Es gibt wohl kaum einen Begriff, der im Sprachschatz der Journalisten in den letzten Jahren derart inflationär auftauchte, wie der Begriff „umstritten“. Jeder, der sich dem medialen Konsens nicht beugt, gilt heute als „umstritten“. Mit steter Regelmäßigkeit wird der Begriff sogar als Namensbestandteil von Personen verwendet, die derart „umstrittene“ Positionen vertreten – „Die umstrittene Politikerin hat auf einer bereits im Vorfeld umstrittenen Veranstaltung abermals ihre umstrittenen Positionen verbreitet“. Man kennt diese Sätze. Doch sie sagen mehr über den Absender als über den Adressaten und wenn das Land eines braucht, dann ist es mehr „Umstrittenheit“. Ein Kommentar des umstrittenen Jens Berger.
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Sahra Wagenknecht ist umstritten. Alice Schwarzer ebenfalls. Da war es offenbar nur folgerichtig, dass ihr gemeinsam formuliertes und initiiertes Manifest für den Frieden ebenfalls umstritten ist und die sich daraus ergebende Demo vor dem Brandenburger Tor natürlich auch umstritten, wenn nicht sogar stark umstritten war.
Aber die beiden finden sich ja in guter, umstrittener Gesellschaft. Bereits während der Corona-Pandemie galten den Medien plötzlich renommierte Virologen wie beispielsweise Alexander Kekulé oder Hendrik Streeck als umstritten. Warum? Sie widersprachen in Teilen der Meinung einer anderen Gruppe von Wissenschaftlern, denen damals die Maßnahmen nicht weit genug gehen konnten. Ein wissenschaftlicher Diskurs mit unterschiedlichen Positionen also. So was soll es geben. Genau so „funktioniert“ schließlich Wissenschaft.
Aber warum galt dann die eine Gruppe von Wissenschaftlern den Medien als „umstritten“ und die andere nicht? Getreu der eigentlichen Bedeutung des Begriffs waren die Positionen und Forderungen von Christian Drosten, Melanie Brinkmann, Michael Meyer-Hermann oder Viola Priesemann natürlich ebenfalls hoch umstritten und erwiesen sich in vielen Punkten später ja auch als falsch. Den „umstrittenen Virologen“ Christian Drosten oder die „umstrittene Modelliererin Viola Priesemann“ sucht man jedoch bis heute vergebens in den Zeitungen.
Besonders umstritten sind für die schreibende Zunft seit längerem vor allem Wissenschaftler und Journalisten, die sich zu außen- und sicherheitspolitischen Fragen äußern. Dazu gehören beispielsweise der umstrittene Michael Lüders und die umstrittene Gabriele Krone-Schmalz – die Liste ließe sich problemlos verlängern. Jedermann, der sich kritisch zu transatlantischen Positionen, der NATO und den Narrativen des „Wertewestens“ äußert, läuft sehr schnell Gefahr, schon bald das Label „umstritten“ verliehen zu bekommen. Umgekehrt dürfen Wissenschaftler und Journalisten, deren Positionen regierungsnah, also transatlantisch sind, so ziemlich jeden Unsinn schreiben und erzählen, ohne jemals umstritten zu sein. Ist das nicht seltsam?
Wer definiert überhaupt, wer oder was umstritten ist? Die Antwort ist banal: Der mediale Mainstream, also der Konsens, auf den sich das Gros der Meinungsjournalisten geeinigt hat – und irgendwie scheint heute ja jeder Journalist ein Meinungsjournalist mit Haltung zu sein. Die vielzitierte Vierte Gewalt maßt sich also an, die gültigen Werte und Normen zu definieren. Wer diese Werte teilt oder sich zumindest den daraus resultierenden Normen unterwirft, sich stets nach dem aktuellen Zeitgeist dreht und immer das denkt und sagt, was gerade unter Journalisten Konsens ist, ist demnach anerkannt. Sagt man nicht, „Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom“?
Wer anderer Meinung ist, sich nicht in eine Duldungsstarre begeben will oder gar die Legitimität dieser Konsensbildung bestreitet, also gegen den Strom schwimmt, ist indes umstritten. Wie arrogant. Eine kleine Gruppe von Haltungsjournalisten definiert die Regeln und die Leitplanken, innerhalb derer eine anerkannte Debatte möglich ist. Mit welchem Mandat?
Unabhängig davon, ob diese oder jene Position „richtig“ oder „falsch“ ist und welche Meinung man selbst zu bestimmten Themen hat – sieht so ein offener, produktiver gesellschaftlicher Diskurs aus? Natürlich nicht. Journalisten dürfen, ja sollen eine eigene Meinung haben und diese auch gerne offensiv vertreten. Wenn sie jedoch ihre Meinung zum Maß aller Dinge machen und ihre Macht nutzen, um Vertreter anderer Positionen gesellschaftlich auszugrenzen und ihnen die Freiheit, an öffentlichen Debatten mitzuwirken, aberkennen, ist dies ein klarer Machtmissbrauch.
Deutungsmonopole, Leitplanken für Debatten und Denkverbote vertragen sich nicht mit einer vermeintlich pluralistischen Gesellschaft. Debatte braucht Widerspruch! Und wenn man damit Gefahr läuft, selbst als „umstritten“ tituliert zu werden, dann sei dem so. Wir brauchen viel mehr umstrittene Stimmen. Anerkannte Sprechpuppen, die stets nur das sagen, was dem Konsens der Meinungsmacher entspricht, haben wir schließlich mehr als genug. Seid umstritten! Oder frei nach Lenin: Sag’ mir, wer Dich kritisiert und ich sage Dir, was Du richtig gemacht hast.
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