Die politische Weltkarte wird neu gezeichnet

Die politische Weltkarte wird neu gezeichnet

Die politische Weltkarte wird neu gezeichnet

Ein Artikel von Georg Auernheimer

Imperiale Kriege haben meist grundlegende Veränderungen der politischen Landkarte zur Folge. Ein Beispiel dafür ist der Eiserne Vorhang, der den Ostblock für gut vier Jahrzehnte vom Rest der Welt trennte. Für die Älteren unter uns bestimmte er die geographische „mental map“. Aber dieser Vorhang ist, von kaum jemandem erwartet, gefallen. Inzwischen zeichnet sich eine neue epochemachende Änderung der politischen Weltkarte ab. Der Wirtschaftskrieg, mit dem die westliche Allianz seit 2014 die Russische Föderation (RF) in die Enge zu treiben versucht, hat die russländische Führung gezwungen, die wirtschaftliche Kooperation mit der VR China zu suchen. Vorläufiger Höhepunkt der Annäherung war der dreitägige Staatsbesuch des chinesischen Präsidenten vom 20. bis 22. März in Moskau. „Gegenwärtig geschehen Veränderungen, wie sie seit hundert Jahren nicht geschehen sind“, meinte Xi Jinping.[1] Und vermutlich hat er recht. Von Georg Auernheimer.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Alles deutet darauf hin, dass sich Russland in Zukunft nach Osten hin orientieren wird, und zwar verbunden mit der Abwendung vom übrigen Europa, wenn die Europäische Union weiter an ihrem Konfrontationskurs festhält. Aufmerksamkeit verdient dabei, dass man nicht nur die wirtschaftlichen Verbindungen gekappt hat, sondern auch bemüht ist, die kulturellen Kontakte einzufrieren. Es scheint auch gelungen zu sein, das Feindbild Russland, gestützt auf alte Stereotype, neu aufzufrischen. Wird hierzulande die Fremdheit jenes multiethnischen, bis zum Pazifik reichenden Landes beschworen [2], so braucht man sich über Entfremdung von der anderen Seite nicht zu wundern.

Eine historische Reminiszenz lässt ahnen, wie sich Russland auf lange Sicht von uns entfernen mag. Napoleon, das Kuckuckskind der Französischen Revolution, hat das feudale Europa ziemlich radikal umgestaltet. Auch nachdem die alten Mächte im Wiener Kongress 1815 seine eigenwilligen Staatsschöpfungen wieder rückgängig gemacht hatten, blieb der Kompass des Habsburger Reiches neu ausgerichtet. „Was Napoleon in den ersten zehn Jahren seiner unerhörten Ruhmeslaufbahn mit Österreich gemacht hatte, war nicht weniger, als dass er es beim Genick gefasst und in den Winkel von Europa gestellt hatte, mit dem Gesicht nach Osten. Vor zehn Jahren noch hatte Habsburgs langer Arm über Deutschland hinweg in die Niederlande gereicht… Dieser Arm hatte die Deutsche Kaiserkrone gehalten, die linksrheinischen burgundischen Besitzungen […] All das gehörte jetzt der Vergangenheit an. Österreich hatte Belgien und Holland aufgegeben, die Kaiserkrone fallen lassen, Burgund verloren“, schreibt der konservative österreichische Schriftsteller Raoul Auernheimer (1876-1948) in seiner Metternich-Biographie.[3] Wer von heute verbindet Österreich gedanklich mit Holland oder Burgund? Seine Zuwendung zum Balkan und nach Osteuropa erscheint uns quasi naturgegeben. Sie kam nach 1992 österreichischen Unternehmen und Banken zugute. Dem europäischen Kapital insgesamt hat Österreich als Brücke zu den dortigen Märkten gedient. Die Verschiebung der Außengrenzen von EU und NATO hat die Erweiterung verstetigt. Auch unser Erfahrungsraum ist um eine neue Dimension erweitert worden.

Dafür rückt Russland weg von uns, und vermutlich auf so lange Sicht, dass es womöglich für die nächsten Generationen, zumindest für die kommende, ein fremdes Land sein wird.

Noch im September 2001 hat Putin im Deutschen Bundestag, mit viel Beifall bedacht, für „eine umfangreiche und gleichberechtigte gesamteuropäische Zusammenarbeit“ plädiert. Er warb damit, „dass Europa seinen Ruf als mächtiger und selbstständiger Mittelpunkt der Weltpolitik langfristig nur festigen wird, wenn es seine eigenen Möglichkeiten mit den russischen menschlichen, territorialen und Naturressourcen sowie mit den Wirtschafts-, Kultur- und Verteidigungspotenzialen Russlands vereinigen wird“. Und er zeigte sich zuversichtlich, dass man dabei sei, die Voraussetzungen „zum Aufbau des europäischen Hauses“ zu schaffen.[4] Das ist inzwischen Episode, eine historische Randnotiz.

