gesamtwirtschaftlich geltende) Behauptung können wir nur dann durchhalten, wenn wir Wissenschaftler auf unsere Seite ziehen, die sich diese Behauptung zueigen machen und in Variationen immer wieder behaupten. Dabei kommt es vor allem darauf an, das so genannte Mackenroth-Theorem anzuzweifeln. Dieses Theorien besagt zu Recht, dass völlig unabhängig davon, welches System zur Finanzierung der Renten angewandt wird, immer die arbeitende Generation für die Rentnergeneration und die Jungen/Kinder sorgen muss. Obwohl daran nicht zu zweifeln ist, ist es uns gelungen, Wissenschaftler dafür zu gewinnen, das Mackenroth-Theorem in Zweifel zu ziehen.
- Die Arbeitslosigkeit und die schlechte Konjunktur müssen wir nutzen, um die mangelnde Solidität der kollektiven Sicherungssysteme wie etwa der gesetzlichen Rente immer wieder sichtbar zu machen. Aus diesen Gründen haben wir kein besonderes Interesse an einer schnellen Überwindung der Rezession. Die Krise hilft, Strukturreformern wie die Umstellung von gesetzliche Rente zu Privatvorsorge einsichtig erscheinen zu lassen.
Das waren in Stichworten die Elemente einer Strategie der Versicherungswirtschaft zur Diskreditierung der gesetzlichen Rente und zur Beförderung der Privatvorsorge. Die formulierte Strategie entspricht ungefähr dem, was wir heute und seit Jahren erleben.
Die hier skizzierte Auslieferung der Politik an Einzelinteressen wäre ja notfalls hinzunehmen, wenn die Förderung der Privatvorsorge gesellschaftspolitisch von Vorteil wäre. Davon kann aber nicht die Rede sein:
Erstens sind die Privatvorsorge Systeme unsicherer als die gesetzliche Rente. Das zeigt der Zusammenbruch solcher Systeme in den USA, in Großbritannien, in vielen Ländern Osteuropas, in Chile und anderen südamerikanischen Staaten. Zweitens ist die Privatvorsorge das teurere System. Die Kosten für Betrieb und Vertrieb des Kapitaldeckungsverfahrens sind um das mehrfacher höher als für das Umlageverfahren. Das Umlageverfahren kostet in Deutschland maximal 4%. 4% der eingezahlten Beiträge werden jährlich für die Kosten des Betriebs dieses Systems, also für die Landesversicherungsanstalten und die BfA ausgegeben. Die Riester-Rente verbraucht schon rund 10% der eingezahlten Prämien für Verwaltung und Vertrieb. Es fallen Provisionen an, es muss Werbung gemacht werden und es müssen Vermögensdispositionen getroffen werden. Das alles kostet. Manche Privatvorsorge-Systeme in Großbritannien verbrauchen hierfür 40% der Prämien. Die private Altersvorsorge in Chile kostet rund 18%. Chile ist deshalb interessant, weil dort von Diktator Pinochet und seinem Arbeitsminister Pinera die Umstellung von der staatlichen Rente zur Privatvorsorge betrieben worden ist. Die Arbeitnehmer wurden gezwungen, in die Privatvorsorge zu wechseln. Das Militär und die Polizei konnten sinnigerweise und bezeichnenderweise beim Staat bleiben. Heute ist die private Altersvorsorge der Arbeitnehmer in Chile auf breiter Front zusammengebrochen. Der Staat muss mit Steuergeldern die Privatvorsorge-Systeme nachfinanzieren, wenn er vermeiden will, dass die Altersarmut extrem wird. Deshalb hat der chilenische Präsident bei einem Besuch in Berlin im Januar dieses Jahres ausdrücklich empfohlen, die chilenischen Erfahrungen bei der Weiterentwicklung der deutschen Altersvorsorge mit einzubeziehen.
Seine Warnung war eine eindrucksvoller Empfehlung für die Stabilisierung des Umlageverfahrens und der Gesetzlichen Rente. Die Vereinbarungen der großen Koalition, die Einlassungen von Christian Wulff und die Partnerschaft des Bundespräsident mit der Bertelsmann-Stiftung in Sachen demographischen Problem sind das Gegenteil dessen. Ihr wichtigster Zweck: die Erosion des Vertrauens in die gesetzliche Rente. Bei den jungen Leuten verfängt diese Propaganda. Das ist dramatisch. Es ist höchste Zeit, die Ziele dieser Propaganda offen zulegen. Deshalb dieser wiederholte Hinweis.
Anhang Meldung AP vom 20.11.2005:
Renten könnten laut Wulff zehn Jahre lang nicht steigen
Frankfurt/Main (AP) Rentner müssen sich nach Einschätzung des niedersächsischen Ministerpräsidenten Christian Wulff auch in den kommenden Jahren auf Nullrunden einstellen. «Die nächsten Jahre werden die Renten nicht steigen können», sagte der CDU-Politiker am Sonntag in Hamburg bei einer Diskussionsveranstaltung der Wochenzeitung «Die Zeit». Wulff nannte als Zeitraum «möglicherweise zehn Jahre». Wulf sagte, es gebe einen «Nachholbedarf» bei den Renten auf Grund der demographischen Entwicklung in Deutschland, weil immer weniger Beitragszahler immer mehr Rentner finanzieren müssen. Die Bürger sollten sich darauf einstellen und privat stärker vorsorgen. «Es ist ein Stück ankommen in der Wirklichkeit», sagte Wulff über die geplanten Maßnahmen von CDU und SPD in der Rentenpolitik. Wulff räumte ein, dass die problematische Bevölkerungsentwicklung den Politikern lange bekannt gewesen sei, dass diese aber «die falschen Schlüsse daraus gezogen haben».