In Großbritannien erfüllen einige Vertreter der Presse – die Vierte Gewalt im Staat – die ihnen von den Bürgern übertragene Aufgabe der Wächter- und Aufklärungsfunktion gerade konsequent. Sie arbeiten die Politik der vergangenen drei Jahre der Corona-Katastrophe auf und veröffentlichen Informationen, die eigentlich geheim, vertraulich, intern sind. Großer Dank gebührt der Journalistin Isabel Oakeshott für ihre unbequeme, mutige und wichtige Arbeit. Sie ist maßgeblich an den Enthüllungen der „Lockdown Files“ beteiligt. Von Frank Blenz.
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Das in den Lockdown Files (The Telegraph) offenbarte Bild sieht teils erschütternd aus. Lockdown, Schulschließungen, Maskenpflicht werden als politische Entscheidungen im Rahmen taktischer Machtspiele entlarvt. Und ja, wie in Großbritannien fragen sich auch Bürger in Deutschland, wie eine Aufarbeitung der Geschehnisse, Handlungen und deren Folgen der vergangenen Jahre aussehen müsste. Files zu veröffentlichen, ist ein Weg, eine ungeschönte Debatte ein zweiter; die ausdauernde Forderung der Bürger, es nicht wieder so entfesselt zu Willkür kommen zu lassen, ein weiterer. In Österreich fordert derweil der Kanzler eine Versöhnungskonferenz. Bei uns in Deutschland ist bei durchaus ambitionierten Aufarbeitungsbemühungen ein Winden um Wahrheiten und schmerzhafte Konsequenzen mancher Beteiligter aus Politik, Wissenschaften und Medien zu beobachten. Doch muss gesagt werden: Eine Aufarbeitung wird durch Entschuldigungen und „Das haben wir damals nicht wissen können“ allein nicht gelingen, sonst drohen bei einer neuerlichen Gesundheitskatastrophe die gleiche Politik und das dazu passende Ingangsetzen einer sie tragenden Medien-Maschinerie.
Doch Medien sollten nicht als nützliche Begleiter und Werbeagenturen der Politikerklasse wirken. Dass es anders geht, siehe …
Enthüllungen in Großbritannien
Das Drum und Dran der Veröffentlichung interner Protokolle, Aufnahmen und Informationen innerhalb der britischen Politikerklasse in Zeiten von Corona wirkt wie ein Politthriller, allein sind die Inhalte ernüchternd, erschütternd und real. Die Journalistin Isabel Oakeshott (The Telegraph) nahm wohl sicher ihren ganzen Mut zusammen, an die Öffentlichkeit zu gehen – und das in dem Land, in welchem ihr Kollege Julian Assange bis heute wegen gleichen investigativen Handelns eingesperrt ist. Mutig verstieß Oakeshott gegen eine verabredete Schweigepflicht. Weil sie aber das öffentliche Interesse, das legitime Recht der Bürger gegenüber der Kungelei, der Geheimniskrämerei und dem fortwährenden Machtmissbrauch einflussreicher und gut positionierter Politiker erkannte, handelte sie. Dem Sender BBC sagte sie, „dass kein Journalist, der etwas auf sich hält, in einer so wichtigen und historischen Angelegenheit Informationen zurückhalten“ würde.
Bei der Lektüre der Veröffentlichungen (Bericht in der Berliner Zeitung) bleibt dem Leser mitunter die Spucke weg: So sollten die „Maßnahmen“ (in der Pandemie) durch die „harte Hand der Polizei“ begleitet werden, wird der damalige Gesundheitsminister Matt Hancock zitiert. Weitere Enthüllungen der „Lockdown Files“ beschreiben die Maßnahmen gegen die Bürger, „die sich nicht an die Regeln hielten“. Entsprechend streng waren die Kontaktbeschränkungen. Bedrückend sei für Oakeshott …
„…die Sache aus der Perspektive der Gespräche, an denen Herr Matt Hancock beteiligt war. Sie sind ein wichtiges Beweisstück, das nicht nur Gespräche, sondern auch ein psychologisches Profil von Ministern zeigt, die zu dieser Zeit uneingeschränkte Macht genossen.“
„Auch die Entscheidungen über Schulschließungen und Maskenpflicht in Schulen seien laut Einschätzung der damaligen Entscheidungsträger ohne wissenschaftliche Evidenz getroffen worden. Die Lockdown Files geben Hinweis darauf, dass der Gesundheitsminister immer wieder von Experten dazu aufgefordert wurde, die Schulen wieder zu öffnen, sich jedoch weigerte. Als die Schulen wieder geöffnet wurden, habe man den Rat mehrerer Wissenschaftler in Sachen Maskenpflicht erneut ignoriert. Johnson und seine Regierung hätten sich aus politischen Gründen für die Maskenpflicht an Schulen entschieden.“
Nach und nach kommen mehr Details an die Öffentlichkeit, die in die Debatte gehören, gerade für wichtige Korrekturen und Konsequenzen für die nun angebrochene Zeit nach der Pandemie. Dass dies Politikern nicht gefällt, zeigt der von Isabel Oakeshott beschriebene Politiker. Matt Hancock kritisierte Oakeshott und warf der Journalistin vor, sich nicht an die Verschwiegenheitserklärung gehalten und sein Vertrauen missbraucht zu haben – mehr noch: Die Leaks seien manipuliert und Teil einer Anti-Lockdown-Kampagne. Sieht so allseitige Aufarbeitung aus, Einsicht, Demut gar?
