Hinweise des Tages

Jens Berger
Ein Artikel von:

Heute unter anderem zu folgenden Themen: Atomausstieg; Stuttgart 21; Eurozone: Spanien in der Abwärtsspirale; Hartz-IV-Reform hat durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit nicht reduziert; Nur 8,3 % arme Kinder?; Altersvorsorge Riester-Rente – Wer blickt da noch durch?; Deutschland droht ein dramatischer Ärztemangel; XXL-Aufschwung geht an Bürgern vorbei; Nie tariffähig gewesen; Fukushima – schon vergessen; Die Schlacht der alten Männer; Ungewöhnliche Demut; Afghanistan; Neuausrichtung der Bundeswehr; Linksliberaler Terror; Aufbruch in neue Milieus; Wirtschaft gegen Geheimverträge (KR/WL/JB)

Hier die Übersicht; Sie können mit einem Klick aufrufen, was Sie interessiert:

  1. Atomausstieg
  2. Stuttgart 21
  3. Eurozone: Spanien in der Abwärtsspirale
  4. Hartz-IV-Reform hat durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit nicht reduziert
  5. Gerd Bosbach, Jens Jürgen Korff: Nur 8,3 % arme Kinder?
  6. Altersvorsorge Riester-Rente – Wer blickt da noch durch?
  7. Deutschland droht ein dramatischer Ärztemangel
  8. XXL-Aufschwung geht an Bürgern vorbei
  9. Nie tariffähig gewesen
  10. Fukushima – schon vergessen
  11. Die Schlacht der alten Männer
  12. Analyse: Ungewöhnliche Demut
  13. „Bis an die Zähne korrupt“
  14. Neuausrichtung der Bundeswehr
  15. Linksliberaler Terror
  16. Aufbruch in neue Milieus
  17. Wirtschaft gegen Geheimverträge

Vorbemerkung: Wir kommentieren, wenn wir das für nötig halten. Selbstverständlich bedeutet die Aufnahme in unsere Übersicht nicht in jedem Fall, dass wir mit allen Aussagen der jeweiligen Texte einverstanden sind. Wenn Sie diese Übersicht für hilfreich halten, dann weisen Sie doch bitte Ihre Bekannten auf diese Möglichkeit der schnellen Information hin.