Die Russische Föderation wendet sich gezwungenermaßen der VR China zu. Der gegenseitige Handel habe sich im vergangenen Jahr um 30 Prozent auf 185 Milliarden USD erhöht, so Putin.[5] Damit nähert man sich schon dem bisherigen Handelsvolumen mit den EU-Staaten, das im vergangenen Jahr bei 250 Milliarden Euro lag. Die wirtschaftliche Kooperation zwischen der RF und der VR China bietet ähnliche Chancen für beide Seiten, wie sie die Kooperation mit Westeuropa geboten hätte. China ist dabei, zum Hightech-Land zu werden, und die RF kann mit ihrem Reichtum an Rohstoffen und Energieträgern punkten. Die Landwirtschaft in den Weiten Russlands ist von großer Bedeutung für Chinas Ernährungssicherheit. Der Agrarhandel mit China ist um 41 Prozent gewachsen. Beide Länder, vor allem das bevölkerungsreiche China, bieten verheißungsvolle Absatzmärkte. Schon jetzt soll jeder dritte Neuwagen und fast jeder zweite Laptop auf dem russischen Markt aus China kommen.[6] Von russischer Seite strebt man mehr industrielle Kooperation an. Vielleicht gelingt es der RF in der Kooperation mit der VR, den Extraktivismus, also die starke Angewiesenheit auf Rohstoff-, Öl- und Gasexporte, zu überwinden.

Die jetzt verabschiedete Erklärung zur „Vertiefung der umfassenden strategischen Partnerschaft“ lässt sich als symbiotische Ergänzung der beiden Volkswirtschaften interpretieren. Man kann aber auch das technologische Ungleichgewicht herauslesen. „China wolle beispielsweise mehr Elekrotechnik liefern, sagte Xi. Vereinbart worden seien auch zusätzliche russische Gaslieferungen an China, sagte Putin. Bis 2030 solle die Gaslieferung auf fast 100 Milliarden Kubikmeter pro Jahr steigen. Zudem würden 100 Millionen Tonnen Flüssiggas geliefert, aber auch Kohle und atomarer Brennstoff.“[7] Gerade mit seiner extraktiven Wirtschaft ist die RF aber stark auf die Partnerschaft mit China angewiesen, nachdem der europäische Markt verschlossen ist.

Die Versorgungsleitungen und Verkehrsverbindungen, also Pipelines, Straßen und Eisenbahnen, will man daher erklärtermaßen ausbauen, unter anderem um die Lieferketten funktionstüchtiger zu machen. Die 2019 in Betrieb genommene Erdgaspipeline Kraft Sibiriens soll um eine zweite Pipeline ergänzt werden. Kraft Sibiriens 2 mit einer Durchleitung von 50 Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr wird dann Nord Stream 2 ersetzen. Dass sich das Gesicht Russlands, um das Bild aufzugreifen, nach Osten wendet, das hat also eine materielle Basis.

Mit dem schrittweisen Übergang zu den eigenen Landeswährungen im Geschäftsverkehr wird ein klarer Schnitt gegenüber dem Euro- und Dollarraum gezogen. Schon in den ersten drei Quartalen 2022 seien 65 Prozent des Handels in Rubel und Yuan abgewickelt worden, erklärte Putin.[8]

Es heißt also: Bye-bye Russians! „Do svidaniya!“ können wir ihnen vielleicht schon nicht mehr zurufen, weil sie schon zu weit von uns entfernt sind und ein Wiedersehen in den Sternen steht.

Titelbild: AlexLMX/shutterstock.com


[«1] Junge Welt v. 24. 03. 2023, S. 3

[«2] Eine Aufführung der Oper „Boris Godunow“ von Modest Mussorgsky verdeutlichte für den Musikkritiker Peter Jungbluth, „wie fremd uns Russland schon immer war und nicht erst geworden ist“ (BR Klassik am 27. 03. 23).

[«3] Raoul Auernheimer: Metternich. Staatsmann und Kavalier. Wien: Ullstein Verlag 1948, S.47. Raoul Auernheimer ist nicht mit dem Autor dieses Artikels verwandt.

[«4] bundestag.de/parlament/geschichte/gastredner/putin/putin_wort-244966

[«5] Junge Welt v. 23. 03. 2023, S. 1

[«6] Junge Welt v. 24. 03. 2023, S. 3

[«7] merkur.de/politik/friedensplan-wladimir-putin-xi-jinping-treffen-moskau-ukraine-krieg-waffenlieferungen-haftbefehl-wirtschaft-zr-92157489.html

[«8] Junge Welt v. 23. 03. 2023, S. 1