Am 4. April 2023 ist Finnland das 31. Mitgliedsland der NATO geworden. Dieser Beitritt zum nordatlantischen Bündnis hat nicht nur Auswirkungen für Finnland selbst, sondern auch für alle anderen Bündnispartner. Die NATO-Grenze mit Russland hat sich jetzt mit 2.600 Kilometern ziemlich genau verdoppelt und damit auch die entsprechende NATO-Bündnisverpflichtung. Somit stellt sich die Frage, welche Konsequenzen diese erneute Ost-Erweiterung der NATO für die Sicherheit Europas in seiner Gesamtheit hat. Von Jürgen Hübschen.
Kurzer historischer Rückblick
In diesem Zusammenhang ist es für das Gesamtverständnis wichtig, sich die wesentlichen Fakten der geopolitischen Entwicklung Europas nach dem Ende des 2. Weltkrieges in Erinnerung zu rufen.
Staaten, die aus der ehemaligen Sowjetunion (UdSSR) hervorgegangen sind:
Armenien, Aserbaidschan, Estland, Georgien, Kasachstan, Kirgisien, Lettland, Litauen, Moldawien, Russische Föderation, Tadschikistan, Turkmenistan, Ukraine, Usbekistan und Weißrussland.
Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes (WP):
Neben der UdSSR gehörten Albanien, Bulgarien, die DDR, Polen, Rumänien, die Tschechoslowakei und Ungarn zum Warschauer Pakt. Der WP wurde am 1. Juli 1991 aufgelöst.
NATO-Mitglieder, die früher zur UdSSR oder zum Warschauer Pakt gehörten, mit dem Jahr ihres Beitritts: Albanien (2009), Bulgarien (2004), ehemalige DDR (mit der deutschen Wiedervereinigung), Estland (2004), Lettland (2004), Litauen (2004), Polen (1999), Rumänien (2004), Slowakei (2004), Tschechische Republik (1999) und Ungarn (1999).
Das heißt im Klartext: 11 von 14 Staaten, die unter der Vorherrschaft der UdSSR standen, haben zwischen 1999 und 2004 de facto die Seiten gewechselt. Um das richtig einordnen zu können, sollte man sich diese Veränderungen einmal auf einer Karte ansehen.
Die Erweiterung der NATO zwischen 1949 und 2022
Die NATO wurde 1949 von 12 Mitgliedsstaaten gegründet, der Warschauer Pakt übrigens erst 1955. Bis 2022 gehörten 30 Staaten dem Bündnis an. Zuletzt beigetreten waren 2017 Montenegro und 2020 Nord-Mazedonien. Der von den USA angestrebte Beitritt Georgiens und der Ukraine scheiterte 2008, weil Deutschland und Frankreich unter Berufung auf Artikel 10 des NATO-Vertrages ihre Zustimmung versagten und damit die erforderliche Einstimmigkeit nicht gegeben war.
Artikel 10 des NATO-Vertrages und die herausragende Rolle der USA
Weil dieser Artikel 10 des NATO-Vertrages aktuell beim Beitritt Finnlands eine wesentliche Rolle gespielt hat, ist es wichtig, sich seinen Originaltext vor Augen zu führen:
„Die Parteien können durch einstimmigen Beschluss jeden anderen europäischen Staat, der in der Lage ist, die Grundsätze dieses Vertrags zu fördern und zur Sicherheit des nordatlantischen Gebiets beizutragen, zum Beitritt einladen. Jeder so eingeladene Staat kann durch Hinterlegung seiner Beitrittsurkunde bei der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika Mitglied dieses Vertrags werden. Die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika unterrichtet jede der Parteien von der Hinterlegung einer solchen Beitrittsurkunde.“
Der offizielle NATO-Beitritt Finnlands
Am 4. April 2023 wurde im NATO-Hauptquartier in Brüssel im Beisein des US-amerikanischen Außenministers Antony Blinken der formelle Beitritt Finnlands vollzogen. Finnland war durch seinen Außenminister Pekka Haavisto vertreten, die NATO durch Generalsekretär Jens Stoltenberg. Um deutlich zu machen, wie die „Rollenverteilung“ zwischen den USA, dem NATO-Generalsekretär und einem neuen NATO-Mitglied aussieht, macht es Sinn, sich den Ablauf des formalen Akts zum NATO-Beitritt noch einmal vor Augen zu führen:
US-Außenminister Blinken: „Herr Generalsekretär, Herr Minister, ich bin erfreut zu berichten, dass gerade vor wenigen Augenblicken die Türkei bei mir, als Vertreter der Vereinigten Staaten, die Ratifizierung des Beitrittsdokuments für den NATO-Beitritt Finnlands hinterlegt hat. Und mit der Entgegennahme und Annahme der Niederschrift kann ich sagen, dass das Verfahren nunmehr in Kraft ist.“
NATO-Generalsekretär Stoltenberg: „Herzlichen Dank. Dies sind großartige Neuigkeiten, Außenminister Blinken. Und damit kann ich Ihnen, Minister Haavisto, im Namen aller NATO-Mitgliedsländer die offizielle Einladung an die Republik Finnland überreichen, der NATO beizutreten. Bitte sehr.“
Finnischer Außenminister Haavisto: „Vielen Dank.”