  1. Atomausstieg
    1. Die Hintertürchen sind riesige Tore für die Atomkonzerne
      Während sich die Koalition für ihr Ausstiegskonzept lobt, sind Atomkraftgegner entsetzt. Jochen Stay von “ausgestrahlt” sagt, die Kanzlerin habe den gesellschaftlichen Konsens aufgekündigt. Merkel sei nicht nur vor der Energielobby eingeknickt, sondern biete dem neuen FDP-Chef Rösler die Chance, sich zu profilieren – um bis 2013 durchzuhalten.
      Quelle: Süddeutsche Zeitung
    2. IPPNW: “Anschlag auf den Volkswagen der Energiewende”
      Die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW kritisiert den Beschluss von Union und FDP zur drastischen Kürzung der Solarförderung als “Anschlag auf den Volkswagen der Energiewende”. Medienberichten zufolge sollen die Vergütungssätze für die Photovoltaik noch stärker abgesenkt werden als von Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) ohnehin schon geplant war. Statt den Ausbau der Photovoltaik als Ersatz für Atomkraftwerke zu beschleunigen, plant die Bundesregierung ein regelrechtes Bestrafungssystem zur Entschleunigung des Zubaus: So sollen die Vergütungssätze für im Jahr 2012 gebaute Anlagen umso stärker gesenkt werden, je mehr Kapazität insgesamt neu entstehen wird.
      Mit diesem Anschlag auf die Photovoltaik begibt sich die Regierungskoalition in Widerspruch zu der von ihr eingesetzten Ethikkommission. Diese stellte in ihrem Abschlussbericht vom 30. Mai fest, die Photovoltaik werde von vielen Menschen gewünscht und betrieben. Die Kommission plädiert für eine starke Rolle der Photovoltaik in Verbindung mit dezentralen Energiespeichern und betont ausdrücklich die Vorteile einer dezentralen Energiewirtschaft…
      Quelle: Saarländische Online-Zeitung
    3. Verstaatlicht das Stromnetz!
      Die Energieversorgung nach Marktgesetzen ist gescheitert. Nur die öffentliche Hand, die schon heute permanent eingreifen muss, kann noch die Wende zum Ökostrom organisieren…
      Die Sicherung der Energieversorgung war schon immer eine hoheitliche Aufgabe und die Liberalisierung hat weniger den Stromkunden genützt als den Bilanzen der marktdominanten Konzerne, die mit ihren billigen alten Kraftwerken enorme Gewinne einfahren konnten. Nun ist mit der ökologischen Energiewende eine weitere Aufgabe hinzugekommen, die das Marktsystem endgültig überfordert.
      Es ist also an der Zeit, dass der Staat seine Rolle nicht über komplizierte und fehleranfällige Regeln, sondern direkt ausübt. Es ist an der Zeit, den Stromsektor zum Teil von der impliziten in die explizite Verstaatlichung zu bringen.
      Quelle: Frankfurter Rundschau
  2. Stuttgart 21
    1. Stuttgart 21 braucht ein “Wunder”
      Ganze 49 Züge in einer Stunde soll er abfertigen, der neue Tiefbahnhof Stuttgart 21. Die Bahn versucht, diese Leistungsfähigkeit ihres Großprojektes im Stresstest zu belegen. Laut einer Studie, die dem stern vorliegt, ein unrealistisches Ziel.
      Der Deutschen Bahn drohen beim umstrittenen Großprojekt Stuttgart 21 neue Probleme. Eine Studie, die dem stern vorliegt, kommt zu dem Schluss, dass der Bahnhof einen “Rückbau der Infrastruktur” bedeute. Das Ziel der Bahn, in dem geplanten Tiefbahnhof 49 Züge in einer Stunde abzufertigen, sei unrealistisch.
      Die Zahl war ein Ergebnis der Schlichtungsverhandlungen. Ein Stresstest soll den Nachweis erbringen, dass die Bahn in Stuttgart diese hohe Anzahl an Zügen abfertigen kann. Um das zu schaffen, so ein Ergebnis der Studie der Schweizer Fachzeitschrift “Eisenbahn-Revue International”, müsste Stuttgart 21 im Schnitt pro Gleis rund 50 Prozent mehr Züge abfertigen, als heute maximal von deutschen Bahnhöfen geleistet wird. Wenn S 21 den Stresstest bestehen sollte, wäre das ein Wunder, bilanziert Autor Christoph M. Engelhardt.
      Quelle: Stern
    2. Die Bagger kommen wieder
      Seit der Landtagswahl in Baden-Württemberg ruht die Arbeit am Bahnhofsprojekt Stuttgart 21, jetzt will die Bahn nicht mehr warten. Vom kommenden Montag an soll weitergebaut werden. Konzernchef Rüdiger Grube sagt, weitere Verzögerungen würden 410 Millionen Euro kosten – er sei gesetzlich zum Weiterbauen verpflichtet.
      Quelle: Süddeutsche Zeitung
  3. Eurozone: Spanien in der Abwärtsspirale
    Ratingagenturen stufen erneut die Kreditwürdigkeit einzelner Euro-Länder herab. Diese reagieren mit heftigen Sparprogrammen. Doch damit werden Wachstum und Beschäftigung abgewürgt, Steuereinnahmen bleiben aus und der Schuldenberg wächst weiter. Investitionen wären nötig – ohne sie droht der Zusammenbruch der Eurozone.
    Spanien war bis vor der Krise einer der Musterschüler der Eurozone. Zwischen 2000 und 2007 wuchs die Wirtschaft um durchschnittlich 3,5 Prozent. Dank robusten Wachstums gelang es der Regierung, ihre Gesamtverschuldung von 59,3 Prozent in 2000 auf 36,1 Prozent des BIP in 2007 zu reduzieren – bei einer für eine aufstrebende Ökonomie vertretbaren durchschnittlichen Inflation von knapp über drei Prozent. Das kräftige Wachstum sorgte auch für eine gute Entwicklung des Arbeitsmarktes…
    Kräftiges Wachstum und hohe Beschäftigung sorgten für sprudelnde Steuereinnahmen. Dadurch verletzte das Land anders als Deutschland oder Frankreich nie die Drei-Prozent-Neuverschuldungsgrenze…
    Die Finanz- und Wirtschaftskrise beendete den spanischen Traum. Die Immobilienblase platzte. Das BIP schrumpfte 2009 um 3,7 und 2010 um 0,1 Prozent, die Arbeitslosigkeit stieg um das 2,5fache auf mittlerweile 20,1 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit sogar auf 41,6 Prozent. Das hinterlässt fiskalische Spuren: Ohne Wachstum keine Steuereinnahmen. Ohne Steuereinnahmen keine Haushaltskonsolidierung. Der einstige Musterschüler in Sachen Haushalt hat jetzt eine Neuverschuldung von 9,2 Prozent. Die Gesamtverschuldung hat sich mit 60,4 Prozent nahezu verdoppelt.
    Die spanische Regierung setzt auf einen radikalen Sparkurs und verschärft die Krise. Wachstum und Beschäftigung werden abgewürgt, Steuereinnahmen bleiben aus und der Schuldenberg wächst trotz Haushaltskürzungen: Die Wirtschaft trudelt in die Abwärtsspirale. Spanien droht das gleiche Schicksal wie den anderen Krisenländern.
    Um aus der Krise herauszuwachsen, braucht Spanien ein Investitions- und Entwicklungsprogramm sowie einen Beschäftigungspakt für Jugendliche. Finanzierbar durch niedrig verzinste Kredite aus dem Rettungsfonds EFSF und der EZB. Wer am Sparkurs festhält, nimmt den Zusammenbruch der Eurozone in Kauf.
    Quelle: DGB

