Beim „Bildungsgipfel“ der Bundesbildungsministerin machten sich die Bundesländer fast komplett rar, obwohl sie beim Thema das Sagen haben. Deutlicher lässt sich der Geringschätzung der Interessen von Kindern, Jugendlichen, Lehrkräften und Erzieherinnen kaum Ausdruck verleihen. So betrachtet war der Boykott ein Akt der Ehrlichkeit. Um Bildung im besten Sinne geht es in der „Bildungsrepublik“ ohnedies längst nicht mehr. Ein Kommentar von Ralf Wurzbacher.
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Nie war ein Gipfel so unterirdisch. Am Dienstag hatte Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) Vertreter von Bund, Ländern, Kommunen, Wissenschaft und Zivilgesellschaft nach Berlin geladen, um unter dem Motto „Chance Bildung“ über „die Herausforderungen im Bildungssystem“ zu diskutieren. Kennt man ja: Wenn ein Problem zu einem allzu großen öffentlichen Ärgernis gerät, trommelt die Regierung politische Entscheider, Experten und Betroffenengruppen zum großen Brainstorming zusammen, pappt dem Ganzen das Etikett „Gipfel“ auf, lässt den Trupp wieder von dannen ziehen und das Problem in der Regel unbehelligt. „Gut, dass wir mal darüber geredet und uns Ziele gesteckt haben, die wir sowieso nicht einhalten.“ So geht Symbolpolitik in Reinkultur.
Verglichen damit war der jüngste „nationale Bildungsgipfel“ von geradezu bestechender Ehrlichkeit. Das Bildungswesen in Deutschland ist in praktisch allen Bereichen in einem hochgradig desolaten Zustand! – „Stimmt, aber was soll’s.“ So gesagt hat das freilich keiner der Beteiligten, von denen es ohnehin nicht viele gab. Tatsächlich glänzten nämlich die Bundesländer durch Abwesenheit beziehungsweise Boykott. Lediglich die amtierende Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK) und Berliner Schulsenatorin, Astrid-Sabine Busse, sowie ihr Hamburger Kollege Ties Rabe (beide SPD) ließen sich blicken. Die anderen hatten kurzerhand abgesagt, weil ihnen Sinn und Zweck der Veranstaltung nicht einsichtig wurden, sie in die Vorbereitungen nicht einbezogen waren oder schlicht Besseres zu tun hatten. Zur Einordnung: Bildung liegt in der Länderhoheit. Dass die Hauptzuständigen dem Stelldichein demonstrativ fernblieben, ist ein krachendes Statement der Sorte „rutsch mir doch den Buckel runter“.
Unter Nullniveau
Stark-Watzinger avanciert damit nach dem Abgang von Christine Lambrecht (SPD) als Verteidigungsministerin zur Wackelkandidatin Nr. 1 im rot-grün-gelben Regierungskabinett. Ihr Pannenregister umfasst bisher eine vermasselte Reform der Bundesausbildungsförderung (BAföG), eine „Soforthilfe“ für inflationsbedingt notleidende Studierende, die ein halbes Jahr nach Ankündigung noch nicht angekommen ist, und jetzt einen „Bildungsgipfel“, der in Pflichterfüllung eine Vorgabe des Ampel-Koalitionsvertrags umsetzt und für die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) „bestenfalls ein Bildungshügel“ ist.
Er ist sogar weniger als das. Denn ein Hügel ist immer noch eine Erhebung, während sich das, was heute unter Bildung verstanden und unter dem Begriff verhandelt wird, über weite Strecken unter Nullniveau bewegt. Die eklatanten Baustellen, die die Politik aktuell problematisiert, sind lediglich Ausdruck einer seit Jahrzehnten exerzierten systematischen Verwahrlosung und Entwertung des einstmals staatlichen Bildungssystems mit der Zielrichtung Ökonomisierung und Privatisierung. Ja, in den Schulen fehlen Zehntausende Lehrer, ja, es gibt Hunderttausende Menschen zwischen 15 und 24 Jahren, die weder eine Schule besuchen, noch eine Ausbildung oder einen Job haben, ja, ein Fünftel aller Viertklässler erreicht nicht einmal mehr die Mindeststandards beim Lesen, Schreiben und Rechnen, und ja, 2021 verließen 50.000 Jugendliche die Schule ohne Schulabschluss. Die im „Akademisierungswahn“ (Julian Nida-Rümelin hatte nicht unrecht) überlaufenen Hochschulen zählen ein Drittel Abbrecher, während die berufliche Bildung am Boden liegt und in vielen Branchen Fachkräfte fehlen. Die Liste an Defiziten und Katastrophen ließe sich fortsetzen.