NATO-Generalsekretär: „Und gleichzeitig bitte ich Sie, Ihre Beitrittsdokumente bei der amerikanischen Regierung zu hinterlegen, die hier durch Außenminister Blinken vertreten wird.“
Haavisto: „Danke, Herr Generalsekretär, danke Außenminister Blinken.
Jetzt, nachdem ich die Einladung erhalten habe, ist es mir eine große Freude, Finnlands Beitrittsdokumente beim Außenminister der Vereinigten Staaten zu hinterlegen. Bitte.“
US-Außenminister Blinken: „Herzlichen Dank, wir können jetzt verkünden, dass Finnland das 31. Mitglied der NATO ist.“
Die Bedeutung des NATO-Beitritts Finnlands
Bedeutung für Finnland
Finnland hat seine traditionelle politische Unabhängigkeit aufgegeben, weil das Land sich von einem NATO-Beitritt mehr Sicherheit verspricht. In Helsinki war und ist man sich offensichtlich darüber im Klaren, dass die eigene Armee im Falle eines russischen Angriffs nicht in der Lage sein würde, das Land zu verteidigen, insbesondere vor dem Hintergrund der etwa 1.300 km langen gemeinsamen Grenze mit Russland. Nach vorliegenden Berichten stimmen 80 Prozent der Finnen dem NATO-Beitritt ihres Landes zu. 20 Prozent sind der Meinung, dass es besser gewesen wäre, den neutralen Status beizubehalten, weil keine konkrete Gefahr durch den russischen Nachbarn gesehen wird und weil zudem Finnland jetzt nicht mehr als Vermittler bei internationalen Krisen agieren kann. Finnlands Präsident Sauli Niinistö bezeichnete den NATO-Beitritt seines Landes als „Beginn einer neuen Ära“. Die Zeit der militärischen Bündnisfreiheit seines Landes sei nun zu Ende gegangen, erklärte das finnische Staatsoberhaupt und betonte:
„Es ist ein großartiger Tag für Finnland.“
Die NATO-Mitgliedschaft verschaffe Finnland Sicherheit, gleichzeitig stärke der Schritt, so Niinistö, die regionale Stabilität.
Bedeutung für die NATO
Die Aufnahme Finnlands erfolgte genau 74 Jahre nach der Gründung der NATO am 4. April 1949 in Washington. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg erklärte, er könne sich kaum etwas Besseres vorstellen, als diesen Geburtstag mit dem Beitritt Finnlands zu feiern. Er machte deutlich, „dass er den Beitritt Finnlands als Zeichen für ein Scheitern der Politik von Russlands Präsident Wladimir Putin sieht“. Ein erklärtes Ziel der Invasion in die Ukraine sei es gewesen, weniger NATO an der russischen Grenze zu haben und neue Mitgliedschaften zu verhindern. Nun bekomme Putin genau das Gegenteil, nämlich mehr NATO-Truppen im östlichen Teil des Bündnisses und mehr NATO-Mitglieder. Zugleich betonte Stoltenberg, dass es für Russland keinerlei Grund gebe, sich durch die „Norderweiterung“ bedroht zu fühlen. Er widersprach auch Darstellungen, das Bündnis wolle Russland regelrecht einkreisen, und die NATO begründet das wie folgt:
Nach vorliegenden Statistiken hat Russland eine Landgrenze von insgesamt 22.407 Kilometern, davon bislang nur 1.317, die an NATO-Staaten grenze: 324 Kilometer mit Estland, 332 mit Lettland, 191 mit Norwegen und zusätzlich durch die Kaliningrader Oblast 261 Kilometer mit Litauen und 209 mit Polen. Durch den Beitritt Finnlands erhöht sich die Grenze zu NATO-Staaten um etwa weitere 1.300 Kilometer. Die Überwachung der Ostsee wird durch den Beitritt Finnlands erheblich verbessert und durch den geplanten Beitritt Schwedens weiter ausgebaut, so dass die Ostsee dann, abgesehen von der russischen Kaliningrader Oblast, auf beiden Seiten von NATO-Staaten „eingerahmt“ ist.