    Fritz Scharpf, Emeritus Direktor des Max Planck Instituts für Gesellschaftsforschung ließ uns folgende Kopie an den DGB zukommen:

    Liebe Kollegen,
    Ihre Analyse ist zutreffend aber unvollständig. Sie ignoriert die vor der Krise rapide gestiegenen Lohnstückkosten und Leistungsbilanzdefizite und die daraus folgende massive Überbewertung des „realen effektiven Wechselkurses“ (vgl. den angehängten Text [PDF – 1.3 MB]. Wenn Spanien nicht aus dem Euro austritt (was es tun sollte), muss es die Lohnstückkosten (und damit die Reallöhne) massiv senken, um seine internationale Wettbewerbsfähigkeit zurückzugewinnen.

    Anmerkung WL: Nun macht es sich auch noch der ehrenwerte Fritz Scharpf so leicht und empfiehlt den Austritt Spaniens aus dem Euro. Wir haben die damit verbundenen Probleme erst wieder gestern am Beispiel der Rückkehr Griechenlands zur Drachme behandelt. Darüber hinaus folgt Scharpf der „deutschen Logik“, die anderen hätten über ihre Verhältnisse gelebt, also müssten sie jetzt das seit den 90er Jahren bei uns durchgesetzte Lohndumping schleunigst nachholen, damit sie wieder wettbewerbsfähig werden. Umgekehrt wird ein Schuh draus: in Deutschland müssten die Reallöhne und damit vielleicht auch die Lohnstückkosten steigen, damit wir unsere Leistungsbilanzüberschüsse abbauen und nicht mehr länger unsere europäischen Partner niederkonkurrieren.