(Quelle: berliner-zeitung.de)
In Österreich fordert der Kanzler ein „neues Miteinander“ und will Gräben schließen, die er selbst mit aufgerissen hat
Ja, die Politiker wehren sich, und sie blicken lieber nach vorn – aus Gründen ihres Machterhalts. Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) findet immerhin, dass man Corona hinter sich lassen und dabei mit der Aufarbeitung beginnen müsse. Medienwirksam lud Nehammer vor Wochen zu einem Treffen unter dem Titel „Versöhnung“ ein. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss, also ein womöglich justiziabler Umgang mit dem Geschehenen, sei der falsche Weg, so Nehammer, der die gesamte Gesellschaft versöhnen, Gräben schließen (die er und seine Politikerklasse selbst heftig aufgerissen haben), sogar ein „neues Miteinander“ erreichen möchte. Hehre Worte. Alles wieder gut? Nun tönt der Kanzler nach breiter, ehrlicher Kommunikation, nach sachlichem Diskurs, aber ohne Extreme, nach Transparenz und Analyse der Wirkung der Maßnahmen. Nehammer wähnt sich als ein Mitglied der Mitte. Noch 2022 in der Adventszeit wurde jedoch durch ebendiese Regierung Nehammer eine Kampagne ganz nach dem Motto „Pandemie forever“ in Gang gesetzt. Die österreichische Regierung beschrieb ihre Motivation gar ehrenwert, sie habe …
… Druck aus der Debatte in der Gesellschaft genommen. Und lässt dagegen nicht locker, nun im Stil lässiger Slogans und mit der Beibehaltung zahlreicher Verordnungen, Regeln und Hinweise. Schaut man sich die Seite des österreichischen Gesundheitsministeriums an, sind zahlreiche Informationen von Grüner Pass bis 3-G-Regel zu lesen. Auch fehlt nicht der Hinweis auf die Dauer der Gültigkeit von Impfungen, die zweite 180 Tage, die dritte 365 Tage.
Viel gibt es zu verzeihen, einzugestehen, ja und dann?
Aktuelle Aufsätze in meinungsführenden Zeitungen zum Thema Corona lesen sich für Menschen, die klar ausgedrückt „schon früh gespürt und gerufen haben, dass da was nicht stimmt“, teils befreiend mit einer gewissen Genugtuung, dass sie doch keine Schwurbler, Verschwörungstheoretiker, vom richtigen Weg abgekommene Bürger waren und sind. Warum aber diese Erkenntnisse, Eingeständnisse über Irrtümer, Willkür und Machtmissbrauch während Corona erst jetzt so frei und emanzipiert in die Öffentlichkeit finden, von Journalisten, Politikern und Wissenschaftlern dargeboten – es wirkt beinah tragikomisch. Der deutsche Gesundheitsminister sagt frank und frei, dass die …
… Pflicht zum Tragen einer Maske beim Joggen, das Verbot, sich allein im Park auf eine Bank zu setzen, „Schwachsinn“ gewesen sind.
Aha. Schlimm nur, dass dieser Schwachsinn bei dessen Inkraftsetzung unter „strenger Begleitung durch die Polizei“ (eine Wortwendung des britischen Ministers aus den Files sei mal hier geliehen) durchgezogen, vom Minister abgesegnet und schon damals von vielen mündigen Bürgern als unverhältnismäßig, ungeeignet, sinnlos und ungerecht kritisiert wurde. Doch mittels „Papperlapapp“ und „Basta“ und „Marsch, marsch, zurück ins Glied“ wurde für eine nachhaltige schwere Beschädigung der Dialogprozesse in unserem Land sowie eine Entmündigung der Bürger gesorgt (obwohl man sich doch um das Wohl der Bürger sorgte?). Man darf sich bis heute überhaupt nicht hineindenken in diesen Wahnsinn.