Massive Ausweitung der NATO-Bündnisverpflichtung
Was Stoltenberg nicht erwähnte: Durch die finnische Mitgliedschaft verdoppelt sich die direkte Grenze zwischen der NATO und Russland auf jetzt 2.600 Kilometer.
Für die NATO ist dies eine massive Ausweitung der Bündnisverpflichtung gemäß Artikel 5 des NATO-Vertrages. Auch wenn die finnischen Streitkräfte über eine hohe Einsatzbereitschaft verfügen sollen, sind sie mit einer Antrittsstärke von lediglich 12.000 Soldaten nicht in der Lage, das Land alleine zu verteidigen. Auch die hohe Anzahl von Reservisten würde das vermutlich nicht ändern, weil viele Angehörige der Reserve relativ alt sind und zum Teil seit Jahrzehnten nicht mehr geübt haben. Eine weitere Frage ist, ob die grundsätzlich sehr gut ausgerüsteten finnischen Streitkräfte auch dann noch über genügend moderne Waffensysteme verfügen, wenn sich die Personalstärke durch einberufene Reservisten immens erhöhen würde.
Deshalb kann es durchaus kontrovers diskutiert werden, ob die Forderung aus Artikel 10 des NATO-Vertrags, nämlich ob der Beitritt Finnlands zur NATO tatsächlich auch einen Beitrag zur Sicherheit des Bündnisses darstellt. Ich persönlich glaube das nicht, weil sich die Beistandsverpflichtung der NATO durch die rund 1.300 Kilometer lange finnisch-russische Grenze immens erhöht, während die finnische Armee mit einer Antrittsstärke von wie bereits erwähnt lediglich 12.000, wenn auch gut ausgebildeten und modern ausgerüsteten aktiven Soldaten die Verteidigungsfähigkeit der NATO nicht in einem vergleichbaren Maße verbessert.
Bedeutung für andere europäische Mitgliedsstaaten
Aus Sicht der baltischen Staaten erhöht sich deren Sicherheit auf Grund der geografischen Nähe Finnlands. Das gilt im besonderen Maße für die beiden Länder Estland und Lettland, die gemeinsame Grenzen mit Russland haben, während Litauen lediglich an die Kaliningrader Oblast grenzt. Für die übrigen europäischen NATO-Länder ändert sich an der jeweiligen nationalen Sicherheit durch den Beitritt Finnlands nichts. In der Gesamtbetrachtung ihrer Sicherheit hat sich die Bündnisverpflichtung durch die ca. 1.300 Kilometer lange finnisch-russische Grenze allerdings erheblich ausgeweitet, weil diese ein wesentliches Sicherheitsrisiko darstellt. Daran ändert auch das militärische Potential der USA auf der anderen Seite des Atlantiks nichts.
Bedeutung für die USA
Der gesamte Ablauf des NATO-Beitritts Finnlands hat unmissverständlich verdeutlicht, dass die Fäden in einem solchen Vorgang nicht in Brüssel, sondern in Washington gezogen werden. Es ist schwer nachvollziehbar, warum auch heute noch alle relevanten Dokumente im Zusammenhang mit der NATO-Mitgliedschaft in Washington und nicht in Brüssel aufbewahrt werden und warum der NATO-Oberbefehlshaber immer ein US-amerikanischer und nie ein europäischer General ist, obwohl 30 Mitgliedsstaaten zu Europa gehören. Wie für die europäischen Mitgliedsländer der NATO erhöht sich für die USA zwar auf der einen Seite ebenfalls die Bündnisverpflichtung nach Art. 5 des Vertrages wegen der langen gemeinsamen Grenze zwischen Finnland und Russland ganz erheblich, aber auf der anderen Seite verstärkt Washington seinen sicherheitspolitischen Einfluss in Europa deutlich. Hinzu kommt, dass die USA durch den Beitritt Finnlands direkt an der russischen Grenze präsent sein werden. Es ist davon auszugehen, dass es in naher Zukunft auch US-amerikanische Stützpunkte in Finnland geben wird. Um formal nicht gegen die 2+4 Abmachungen zu verstoßen, werden US-Truppen vermutlich zunächst rotierend in Finnland stationiert werden, um nach einer Übergangsphase, so wie aktuell in Polen, permanent vor Ort zu bleiben. Außerdem dürften die Lieferungen von US-Waffen deutlich zunehmen. Last, but not least haben die USA ihre Position gegenüber Russland durch die erneute Erweiterung der NATO gestärkt und deutlich gemacht, dass über eine Vergrößerung der NATO nicht in Moskau, sondern in Washington entschieden wird.