  4. Hartz-IV-Reform hat durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit nicht reduziert
    Die vierte Hartz-Reform sollte arbeitsfähigen Bedürftigen schneller neue Arbeitsplätze verschaffen. Eine statistische Auswertung zeigt: Das hat nicht funktioniert. Arbeitslose sind nach der Reform im Durchschnitt ebenso lang ohne Job wie vorher. Zu diesem Ergebnis kommen Sonja Fehr, Soziologin im Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), und Prof. Dr. Georg Vobruba von der Universität Leipzig. Ein Aufsatz zu ihrer Untersuchung ist in den aktuellen WSI Mitteilungen erschienen, der Fachzeitschrift des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung.
    Sonja Fehr und Georg Vobruba verglichen die Dauer der Arbeitslosigkeit von Sozialleistungsempfängern vor und nach der Hartz-IV-Reform. Nach der gängigen ökonomischen Logik wäre zu erwarten gewesen, dass erwerbsfähige Hilfsbedürftige vor der Reform relativ lange von Arbeitslosen- oder Sozialhilfe gelebt haben. Nachdem die Transferleistungen für viele gekürzt, auch schlecht bezahlte Jobs für zumutbar erklärt und Sanktionen für die Ablehnung eines Stellenangebots verschärft wurden, hätte die durchschnittliche Verweildauer in der Grundsicherung demnach zurückgehen müssen. Dies ist jedoch nicht geschehen. “Die Hartz-IV-Reform hat keine deutliche Verkürzung der Arbeitslosigkeitsepisoden gebracht”, lautet das Fazit der Wissenschaftler…
    Sie verglichen die Dauer der Erwerbslosigkeit von Arbeitslosen- oder Sozialhilfebeziehern, die zwischen Januar 2002 und Dezember 2004 arbeitslos wurden, mit der Entwicklung nach Inkrafttreten der Reform: bei Arbeitslosen, die zwischen Januar 2005 und Dezember 2007 ALG II bekamen. Die Stichprobe besteht aus 2.200 Personen für die erste und etwas weniger als 1.700 Personen für die zweite Gruppe.
    Vor Hartz IV dauerte die Arbeitslosigkeit im Mittel 12 Monate. Nach einem Jahr hatten 49 Prozent der betrachteten Arbeitslosen entweder einen Job oder standen dem Arbeitsmarkt aus anderen Gründen nicht zur Verfügung, beispielsweise wegen Aus- und Weiterbildung, Mutterschaft oder weil sie das Rentenalter erreicht hatten. Im zweiten Jahr ging die Arbeitslosigkeit um weitere 20, im dritten noch einmal um 11 Prozentpunkte zurück. Damit waren nach vier Jahren noch 13 Prozent arbeitslos (siehe auch die Infografik im Böckler Impuls; Link unten).
    Nach der Hartz-IV-Reform dauerte die Arbeitslosigkeit im Mittel 13 Monate. Nach etwas über einem Jahr war für 50 Prozent der ALG-II-Bezieher die Arbeitslosigkeit beendet. Im Folgejahr sank der Anteil der Arbeitslosen um weitere 20, im Jahr darauf um 10 Prozentpunkte. Nach vier Jahren waren 16 Prozent weiterhin arbeitslos.
    Die Forscher folgern: “Trotz des Versuchs, mit Maßnahmen der Aktivierungs- und verschärften Zumutbarkeits- und Sanktionsregelungen den Übergang vom Sozialleistungsbezug in die Erwerbstätigkeit zu forcieren, trat keine wesentliche Veränderung der Verweildauer von Sozialtransferbeziehern in Arbeitslosigkeit ein.” Weitere Berechnungen, die Faktoren wie Alter, Bildungsabschluss oder regionale Arbeitslosenquote einbeziehen, zeigen: Das Ergebnis lässt sich nicht auf eine verschlechterte Arbeitsmarktsituation oder veränderte Zusammensetzung der Arbeitslosengruppe nach der Reform zurückführen.