Hauptsache Digital
Aber ist das alles vom Himmel gefallen? Nein: Dem System wurden im Rahmen einer umfassenden Entstaatlichung im Gefolge der neoliberalen Wende zielgerichtet Mittel entzogen, um sie mit Kampfbegriffen wie „Sparen“, „Austerität“, „Schuldenbremse“ und „Schwarzer Null“ nach oben umzuverteilen. Aber mit dem Ausplündern war die Sache nicht erledigt. Der riesige Substanzverlust – der sich heute vor allem am massenhaften Mangel an Personal in Kitas, Schulen und den prekären Beschäftigungsverhältnissen an Hochschulen zeigt – entpuppt sich als ein riesiges Einfallstor für wirtschaftliche Interessen, die sich ungebremst und ungeniert in Klassenzimmern und Hörsälen ausbreiten und ihre Geschäftemacherei dazu noch als Hilfe in der Not verkaufen.
Wer ahnt schon, dass die hierzulande führenden Nachhilfeketten Studienkreis und Schülerhilfe zum Portfolio von Private-Equity-Fonds gehören? Der allgemeine Niveauverlust in deutschen Lehranstalten – kaschiert durch immer mehr Einser-Abis, selbst in der Pandemie – lässt Investorenherzen höher schlagen. Und die durch zahllose Problemlagen vielfach überforderten Lehrkräfte werden mit sogenannten Unterrichtsmaterialien von Unternehmen, Stiftungen und Verbänden förmlich bombardiert. „Wie DAX-Unternehmen Schule machen“, hatte vor vier Jahren die Otto Brenner Stiftung eine Studie zu Lobbyismus im Schulsystem betitelt und konstatiert:
„Der ‚Schonraum Schule‘ wird damit zum Marktplatz und die Lerninhalte verlieren ihre demokratische Legitimation.“
Thema Digitalisierung: Es ist längst ein Glaubensbekenntnis, den neuen Medien Zugang zu Schulen, Grundschulen, mithin sogar Kindergärten zu verschaffen. Per „Digitalpakt“ sollen zwischen 2019 und 2024 Deutschlands Klassenräume mit Tablets und Laptops geflutet werden. Pädagogische Konzepte, wie sich die Geräte sinnvoll im Unterricht nutzen lassen, existieren praktisch keine, so wenig wie dazu, wer die Technik unterhalten soll oder was nach drei, vier Jahren mit dem Elektroschrott passiert. Dazu mahnen Hirnforscher und Pädagogen, dass die exzessive Nutzung von Smartphones und PC-Games physische, kognitive und soziale Schäden bei Heranwachsenden hinterlässt und die Konzentrationsfähigkeit und Aufmerksamkeitsspanne in den digitalen Welten beeinträchtigt werden. Bei all dem auf die Idee zu kommen, das Kindern und Jugendlichen liebste Spielzeug zum demnächst wichtigsten Lernwerkzeug zu machen, zeugt wahlweise von Naivität oder Hinterlist. Tatsächlich ist die Digitalisierung der Schulen ein Projekt der IT-Industrie und keines von Erziehungswissenschaftlern oder Didaktikern.
Als Knirps schon ein Aktiendepot
Selbst die schlechten Erfahrungen in der Corona-Krise konnten dem FDP-Mantra „Digital first. Bedenken second“ nichts anhaben. Zwar wurden die Grenzen, Zumutungen und Verlierer der schönen neuen Lernwelt in aller Deutlichkeit entblößt. Trotzdem ist keineswegs von einer Umkehr die Rede, davon, den physischen Lehrkörper zu rehabilitieren und zu stärken. Nein, das gesamte Parteienspektrum bis hin zur Linkspartei lamentiert über die schleppenden Fortschritte, die der „Digitalpakt“ verzeichnet. Weiß man bei Die Linke überhaupt noch, was Bildung eigentlich meint? Der Begriff ist inzwischen komplett entstellt, vollends auf Arbeitsmarkttauglichkeit reduziert. Man lernt bloß noch für den späteren Job oder für „bessere Berufschancen“. Von den Kitas aufwärts geht es nur mehr darum, als Homo oeconomicus zu funktionieren.
