Am vergangenen Samstag wurde in der Nähe der Stadt Freudenberg ein zwölfjähriges Mädchen auf dem Nachhauseweg ermordet. Unter Verdacht stehen zwei Mädchen im Alter von zwölf und 13 Jahren. In der Berichterstattung unserer Medien wird die Frage nach der Gewaltbereitschaft und ihren Ursachen (noch) nicht umfassend gestellt. Dabei läge es nahe, angesichts der Inflation von Morden im Fernsehen die Frage nach der Gewöhnung an diese Art von Gewalt zu stellen. Die Antwort ist nicht leicht, jedenfalls ist der Zusammenhang nicht linear: viele Morde im Fernsehen – viele Morde im Alltag. Aber ein bisschen selbstkritische Diskussion würde man sich doch wünschen, zum Beispiel auch über die Frage, welche Bedeutung der sogenannte Urknall, der Einzug des kommerziellen Fernsehens im Jahre 1984, für die weitere Entwicklung hatte. Das wird verdrängt. Weil es nicht in den ökonomischen Kram passt. Vielleicht sprechen Sie ja in Ihrem Freundes- und Familienkreis über die Zusammenhänge. Für diesen Zweck habe ich ein bisschen Material herausgesucht. Albrecht Müller.
- Zunächst einmal der Link auf die Pressekonferenz der Staatsanwaltschaft und Polizei aus den beiden betroffenen Bundesländern Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen
- Dann gab es im Deutschlandfunk am 25.9.2016 einen inhaltsreichen, einschlägigen Beitrag:
„Über Mord und Tod im Fernsehen. All die schönen Toten“
Es folgen Auszüge aus diesem Beitrag:
„Deutsche Fernsehkultur ist Todeskultur. Auf den Bildschirmen wird in einer Tour gestorben und gemordet. Allerorten liegen Leichen, fließt Blut, stets stellen Ermittler die gleichen Fragen, verkünden Rechtsmediziner einen ungefähren Todeszeitpunkt. Im Fernsehen ist der Tod omnipräsent – doch woher kommt diese als Fiktion verkleidete Faszination des Todes?
Von Christian Schüle | 25.09.2016
Die Zahl der gleich gestrickten Krimis ist so inflationär wie die der Kommissare, während es in den Nachrichtensendungen um Terror und Anschläge und in den Boulevardformaten um Autounfälle oder Kindestötungen geht.
Auf dem scheinbaren Höhepunkt menschlicher Vernunft erleben wir den faszinierenden Widerspruch zwischen der obsessiven Beschäftigung einer Kulturproduktion mit Mord, Sterben und Tod und einer gesellschaftlichen Moral fast hysterischer Todesvermeidung im optimierten Lebensalltag.
Woher kommt die gebührenfinanzierte Faszination des Todes? Und welche Stellung nimmt der Tod in unserer Lebenswelt ein?
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Im deutschen Fernsehen wird gemordet, getötet, gemetzelt und gestorben
Diese Auswahl ist reine Willkür. Man hätte genauso gut jeden anderen Tag, jede andere Woche, jeden zurückliegenden oder kommenden Sonntag oder Montag oder Mittwoch wählen können.
Oder jeden Freitag. Den Krimi-Freitag. Zum Beispiel 26. Februar 2016, ZDF, 20:15 Uhr: Der Staatsanwalt: „Erben und Sterben“. Ein bewaffneter Raubüberfall im Justizzentrum Wiesbaden. Ein Toter liegt auf dem Boden. ARD, 22:00 Uhr: Tatort Ludwigshafen: „Blackout“. Ein Mann wurde mit K.O.-Tropfen betäubt, ermordet und in sexuell erniedrigender Situation zurückgelassen.
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Im deutschen Fernsehen wird gemordet, getötet, gemetzelt und gestorben, was das Zeug hält. Gefolterte, geschändete Frauen, aufgehängte, durchbohrte Leiber, explodierende Autos, gezückte Pistolen, tropfendes, sickerndes, fließendes Blut. Diese Feststellung will keine reaktionäre Klage eines aus der Zeit gefallenen Kulturpessimisten sein, sondern ist das Resultat nüchternen Fernsehkonsums über lange Zeit hinweg.