    Fehr und Vobruba haben eine andere Erklärung. Die Therapie konnte nicht wirken, weil die Diagnose falsch war. Sie schreiben, “das Armutsfallentheorem und die Sichtweise des öffentlichen Diskurses” stimmten darin überein, dass Armut ein Langzeitphänomen sei – einmal Sozialhilfe, immer Sozialhilfe. Diese unzutreffende Annahme sei dadurch befördert worden, dass der Armutsforschung lange Daten fehlten, die die Einkommensentwicklung personbezogen im Zeitverlauf abbilden. Tatsächlich machten die Beobachtungen der Autoren und andere neuere Studien aber deutlich, dass es bereits vor Hartz IV dem überwiegenden Teil der Arbeitslosen- und Sozialhilfebezieher gelang, aus der Arbeitslosigkeit herauszufinden. Daher stehe den durch die Reform möglicherweise entstandenen sozialen Kosten – Zunahme sozialer Ungleichheit, Ausbreitung prekärer Beschäftigung, Verletzung verbreiteter Gerechtigkeitsvorstellungen – “kein Nutzen gegenüber”, urteilen die Forscher.
    Quelle: Sonja Fehr, Georg Vobruba: Die Arbeitslosigkeitsfalle vor und nach der Hartz-IV-Reform, in: WSI-Mitteilungen 5/2011 [PDF – 481 KB].
    Wirkungslose Reformen
    Quelle: Grafik zum Download im Böckler Impuls 9/2011
  5. Gerd Bosbach, Jens Jürgen Korff: Nur 8,3 % arme Kinder?
    Wie viele Medien Anfang Mai 2011 berichteten, hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) seine Angaben über die Armutsquote bei Kindern korrigiert. Demnach gelten jetzt nicht mehr 16 %, sondern nur noch 8,3 % der deutschen Kinder als arm. Die Kritik der Journalisten geht fast einmütig davon aus, dass die alten Zahlen falsch waren und die neue nun stimmt. Doch da sind große Zweifel und Fragen zur Plausibilität angebracht.
    Die Begründung des DIW:
    Als Begründung für die Neuberechnung gibt das DIW an, dass es bei seinen Umfragen immer häufiger keine oder nur sehr lückenhafte Antworten bekomme. Um die dadurch hervorgerufenen Messfehler zu korrigieren, wende man jetzt eine neue Methode an. Egal wie gut diese Methode ist – sie kann nicht fehlende Daten ersetzen, sondern nur eine grobe Schätzung liefern. Die Stichprobe, aus der das DIW die Zahlen gewinnt, ist eher als klein zu bezeichnen (unter 4000, bei den Einkommensangaben noch geringer). Zum Vergleich: Bei Bundestagswahlen werden zur Prognose am Wahlabend 100 0000 Leute befragt, der Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes umfasst ungefähr 400 000 Haushalte.
    Gleichwohl gibt das DIW die “korrigierte Armutsquote” wieder als genaue Zahl an (8,3 %). Und viele glauben jetzt diese Zahl, deren Genauigkeit darüber hinwegtäuscht, auf welch ungenauen Daten sie beruht.
    Widersprüchliche Zahlen:
    Die genannten 8,3 % arme Kinder passen gar nicht zu den Zahlen von Kindern in Hartz IV-Familien. So lebten im September 2010 14,8 % aller unter 18-Jährigen in Deutschland in sogenannten SGB II-Bedarfsgemeinschaften. Definiert man Kinder mit unter 15 Jahren, so waren es sogar 15,6 %. Diese amtlich gut erfasste Größe ist seit Jahren annähernd konstant und sowohl dem DIW, den Politikern als auch den Journalisten bekannt. Warum diese besser erfasste Vergleichsgröße nicht zumindest ein großes Fragezeichen hinter die angeblichen nur 8,3 % arme Kinder setzt, ist uns völlig unklar. Entsprechende Nachfragen von uns wurden bisher mit Achselzucken oder der lapidaren Bemerkung quittiert: “Den Wert dreht sich ja ohnehin jeder so zurecht, wie es politisch gefällt.” Letzteres übrigens von einer großen Zeitung, hinter der angeblich ein kluger Kopf steht.
    Quelle: Dieser Beitrag entstamm einer Rundmail von Gerd Bosbach und Jens Jürgen Korff, den Autoren des Buches „Lügen mit Zahlen
  6. Altersvorsorge Riester-Rente – Wer blickt da noch durch?
    Die Policen von Riester-Rentenrentenversicherungen sind schwer verständlich und kosten oft mehr als sie bringen: Manche Anbieter kassieren doppelt so viel an Gebühren wie der Staat als Zulage zahlt. Verbraucherschützer fordern den Staat zum Handeln auf.
    Quelle: Süddeutsche Zeitung