Maßnahmenwahn. 2021 im Frühjahr unternahm ich eine Radtour durch die waldreiche Heimat. Es galt eine strenge Ausgangsbeschränkung, bis maximal 15 Kilometer von seiner Wohnung entfernt durfte man an der frischen Luft weilen. In kleinen Orten nahe der Wälder standen Polizeiposten, die Radfahrer anhielten und deren Herkunft kontrollierten. Wehe dem, es waren mehr als 15 Kilometer. Bei mir waren es 17 Kilometer. Nur gut, dass man als Ortskundiger Pfade im Wald kannte …
Die Aufarbeitung danach klingt ruhig und sachlich. Getrost können sich Fachleute melden und lächelnd eingestehen, dass sie sich irrten, dass sie vieles schon damals wussten und so weiter. Warum kommt aber zum Beispiel Bundesregierungsexperte Hendrik Streeck jetzt um die Ecke mit den Erkenntnissen über die Maskenpflicht? Ich ahne, jetzt ist die Gefahr seiner Ausgrenzung gebannt. Springers Edelmarke Welt springt ihm bei, postet souverän als Schlagzeile heraus: „Es gibt keine Belege für Einfluss der Maskenpflicht auf das Infektionsgeschehen“. Sieh einer an, dieselbe Gazette und weitere Konzernblätter schossen lange Zeit aus allen Rohren gegen Bedenkenträger und Träger diverser Hüte, sobald diese die Pflichten, Maßnahmen und die Gängelei der Bürger infrage stellten.
Konsequenzen, Forderungen
Weil wir schon mal dabei sind: Nicht nur Herr Streeck soll sich äußern, auch Enthüllungen wie die aus diversen Files sind geeignet zum Sammeln und Sondieren von Informationen, die unbequem und wichtig für uns alle sind. Es braucht Vorschläge und Aktivitäten nach der Pandemie, die offen und schonungslos sind. Viele, heftige Fehler sind begangen worden. Das Vertrauen der Bürger ist enorm erschüttert, verloren gegangen sogar. Wie wäre es, hier – anders als in Österreich – eine Kommission vom Bundestag einzusetzen und/oder durch eine Volksabstimmung anzuordnen? Abstimmungen der Art gibt es in Berlin gerade öfters, wenngleich es bei der Umsetzung des Bürgerwillens sehr viel Luft nach oben gibt.
Uns Bürgern muss von der Politik, den Wissenschaften, den Medien, den gesellschaftlichen Institutionen verdientermaßen gesagt und versprochen werden, dass nicht weiter diffamiert und ausgegrenzt wird, dass (nicht weiter) Existenzen gefährdet und Kollateralschäden billigend in Kauf genommen werden. Mindestens muss die Debatte genau mit diesen Themen besetzt werden. Man schaue sich nur um, angesichts von Krieg und Frieden, ökonomischen und sozialen Schieflagen sowie hasserfüllten Auseinandersetzungen innerhalb unserer Gesellschaft müssen wir laut und lauter sagen: Schluss mit all dem. Schlimm genug ist, dass die Entfesselung von Unanständigkeit in der Pandemie-Katastrophe mit der Umsetzung so viel Unsinns (so der Gesundheitsminister) bis in die heutigen Tage dazu geführt hat, dass diese Unanständigkeit noch immer währt und man sich jetzt wieder – ganz ohne Pandemie – im Umgang mit Andersdenkenden austobt.
Mehr Files werden gebraucht und der Mut der Zivilgesellschaft, einer Wiederholung der erlebten Katastrophe entgegenzuwirken
Sie kennen die Stichworte noch? Impfpflicht, digitaler Gesundheitspass als die Eintrittskarte zur Teilhabe an der Gesellschaft, 2 G, 3 G, die Stigmatisierung von Menschen nach ihrem Status. Wer nicht dazugehörte, bekam schnell die Vorbezeichnung „Un-“ verpasst. Als Bürger denkt man jetzt mit einem gewissen Abstand, dass das alles nur ein böser Traum war – leider nein. Files braucht es, journalistische Tätigkeit, offene wissenschaftliche Arbeit, ehrliche Aufarbeitung von Politikern und Entscheidungsträgern in der Gesellschaft (vom Unternehmer, Kulturschaffenden bis zum Geistlichen), die Daten auf den Tisch zu packen. Das Ziel muss sein, Krisen künftig nicht nur „etwas besser“ zu meistern, wie ich jüngst las und darauf dachte, ‘da werden ja die Samthandschuhe herausgeholt’. Nein, all die Dinge und Prozesse müssen überhaupt schlicht und gut und würdevoll umgesetzt, das Grundgesetz muss geachtet und ideologischen, ökonomischen, finanziellen Begierden Einhalt geboten werden.
Titelbild: mucahiddinsenturk/shutterstock.com