Unternehmerverbände drängen mit Macht darauf, flächendeckend ein „Schulfach Wirtschaft“ zu etablieren, damit man schon als Knirps checkt, wie man ein Konto oder Aktiendepot anlegt. Passend dazu will Stark-Watzinger eine „nationale Strategie zur ökonomischen Bildung“ vorantreiben, denn ein Großteil der Schüler wisse nicht, was ein Investmentfonds ist. Aber die versammelte Journaille mosert: Das Budget sei mit zwei Millionen Euro viel zu niedrig.
Fast unnötig zu erwähnen: Die politische Bildung an den Schulen befindet sich seit Jahren im Rückzug. Dafür floriert an den Hochschulen die Drittmittelforschung im Auftrag, Dienst und zwecks Profit der Industrie, während die Sozial-, Kultur- und Gesellschaftswissenschaften zusammengestrichen werden. Und in den Kultusministerien hofft man insgeheim, die fehlenden Lehrkräfte wenigstens mittelfristig durch künstliche Intelligenz zu ersetzen.
Entgeistigung, Entmündigung, Antiaufklärung
Das alles entspringt und entspricht dem Programm der Neoliberalen: Entgeistigung, Entmündigung, Antiaufklärung – nicht zuletzt: Verdummung. Zwei Beispiele, wohin das führt. Nach einer Studie der Kaufmännischen Krankenkasse (KKH) hat die Zahl von Kindern und Jugendlichen mit Sprach- und Sprechstörungen zwischen 2011 und 2021 um 58 Prozent zugenommen. Gemäß einer Untersuchung der Universität Uppsala (Schweden) und dem Institute of Education am University College London sind Kinder, die mit Tablets spielen, weniger kreativ und fantasievoll als solche, die mit physischem Spielzeug hantieren. Das sei ein Warnsignal, „dass wir vielleicht vorsichtig sein sollten, wenn wir Touchscreens bei Vorschulkindern einsetzen“, äußerte sich Studienautor Robin Samuelsson.
Es greift bei weitem zu kurz, die Missstände allein an den Irrungen und Verfehlungen des Bildungsföderalismus festzumachen. Natürlich lässt sich mit Spardiktaten keine auskömmliche, an den Erziehungs- und Bildungsbedürfnissen von Kindern und Jugendlichen ausgerichtete Personalausstattung in Kitas und Schulen ins Werk setzen. Gut gemeint erscheinende Reformen wie Ganztagsschulausbau, ein Rechtsanspruch auf frühkindliche Betreuung oder eine Regelbeschulung von körperlich und geistig beeinträchtigten Kindern (Inklusion) sind, solange nicht großzügig finanziell unterfüttert, per se zum Scheitern verdammt, was die tägliche Wirklichkeit beredt beweist. Unter solchen Voraussetzungen, gepaart noch mit der notorischen Kürzungswut gegenüber allen Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge, müssen Schulen und Kitas zwangsläufig zu reinen Verwahranstalten missraten, deren Zweck zuallererst darin besteht, den Ernährern den Rücken freizuhalten. Mit echter Bildung hat das nichts zu tun, wenngleich die Verantwortlichen dies in jeder Sonntagsrede weismachen wollen.
Allen voran tut dies die Bundesregierung, weshalb sie jetzt auch Besserung gelobt. Aber wie? Sie will eine Taskforce „Team Bildung“ ins Leben rufen, um „eine neue Kultur in der Bildungszusammenarbeit“ zwischen Bund, Ländern und Kommunen anzustoßen. Wenn Du nicht mehr weiter weißt, bilde einen Arbeitskreis. Im Koalitionsvertrag heißt es dazu, man wolle „alle Möglichkeiten ausschöpfen, gemeinsam gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen und Qualität, Leistungsfähigkeit und Weiterentwicklung des Bildungswesens zu stärken“. Das klingt nach allerhand Arbeit. Noch in dieser Woche will sich Stark-Watzinger darüber mit den Kultusministern der Länder austauschen – für eine Stunde. Das reicht.
Titelbild: photocosmos1 / Shutterstock