    Anmerkung KR: Es ist ja schön, dass die geringe Rentabilität aufgrund der hohen Kosten endlich ins allgemeine Bewusstsein rückt. Der nächste Schritt wird hoffentlich die Einsicht sein, dass es sich dabei um einen grundsätzlichen Fehler handelt, denn diese Kosten sind logischerweise zugleich die Gewinne, welche die Anbieter zu erzielen hoffen.
    Die Lösung des Problems ist ganz einfach: Die Förderung beenden und das Geld wieder der staatlichen Rente zufließen lassen.

  7. Deutschland droht ein dramatischer Ärztemangel
    Deutsche Ärzte arbeiten lieber im Ausland. Damit die Versorgung in Deutschland gesichert bleibt, fordert die Bundesärztekammer bessere Honorare. […]
    Laut Montgomery sind die Arbeitsbedingungen für junge Ärzte in Deutschland so unattraktiv, dass viele ins Ausland oder in die Industrie abwandern. „Wenn es so weitergeht wie bisher, werden uns in 20 Jahren rund 50.000 Ärzte in Krankenhaus und Praxis fehlen“, sagte er.
    Quelle: WELT
  8. XXL-Aufschwung geht an Bürgern vorbei
    Der Aufschwung ist da, die Gewinne schnellen hoch, der Finanzminister ist selig. Nur die Beschäftigten profitieren nicht vom Wirtschaftswunder. Jetzt ist die Bundesregierung gefordert. […]
    Die Fakten sprechen für sich: Allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres wuchs die Wirtschaftsleistung um 5,2 Prozent gegenüber dem entsprechenden Vorjahresquartal. Das Steueraufkommen stieg sogar um zehn Prozent. Unternehmenslenker wie BMW-Chef Norbert Reithofer sprechen vom „besten Quartalsauftakt aller Zeiten“. Und die Arbeitnehmer? Die Tariflöhne dürften 2011 um durchschnittlich zwei bis zweieinhalb Prozent zulegen. Nicht schlecht – aber unterhalb der Inflationsrate, die Ökonomen für das Gesamtjahr auf 2,4 bis 3,0 Prozent schätzen. Hinzu kommen die steile Steuerprogression bei kleinen und mittleren Einkommen sowie höhere Sozialabgaben. […]
    Das Gegenteil ist geschehen. Die Christliberalen bitten das Volk zur Kasse. Mal heimlich, weil sie nichts an der Einkommensteuerprogression ändern. Bei einem Prozent mehr Lohn müssen die Bürger zwei Prozent mehr Einkommensteuer zahlen, so eine Faustformel des Bundes der Steuerzahler.
    Quelle: Wirtschaftswoche

    Anmerkung Jens Berger: Es ist schon erstaunlich. Da analysiert die Wirtschaftswoche ein sozioökonomisches Problem vollkommen korrekt und tischt dann im Laufe des Artikels doch wieder einmal nur ihre alten Kamellen von der „alternativlosen“ Senkung der Einkommenssteuer und der Lohnnebenkosten auf.

  9. Nie tariffähig gewesen
    Die Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personal-Service-Agenturen (CGZP) war auch in der Vergangenheit nicht tariffähig. Dies hat das Arbeitsgericht Berlin am Montag entschieden. Damit schloß sich das Gericht der Argumentation des Bundesarbeitsgerichts (BAG) an – allerdings, wie Richter Martin Steinmetz betonte, mit einer »vergangenheitsbezogenen Entscheidung«. Das BAG hatte am 14. Dezember 2010 festgestellt, daß die CGZP zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht tariffähig war.
    Quelle: Junge Welt

    dazu: Manpower muss Sozialbeiträge nachzahlen
    Unter den mindestens 1400 Zeitarbeitsfirmen, die wegen illegaler Tarifverträge mit christlichen Gewerkschaften für die Jahre 2006 bis 2009 Sozialbeiträge nachzahlen müssen, sind drei führende Unternehmen der Branche: Manpower, USG People Germany und Trenkwalder Personaldienste.
    Alle drei haben insgesamt Tausende Leiharbeitskräfte zu Löhnen weit unter den übrigen Tarifbestimmungen beschäftigt und dadurch der gesetzlichen Sozialversicherung Beiträge sowie den Mitarbeitern Lohn vorenthalten.
    Quelle: Wirtschaftswoche

  10. Fukushima – schon vergessen
    War da was? Richtig, die Kernschmelze! Noch vor Kurzem galt sie als unmöglich.
    Ein rangloser Unternehmenssprecher namens Aya Omura gab die Sache bekannt, die sich außerdem schon Wochen zuvor ereignet hatte. Was konnte das Wichtiges sein? Es sollte so harmlos klingen, als sei in China gerade ein Sack Reis umgefallen. Und wirklich: Die Strategie des Sprechers ging auf. Kaum jemand hörte mehr richtig hin. Außerhalb Deutschlands, das in der Atomfrage sensibel reagiert, war Herr Omura den meisten Medien nur noch eine Agenturmeldung wert. […]
    Die Japaner hingegen empören sich nicht über Tepco und die Atomkraft, sondern über die Regierung, die den Anwohnern der radioaktiv verseuchten Gebiete verbietet, ihre Häuser aufzusuchen. Die Gefahr wird kollektiv verdrängt. »Lasst uns gegen das Atomkraftwerk nicht verlieren! Lasst uns gewinnen!«, lautet der Slogan einer Kampagne in einem Dorf nahe den Unglücksreaktoren. Doch das Dorf ist auf Jahrzehnte nicht mehr bewohnbar, der Kampf längst verloren. Niemand aber darf das zugeben. Wer es doch tut, wie der Regierungschef, wird als Verräter beschimpft.
    Quelle: ZEIT

    Anmerkung Jens Berger: Ein sehr lesenswerter und gleichzeitig überaus verstörender Bericht des Asien-Korrespondenten Georg Blume.