Bedeutung für Russland
Aus russischer Sicht ist der Beitritt Finnlands eine Provokation und eine Bedrohung der eigenen Sicherheit. Präsident Wladimir Putin hat in der Vergangenheit immer wieder deutlich gemacht, dass er mit der NATO-Erweiterung in Richtung Russland ein großes Problem hat. Entsprechend reagierte Moskau in den vergangenen Monaten auf den Beitrittsprozess Finnlands. Das russische Außenministerium kritisierte, ein Beitritt des Nachbarn werde den russisch-finnischen Beziehungen schweren Schaden zufügen:
„Russland wird gezwungen sein, entsprechend zu antworten – in militärisch-technischer und in anderer Hinsicht -, um den Gefahren mit Blick auf seine nationale Sicherheit Rechnung zu tragen.“
Wie Russland auf die erneute Erweiterung konkret reagieren wird und vor allem darauf, dass das Bündnis jetzt erheblich umfassender an die russische Grenze herangerückt ist, bleibt abzuwarten.
Zusammenfassende Bewertung
Nicht nur im Zusammenhang mit der Sicherheit Europas ist es grundsätzlich erforderlich, nach dem Grundsatz zu handeln: „Audiatur et altera pars“ (man sollte immer auch die andere Seite hören). Die NATO beansprucht für sich, ein Verteidigungsbündnis zu sein, das niemanden bedroht, aber dieses eigene subjektive Verständnis ändert nichts daran, dass Moskau dieses Bündnis und vor allem seine ständige Erweiterung in Richtung Russland als eine Bedrohung der eigenen Sicherheit einstuft.
Der ehemalige US-Botschafter in Moskau und heutige Chef der CIA, William Burns, schreibt in seinem Buch „The Black Channel“:
„Mit der Unterstützung von Präsident Bush „verkaufte“ James Baker (damaliger US-Außenminister) im frühen Februar 1990 folgendes Konzept an den deutschen Kanzler Helmut Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher: Zustimmung, die Zwei-Plus-Vier-Verhandlungen zu nutzen, um Druck auszuüben für eine rasche Wiedervereinigung und vollständige NATO-Mitgliedschaft, bei gleichzeitiger Zusicherung gegenüber der Sowjetunion, dass die NATO nicht nach Osten erweitert und umstrukturiert wird, um so das Ende des Kalten Krieges und eine potentielle Partnerschaft mit der Sowjetunion widerzuspiegeln.“
Der ehemalige deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt stellte mit politischem Weitblick bereits 1993 fest.
„Wenn ich ein sowjetischer Marschall wäre oder ein Oberst, würde ich die Ausdehnung der NATO-Grenzen, erst von der Elbe bis an die Oder und dann über die Weichsel hinaus bis an die polnische Ostgrenze, für eine Provokation und eine Bedrohung des Heiligen Russlands halten. Und dagegen würde ich mich wehren. Und wenn ich mich heute nicht wehren kann, werde ich mir vornehmen, diese morgen zu Fall zu bringen.“
Das wird hoffentlich nicht passieren, aber der Krieg in der Ukraine hat unmissverständlich klargemacht, dass Russland auch vor einem Krieg nicht zurückschreckt, wenn dieser der Durchsetzung eigener Interessen und der Abwehr einer subjektiv wahrgenommenen Bedrohung der eigenen Sicherheit dient. Wenn man eine erneute Blockbildung in Europa und letztlich auch in der ganzen Welt vermeiden will, muss die aktuelle Eskalationsspirale in der Ukraine gestoppt und ein Waffenstillstand erreicht werden, der eine stabile Sicherheitsstruktur ganz Europas zum Ziel haben muss.
Der ehemalige außenpolitische Berater der damaligen Bundesregierung, Egon Bahr, hat zu diesem Thema festgestellt:
„Europa kann seine Stabilität nur gewinnen, wenn es sicherheitspolitisch zwischen Lissabon und Wladiwostok für seine Staaten eine Struktur mit gemeinsamen Regeln formt … Das amerikanische Interesse verlangt das Ziel einer sich selbst tragenden Sicherheitsstruktur für ganz Europa nicht, das europäische Interesse aber sehr wohl.“
Mein persönliches Fazit des NATO-Beitritts Finnlands lautet deshalb: Die Sicherheit Europas wird durch den NATO-Beitritt Finnlands nicht gestärkt und zwar nicht zuletzt deshalb, weil Russland bis zum Ural ein Teil dieses Europas ist und auch immer bleiben wird.
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