Der Westen lässt keine Gelegenheit aus, seine angebliche zivilisatorische Überlegenheit zu verlautbaren. Mit dem Ende des Kalten Krieges hat der westliche Liberalismus gewonnen – weltweit und für immer, so die Überzeugung seiner Protagonisten. Die USA riefen nach dem Ende der bipolaren eine „neue Weltordnung“ aus, die faktisch die „Pax Americana“ sein sollte – also die einzig von den USA geformte und dominierte politische und ökonomische Weltordnung. Wer sich nicht so recht von den westlichen Werten und Ordnungsvorstellungen begeistern ließ und lässt, bei dem wurde und wird auch schon mal mit militärischen Mitteln nachgeholfen, alles natürlich im Namen der Menschenrechte. Von Dr. Alexander Neu.
Westliche Demokratie- und neoliberale Wirtschaftskonzepte sowie die Universalität der Menschenrechte bilden die Grundlage US-geführter westlicher Außenpolitik. Oder fehlt da noch etwas? Interessen vielleicht, die mit westlichen Werten und westlicher Moral bemäntelt werden – insbesondere in der bundesdeutschen Außenpolitik?
In der politischen Praxis wird der westliche Anspruch der Menschenrechte tatsächlich auf die Ebene der bürgerlichen und politischen Menschenrechte verengt. Die sozialen Menschenrechte, wie das Recht auf soziale Sicherheit und Arbeit etc. spielen kaum eine Rolle. Wer kennt sie schon? Werden sie doch systematisch im politischen Diskurs ausgeblendet, obschon seit der UNO-Menschenrechtskonferenz im Jahre 1993 die Unteilbarkeit der politischen und sozialen Menschenrechte festgelegt wurden. Diese Einseitigkeit des Menschenrechtsverständnis herauszuarbeiten, wäre ein ganz eigener Beitrag.
Hier geht es darum zu beleuchten, inwiefern die vom Westen prioritär thematisierten politischen Menschenrechte tatsächlich die Handlungsmaxime westlicher Außenpolitik, mithin die wertebasierte Außenpolitik, darstellen. Kurzum:
Hält der in seiner Selbstwahrnehmung zivilisatorisch überlegene Westen selbst die politischen Menschenrechte ein und verteidigt diese gegen alle menschenrechtsbrechenden Staaten gleichermaßen – ungeachtet, ob befreundete oder gegnerische Staaten? Diese Frage bzw. die Antwort auf diese Frage ist entscheidend über die Glaubwürdigkeit westlicher Menschenrechtspolitik, mithin ob sie authentisch verfolgt wird oder nur ein Mittel zum Zweck ist, um unliebsame nicht-westliche Regierungen an den Pranger der Weltöffentlichkeit zu stellen und auf diese Weise politische und ökonomische Interessen zu sichern. Das vermutlich prominenteste Gegenbeispiel hat einen Namen: Julian Assange.
Aber auch jenseits dieser skandalösen Haltung des Westens gegen den Investigativjournalisten, kann man wertebasierte Doppelstandards des Westens in Medien und Politik ohne größeren Aufwand und mit einem klaren Blick der Realitäten beobachten.
Im Folgenden drei Beispiele mit Blick auf den Ukrainekonflikt:
Das jüngste Beispiel bildet der Skandal in der Sendung „Hart aber fair“. Zu Gast u.a. Sahra Wagenknecht. Darin verweist S. Wagenknecht auf Kriegsverbrechen beider Seiten, weshalb auch endlich der Krieg gestoppt werden müsse. Eine berechtigte Forderung, da es keine „sauberen“ Kriege gibt, sondern Kriegsverbrechen ein inhärenter Bestandteil von Kriegen sind. Die Grenzen von „legitimer“ und „illegitimer“ Gewalt bis hin zu schlimmsten Kriegsverbrechen verschwimmen dabei. Wer also Kriegsverbrechen verhindern will, muss den Krieg beenden – einfache Logik.