Das öffentlich-rechtliche deutsche Fernsehen ist ein einziges Schlachtfeld
Es gibt Tage, an denen in deutschen TV-Programmen wenig gemordet wird – aber es gibt keinen Fernsehtag, an dem nicht irgendwo ein Krimi-Mord geschieht. 2004 widmete sich laut einer damals erstellten Medienforschungsstudie jede fünfte fiktionale Sendeminute einem Krimi; über zehn Jahre später dürfte es, geschätzt, mindestens jede vierte sein. Auf dem Bildschirm ist der Tod omnipräsent. Das Leitmedium Fernsehen produziert eine als filmisches Spiel bemäntelte Todesverherrlichung in inflationärer Manier. Man kommt um die Erkenntnis nicht herum: Fernsehkultur ist Todeskultur.
Die flächendeckende Versorgung der deutschen Bevölkerung mit Mord, Gewalt und Tod findet überraschenderweise nicht generalstabsmäßig durch die Privatsender, sondern mit öffentlich-rechtlichen Gebühren statt. Man studiere eine beliebige TVWoche ab 11:00 Uhr morgens und rechne hoch: Allein bei den Senderfamilien von ARD und ZDF hat man es im Schnitt mit mindestens 40 Krimis zu tun.
Das heißt: pro Woche 40 Morde, 40 ermittelnde Kommissare, 40 Verhöre. Von mittags bis abends weisen Teaser und Trailer auf Tote, Blut und eine Gewalttat hin: Schlaglichter der Verwüstung, des Vergiftens, des Hinrichtens, des Erschießens. Das öffentlich-rechtliche deutsche Fernsehen ist ein einziges Schlachtfeld.
Und dann schaltet man ein. In den ersten Kamera-Einstellungen: Blut auf einem Messer, Blut aus einem Einschussloch, Blut, das auf Hemden oder Hosen spritzt. Oder ein ratterndes Maschinengewehr. Zwei Vermummte auf Motorrädern, Schüsse durch die Frontscheibe eines Kleinlasters. Eine Explosion. Ein Schrei.
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Der Tatort wird in mittlerweile 16 Städten zelebriert
Die Präsentation von Mord und Totschlag hat in den Redaktionen unerhörte Kreativität freigesetzt. Die öffentlich-rechtlichen Sender – unterwegs mit Bildungs- und Unterhaltungsauftrag zur Grundversorgung der Republik – bieten immer mehr Blut – und für Titel von neuen Krimis aus der Heimatprovinz neuerdings sogar heitere Reime an: Morden im Norden in der ARD; Nord Nord Mord im ZDF. …
Kaltblütiger oder mysteriöser Mord, Serien-, Frauen- oder Ritualmörder
Die Privatsender flankieren dann all die schönen Morde mit synchronisierten Übernahmen aus den USA: CSI Vegas, CSI New York, CSI Miami, Navy CSI, Criminal Intent; Einsatz in Washington, Bones – die Knochenjägerin, Law & Order New York. Worum geht es? Um Mord. Kaltblütigen Mord. Mysteriösen Mord. Um Serienmörder, Frauenmörder, Ritualmörder.
Womöglich mag es neben dem günstigen Verhältnis von Produktionskosten, Quotenerfolg und Wiederholbarkeit auch am philosophisch überhöhten Gefühl der Erhabenheit angesichts einer Tragödie liegen – diesem von Immanuel Kant ästhetisch verstandenen Gefühlszustand, der tröstend und entlastend zugleich ist: Der vernunftbegabte Fernsehzuschauer erschaudert bei der finalen Katastrophe des Todes, weiß sich aber zugleich in den eigenen vier Wänden geschützt vor allem Unbill und vor der eigenen Ohnmacht.
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Intensive Darstellung von Gewalt bewirkt ein Abstumpfen
Sinkt durch die permanent zu sehenden Morde auch im öffentlich-rechtlichen Programm – das laut Auftrag „die demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Gesellschaft“ zu erfüllen verpflichtet ist – die Hemmschwelle für Gewalt?