  11. Die Schlacht der alten Männer
    Die Fifa hat zwei hohe Funktionäre wegen angeblicher Bestechung suspendiert. Doch Ruhe ist nicht eingekehrt: Präsident Blatter wird weiter des Stimmenkaufs bezichtigt.
    Quelle: taz
  12. Analyse: Ungewöhnliche Demut
    Für die Verhaftung von Ratko Mladic hat Serbien Anerkennung verdient. Denn man muss zur Kenntnis nehmen, dass Serbien seine Haltung zur Vergangenheit deutlich geändert hat.
    Quelle: Frankfurter Rundschau
  13. „Bis an die Zähne korrupt“
    Der letzte deutsche Auslandskorrespondent verlässt Kabul. Christoph Reuter kritisiert die Regierung Karsai – und sieht auf Afghanistan noch schwerere Zeiten zukommen.
    Quelle: Tagesspiegel
  14. Neuausrichtung der Bundeswehr
    Rede des Bundesministers für Verteidigung am 18. Mai in Berlin:
    „Streitkräfte sind Grundlage des Selbstbehauptungswillens und der Verteidigungsbereitschaft der Nation. Sie wirken mit anderen staatlichen Instrumenten der nationalen Sicherheitsvorsorge zusammen. Streitkräfte folgen in ihrem Selbstverständnis, ihrer Struktur und Organisation, ihrem Umfang, ihren Fähigkeiten und ihrer Ausrüstung den sich wandelnden Zielen und Interessen der Sicherheitspolitik. Das nennt man kurz gesagt den Primat der Politik…

    Ich zähle zu unseren deutschen Sicherheitsinteressen folgendes:

    • Krisen und Konflikte zu verhindern, vorbeugend einzudämmen und zu bewältigen, die die Sicherheit Deutschlands und seiner Verbündeten beeinträchtigen;
    • außen- und sicherheitspolitische Positionen nachhaltig und glaubwürdig zu vertreten und einzulösen;
    • die transatlantische und europäische Sicherheit und Partnerschaft zu stärken;
    • für die internationale Geltung der Menschenrechte und der demokratischen Grundsätze einzutreten, das weltweite Respektieren des Völkerrechts zu fördern und die Kluft zwischen armen und reichen Weltregionen zu verringern;
    • und einen freien und ungehinderten Welthandel sowie den freien Zugang zur Hohen See und zu natürlichen Ressourcen zu erhalten.

    Vor diesem Hintergrund muss die Bundeswehr künftig in der Lage sein, der Politik ein breites Spektrum an Handlungsoptionen zur Verfügung zu stellen…
    Für die Aufgaben der internationalen Konfliktverhütung und Krisenbewältigung leisten wir durchhaltefähige Beiträge zu bündnisgemeinsamen großen Operationen in bis zu zwei Einsatzgebieten.
    Wir leisten Beiträge, ich bin jetzt beim level of ambition, für Operationen bis zu zwei Einsatzgebieten. Wir werden auch Führungsverantwortung als Leit- oder Rahmennation in einem dieser größeren Einsatzgebiete übernehmen können…
    Alle nicht außerhalb Deutschlands eingesetzten Kräfte schützen die Heimat und unsere Bürgerinnen und Bürger oder unterstützen – gemeinsam mit anderen – bei schweren Unglücksfällen und Naturkatastrophen.

    Quelle: Bundesverteidigungsministerium

    Anmerkung WL: Siehe dazu nochmals meine Anmerkung von gestern.