Anstatt darauf diskursiv einzugehen, wittert der Moderator Louis Klamroth nun die Gelegenheit, S. Wagenknecht vorzuführen. Er zeigt einen kurzen „Einspielfilm“, in dem ausschließlich russischen Soldaten sexuelle Gewalt in der Ukraine nachgewiesen werden könne. Damit reaktiviert Klamroth ganz nebenbei auch einen Frame mit Blick auf das Ende des 2. Weltkriegs, demnach nur russische Soldaten Frauen vergewaltigt hätten. Auch das ist mittlerweile widerlegt. Hier nun der Text des Einspielfilms: „Die Vereinten Nationen sammeln seit Beginn des Krieges Informationen zu Vergewaltigungen: Es gibt dazu verschiedene Aussagen, Stellungnahmen, Berichte. Belege für Vergewaltigungen durch ukrainische Soldaten liegen der UN demnach nicht vor.“ Anscheinend hat der Moderator Klamroth nun S. Wagenknecht der Unwahrheit überführt – aber nur anscheinend. Denn kurze Zeit später musste das Rechercheteam von „Hart aber fair“ indes einräumen: „Mittlerweile ist uns ein Bericht der UN-Menschenrechtskommissarin aus dem Juli 2022 bekannt, in dem auch sexualisierte Gewalt auf ukrainisch kontrolliertem Gebiet berichtet wird.“ Also ein Bericht, der mehr als ein halbes Jahr im Internet zu finden ist, wird nicht gefunden??
Hat „hart aber fair“ nur unsauber recherchiert oder haben sie hinsichtlich des Berichts von Juli 2022 gesinnungsethisch verblendet beiseite geschaut – mithin „Hart aber unfair“, um den Titel der Sendung neu zu benennen? Also entweder journalistische Schlamperei oder intendierte Irreführung im Propagandakrieg – auch auf Kosten der Opfer in der Ukraine, die zu falschen Opfern, weil sie nicht auf der richtigen Seite stehen, degradiert werden.
Das zweite Beispiel: Am 2. Mai 2014 kamen in der Stadt Odessa etwa 50 Menschen ums Leben – sie wurden getötet. Die ermordeten Personen widersetzten sich dem Maidan-Umsturz vom Februar 2014. Getötet wurden sie von proukrainischen Nationalisten. Die Menschen verbrannten im Gewerkschaftshaus, wurden erschossen, zu Tode geprügelt und stranguliert, sowohl Männer als auch Frauen. Eine hochschwangere Frau wurde in ihrem Büro im Gewerkschaftshaus mit einem Kabel erdrosselt, womit zwei Menschen getötet wurden – was den Hass und die Hemmungslosigkeit unterstreicht. Inwieweit es auch zu sexueller Gewalt kam, ist schwer einzuschätzen, jedenfalls gab es Bilder von Toten, deren Unterkörper entblößt waren.
Der Europarat forderte Aufklärung, die bis heute nicht stattgefunden hat, geschweige denn strafrechtliche Ermittlungen und Verurteilungen. Wie hat die deutsche Regierung reagiert? Wochen nach dem Vorfall reiste der damalige Außenminister und jetzige Bundespräsident F.W. Steinmeier in die Ukraine. Ein Besuch des Gewerkschaftshauses und eine Niederlegung von Blumen als Ausdruck der Solidarität mit den dort getöteten Menschen fand nicht statt – obschon Steinmeier als Sozialdemokrat doch zumindest Gewerkschaftern näherstehen sollte als Nationalisten, mindestens aber Opfern dieser Verbrechen näherstehen sollte. Meiner seinerzeit gestellten Frage im Bundestag, warum er das Gewerkschaftshaus nicht besucht habe, wich Steinmeier aus. Mit anderen Worten: Steinmeier machte seine Aufwartung gegenüber der neuen Maidan-Regierung, bringt es aber nicht fertig, die Opfer des Gewerkschaftshauses zu betrauern.
Mir sind auch keine Sanktionen gegen die Kiewer Regierung aufgrund des Massakers oder aufgrund des mangelnden Aufklärungsinteresses bekannt. Wo war der Aufschrei der deutschen Massenmedien, die ansonsten das Wasser nicht halten können, wenn Russen oder Serben Verbrechen begehen? Sind es etwa die falschen Opfer gewesen? Wird den Menschen das Recht auf Leben und nach ihrer Tötung das Recht auf Würdigung abgesprochen, weil sie mit dem Maidan-Umsturz nicht einverstanden gewesen sind? Kurzum, ja. Eine andere Interpretation erschließt sich mir nicht.