Oder ist es genau umgekehrt: Baut der Krimi-Konsument wachsende Aggression, steigenden Stress und latente Gewaltfantasien vor dem Fernseher ab und domestiziert sich selbst erst zu einem gesellschaftsfähigem Subjekt, wodurch eine Inflation der Krimis gerechtfertigt wäre?
Offenbar aber überfordern und bedrängen all die Negativschleifen katastrophaler Nachrichten, all die Bilder von Getöteten, Enthaupteten, Gehenkten, Verletzten und Blutenden in den Nachrichtensendungen den Zuschauer. Vergangenes Jahr führte das Meinungsforschungsinstitut Forsa eine Studie über Bilder und Videos mit schockierenden Inhalten durch. Das Ergebnis:
68 Prozent der Befragten – vornehmlich Frauen und Bürger mit formal höherem Bildungsabschluss – seien über die Zunahme der Schockbilder beunruhigt, gar in Sorge. Sie wünschten sich, dass Redaktionen bewusst darauf verzichten. Obwohl es selbst in Kreisen der Experten eine umstrittene Frage ist, ob die Abbildung von Gewalt reale Gewalt verhindert oder gerade erzeugt, sind vom Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen klare Worte zu hören.
Dessen Vorsitzender Michael Krämer sagte kürzlich, die intensive Darstellung von Gewalt bewirke ein Abstumpfen gegenüber Gewalt – bei denen, die Gewalt ausüben, aber auch bei denen, die Gewaltdarstellungen sehen. Die besondere ethische Verantwortung liege bei den Medien wie auch bei den politischen Akteuren.“
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Und dann noch zur Erinnerung:
- Plädoyer für einen fernsehfreien Tag. Von Helmut Schmidt
In: Die Zeit. 26. Mai 1978 220828-Medien-Plaedoyer-fuer-einen-fernsehfreien-Tag-ZEIT-ONLINE.pdf (nachdenkseiten.de)Auf diesen Essay des früheren Bundeskanzlers haben wir in der „Serie alter interessanter Dokumente“ vor kurzem noch einmal hingewiesen. Daraus ein Zitat:
„c) Fernsehen und Gewalt Ein besonderes Problem ist die Fülle von Gewaltdarstellungen im Fernsehen, die auch bereits zu Sendezeiten gezeigt werden, zu denen noch Kinder jeglichen Alters vor dem Apparat sitzen. Dieses heftig diskutierte Thema hat zwar unmittelbar mit dem der mangelnden Kommunikation nur wenig zu tun, es gehört aber in den weiteren Zusammenhang unserer Fragen nach der Wirkung des Fernsehens.
Die Frage nach der direkten Wirkung von Gewalt auf dem Fernsehschirm ist in der pädagogischen und psychologischen Forschung umstritten. Es mag sein, daß die Frage, ob eine Darstellung von Gewalt brutales Verhalten fördern kann, in dieser Form zu einfach gestellt ist. Die überzogene Katastrophen- und Gewaltdarstellung ist auch keinesfalls nur ein Problem des Fernsehens.
Alle Medien, gerade bestimmte Formen der Tagespresse, sind in Gefahr, Gewaltsituationen zu übertreiben oder reißerisch darzustellen.
Trotzdem meine ich: Es gibt im Fernsehen Nachlässigkeiten gegenüber dem Gewaltproblem. Sie reichen von der Tagesschau bis tief in die Unterhaltungssendungen. Die häufige Vorspiegelung, Konflikte seien besonders einfach mit Gewalt zu lösen, muß eine verheerende Auswirkung auf die politische Struktur einer Demokratie haben. Demokratie muß Konflikte mit den ihr eigenen Möglichkeiten und Methoden lösen können. Das Schwarz-Weiß-Schema von Gewaltlösungen darf nicht zu einem Vorbild für unsere Gesellschaft werden.“
Soviel für heute. Aus traurigem Anlass zum Thema Gewalt.