  15. Linksliberaler Terror
    Dass Hans-Peter Friedrich ein harter Hund mit weichem Kern ist, war bereits bekannt, als er noch relativ unbekannt war – ein Proporzminister, der in seiner Zeit als Hinterbänkler nur durch opportunes Abnicken auf sich aufmerksam machte, kann niemanden überraschen. Weicher Kern bedeutet hierbei: mit weichem Inhalt, mit magarineweicher, ja fast flüssiger, verflüssigter Treue zu Werten einer liberalen und aufgeklärten Gesellschaft, die sich Rechtsstaat schimpft – und es bedeutet, nach dem, was man so liest (nicht über ihn, sondern von ihm), ganz besonders: die weiche Birne eines Hardliners…
    Quelle: ad sinistram
  16. Aufbruch in neue Milieus
    Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer stellt in einem Thesenpapier urgrüne Forderungen infrage, darunter das Adoptionsrecht für Lesben und Schwule. […]
    Bei den Grünen ist eine bizarre Debatte darüber ausgebrochen, ob sich die Partei auf dem Weg in die Mitte der Gesellschaft, angesichts von Wahlergebnissen und Umfragewerten jenseits der 20 Prozent, von grünen Kernpositionen verabschieden müsse. Angestoßen hatte diese Diskussion unter anderem Boris Palmer mit einem internen Thesenpapier, das der taz vorliegt.
    Darin schreibt er, dass “grünes Wachstum nicht ausschließlich im eigenen Lager möglich ist”. Seine Partei könne in “relevantem Umfang in Wählerschichten vordringen, die bislang auf Union und FDP festgelegt waren”. “Das gelingt gewiss nicht durch ein klares linkes Profil”, heißt es weiter, denn die Fokussierung auf klassisch grüne Themen binde die Kernwählerschaft, verschrecke aber Neugrüne.
    Quelle: taz

    Anmerkung Jens Berger: Tag für Tag sinken die Hürden für eine schwarz-grüne Koalition auf Bundesebene. Dass die Grünen sich nicht auf „ein klares linkes Profil“ festlegen wollen, ist jedoch nicht unbedingt neu.

    dazu: Ein auffällig dichtes und intransparentes Netzwerk
    Interview mit Wilfried Voigt über Jamaika im Saarland, einen geschäftstüchtigen Grünen-Vorsitzenden und dessen Arbeitgeber
    Die Jamaika-Koalition im Saarland ist nicht nur das erste politische Bündnis seiner Art in Deutschland, sondern auch das Produkt des hiesigen Grünen-Vorsitzenden Hubert Ulrich, der wiederum mit dem FDP-Politiker und Unternehmer Hartmut Ostermann wirtschaftlich fest verbunden ist. War also Jamaika an der Saar nicht nur eine politische, sondern auch eine ökonomische Erscheinung? Der Journalist Wilfried Voigt hat in diesem Zusammenhang recherchiert und fördert mit seinem Buch Die Jamaika-Clique – Machtspiele an der Saar Erstaunliches Zutage. Telepolis sprach mit dem Wächterpreisträger.
    Quelle: Telepolis

  17. Wirtschaft gegen Geheimverträge
    Der Deutsche Stifterverband fordert von Firmen eine Veröffentlichungspflicht beim Sponsoring. Geheime Verträge mit Universitäten soll es nicht mehr geben.
    Nach der Kritik an einer umstrittenen Kooperation zwischen der Deutschen Bank und zwei Berliner Spitzenunis hat sich der wirtschaftsnahe Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft für eine künftige Offenlegung von Kooperationsvereinbarungen zwischen Unternehmen und Hochschulen ausgesprochen.
    Dass der Stifterverband nun mehr Transparenz fordert, spricht für sich. Der Verband ist ein Zusammenschluss privater Unternehmen, die sich mit einem jährlichen Spendenvolumen von 30 Millionen Euro für die Förderung der Wissenschaft durch private Mittel einsetzt. Nach Angaben des Verbands gehört die Deutsche Bank zu seinen größten Geldgebern.
    Quelle: taz

    Anmerkung WL: Es mag gegenintuitiv erscheinen, dass der Stifterverband – der verlängerte Arm der Wirtschaft in die Wissenschaft – sich für mehr Transparenz ausspricht, aber die Antwort ist trivial: Der Stifterverband in dem viele Unternehmen organisiert sind, fürchtet eine Monopolisierung oder Oligopolisierung der Wissenschaft, bei der sich nur noch die wirtschaftlich stärksten die Wissenschaft aneignen können.
    Das ist übrigens der Urgrund für eine gesellschaftliche finanzierte Wissenschaft, nämlich dass Wissen für alle entwickelt wird.

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