Ein drittes Beispiel: In den Jahren seit 2014 bis zum 24. Februar 2022 wurden nach diversen Schätzungen rund 14.000 Menschen (Zivilisten und Uniformierte) in der Ostukraine auf beiden Seiten der Frontlinie getötet. Ich habe in all diesen Jahren immer wieder mit Verwunderung zur Kenntnis genommen, dass zwar die Zahlen in den Raum geworfen, jedoch nicht qualifiziert wurden – also, wer ist von wem getötet worden? Die OSZE-Mission („Special Monitoring Mission to Ukraine“) ist vor Ort gewesen. Zu ihren Aufgaben gehörte, alles zu dokumentieren, was konflikt- und sicherheitsrelevant gewesen ist.
Die OSZE-Mission hat im Zeitraum 2014 bis 2022 sogenannte daily reports (Tagesberichte) erstellt, in dem auch Angaben zu Toten und Verletzten gemacht wurden. Für den relativ „ruhigen“ Zeitraum 2017 – 2020 wurden die Daten über getötete und verletzte Zivilisten in einem umfassenden Bericht aufbereitet. Darin wird deutlich, dass auf der Seite der Aufständischen doppelt bis dreimal so viele Zivilisten getötet und verletzt wurden als auf der von der Ukraine kontrollierten Seite. D.h. also, dass auf allen Seiten sehr viele unschuldige Menschen getötet wurden, jedoch die ukrainische Seite deutlich mehr Zivilisten zu verantworten hat als die Seite der Aufständischen.
Und, haben die Menschen in Deutschland diese ausdifferenzierten Zahlen von den Massenmedien erfahren können? Als die bosnischen Serben in den 1990er Jahren Sarajevo belagerten, erhielten wir fast tagesaktuell die Zahlen von durch Serben getöteten Bosniaken. Und in der Ukraine nicht. Warum wohl? Sind es die falschen Opfer gewesen? Ja, denn die ausdifferenzierte Darstellung der Zahlen und Benennung der Verantwortlichen hätte das propagandistisch gepflegte Schwarz-weiß-Bild des Konfliktes infrage gestellt. Also zogen es Medien und Politik vor, nur die Gesamtzahl ohne Verantwortlichkeiten zu benennen.
Konflikte und Kriege sind in Ursache und Auswirkung indessen nicht mit dem einfachen Schema der „good and bad guys“ zu verstehen. So einfach ist die Realität nicht und schon gar nicht bei gewaltförmigen Konflikten. Die intendierte unterkomplexe Darstellung von Konflikten hat einen Namen: Kriegspropaganda. Und die ist auf beiden Seiten des Konflikts unübersehbar.
Um auf die Eingangsfrage zurückzukommen: Wenn die politischen Menschenrechte ungeteilt wären, wie so gerne von ihren westlichen Befürwortern hervorgehoben, so stellt sich die Frage, warum es ganz offensichtlich dann „gute“ und „schlechte“ Opfer gibt. Die Antwort lautet: Die Einhaltung bzw. Verletzung der politischen Menschenrechte wird sehr selektiv gehandhabt. Bei Verbündeten (beispielsweise US-Lager in Guantanamo, Julian Assange und US-Drohnenmorde) sowie strategischen Partnern (Saudi-Arabien) wird schon mal ein oder besser direkt beide Augen zugedrückt. Demgegenüber wird bei unliebsamen Staaten der Garten so lange umgegraben, bis Menschenrechtsverletzungen gefunden werden, die man politisch anklagen kann.
Unter diesem Aspekt stellen die politischen Menschenrechte keinen Wert an sich dar, sondern werden zu einem Instrument in einem außen- und geopolitischen Macht- und Interessenspiel degradiert. Ein solches Menschenrechtsverständnis bleibt natürlich nicht unentdeckt, insbesondere nicht vom globalen Süden. Dessen Erinnerungen an die Kolonialverbrechen des Westens sind nicht vergessen, was auch einer von vielen Gründen für deren Verweigerungshaltung sein dürfte, sich der westlichen Sanktionspolitik trotz westlichen Drucks anzuschließen.
Titelbild: shutterstock / Alexandr Shevchenko