In der „Hart aber fair“-Talkshow vom 27. Februar zum Thema „Frieden mit Putins Russland: Eine Illusion?“ erklärte die Bundestagsabgeordnete Sahra Wagenknecht, dass die UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet darauf hingewiesen habe, dass Kriegsverbrechen von beiden Seiten begangen werden. Dieser Darstellung widersprach der Moderator Louis Klamroth vehement, erklärte Wagenknechts Aussage zur „Falschmeldung“, die er so nicht stehen lassen könne, und ließ dann ein Video einspielen, in dem mit Verweis auf UN-Quellen behauptet wird, dass sexuelle Gewalt nur von russischer Seite dokumentiert sei. Diese Aussage wiederholt auch der ARD-„Faktencheck“ zur Sendung. Wer hat recht? Von Florian Warweg.
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„Die UN-Menschenrechtskommissarin (Michelle Bachelet) hat immer wieder darauf hingewiesen, auch in diesem Krieg: Kriegsverbrechen werden von beiden Seiten begangen, und wenn man sie beenden will, dann muss man diesen Krieg beenden.“
So die Aussage von Wagenknecht in der ARD-Talkshow, auf die „Hart aber fair“-Moderator Klamroth mit folgender Intervention reagiert:
„Sorry, das kann ich in der Sendung so nicht stehen lassen, ich zeig‘ Ihnen mal, was die UN sagt.“
Darauf kommt ein Einspieler, in dem ohne konkreten Quellenbeleg von einer Off-Stimme erklärt wird:
„Belege für Vergewaltigung durch ukrainische Soldaten liegen der UN demnach nicht vor. Beim Thema Vergewaltigung geht es ohne Ausnahme immer um russische Soldaten.“
Anschließend wird noch, mit Verweis auf eine AFP-Meldung vom 14. Oktober 2022, die UN-Sondergesandte für sexuelle Gewalt in Konflikten, Pramila Patten, mit folgender (von der „Hart aber fair“-Redaktion sehr verkürzten und zudem teilweise falsch übersetzten) Aussage zitiert:
„Wenn man sieht, dass Frauen und Mädchen tagelang (…) geschlagen und vergewaltigt werden (…), dann ist das eindeutig eine militärische Strategie“.
Das vollständige und korrekt übersetzte Zitat Pattens lautet hingegen:
„Wenn Frauen tagelang festgehalten und vergewaltigt werden, wenn man anfängt, kleine Jungen und Männer zu vergewaltigen, wenn man eine Reihe von Genitalverstümmelungen sieht, wenn man von Frauen hört, die von mit Viagra ausgerüsteten russischen Soldaten berichten, dann ist das eindeutig eine militärische Strategie.“
Insbesondere ihr Verweis auf die angebliche Ausstattung russischer Soldaten mit Viagra – und die Auslassung dieses Teils des Zitats durch die „Hart aber fair“-Redaktion – wird im weiteren Verlauf dieses Faktenchecks noch von Bedeutung sein.
Im Anschluss erklärte Wagenknecht erneut, dass die Darstellung so nicht stimme. Die UN habe eindeutig gesagt, dass Kriegsverbrechen von beiden Seiten begangen werden. Daraufhin echauffierte sich der Moderator, der ja eigentlich eine neutrale und vermittelnde Position einnehmen sollte, und verkündet:
„Frau Wagenknecht, jetzt haben wir ein Problem. Es ist meine Verantwortung als Moderator, hier keine Falschmeldung stehen zu lassen. Ich habe Ihnen das gezeigt, das stimmt. (…) Deswegen habe ich Ihnen gezeigt, wie es wirklich ist.“
Man beachte die Absolutheit der Aussage des ARD-Moderators à la „Nur ich habe recht, und nur was ich sage, stimmt.“
Die UN-Quellen von Wagenknecht versus denen der „Hart aber fair“-Redaktion
Um festzustellen, wer nun „wirklich“ recht hat, gehen wir zunächst die Quellen durch, auf die sich die Linken-Politikerin sowie der „Hart aber fair“-Moderator jeweils bezogen haben.
Sahra Wagenknecht nimmt Bezug auf Aussagen der chilenischen UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet, die bis Ende August 2022 dieses Amt innehatte. Diese erklärte zum Beispiel am 5. Juli 2022 vor dem UN-Menschenrechtsrat in Genf:
„Mein Team hat 28 Fälle konfliktbedingter sexueller Gewalt verifiziert, darunter Fälle von Vergewaltigung, Gruppenvergewaltigung, Folter, erzwungener öffentlicher Entkleidung und Androhung sexueller Gewalt. Die meisten Fälle wurden in den von den russischen Streitkräften kontrollierten Gebieten begangen, aber es gab auch Fälle, die in von der Regierung kontrollierten Gebieten begangen wurden.“
Der Tagesspiegel fasste die Aussagen der UN-Menschenrechtskommissarin in einem Artikel vom 5. Juli 2022 unter dem Titel zusammen: „Neue Einschätzung der Vereinten Nationen: Beide Kriegsparteien in der Ukraine begehen Misshandlungen“.
In dem Artikel heißt es weiter:
„Weiterhin gebe es Folter und Misshandlung von Kriegsgefangenen, ohne dass Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen würden. Auch Fälle von Vergewaltigung und anderer sexualisierter Gewalt seien in russisch wie in ukrainisch kontrollierten Gebieten dokumentiert.“
Die Aussagen von Wagenknecht werden ebenfalls bestätigt vom Bericht des Büros des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte (OHCHR) vom 27. September 2022, der verifizierte Vorfälle von sexueller Gewalt vom 1. Februar bis 31. Juli 2022 im Rahmen des Ukraine-Krieges zusammenfasst. Dort heißt es unter anderem:
„Dreißig Fälle (sexueller Gewalt) wurden von russischen Streitkräften oder Strafverfolgungsbehörden begangen, zwei Fälle wurden von ukrainischen Streitkräften oder Strafverfolgungsbehörden begangen und elf Fälle wurden von Zivilisten oder Mitgliedern von Territorialverteidigungseinheiten begangen.“
Es bleibt folglich festzuhalten: Der Verweis von Wagenknecht auf die Aussagen der UN-Menschenrechtskommissarin ist korrekt. Bachelet spricht nachweislich sowohl davon, dass beide Seiten Kriegsverbrechen begehen, als auch davon, dass Fälle „sexualisierter Gewalt“ sowohl von russischer wie ukrainischer Seite „verifiziert“ worden seien. Die Aussage der UN-Menschenrechtskommissarin und auch der OHCHR-Bericht von September 2022 widersprechen damit direkt der Darstellung durch den „Hart aber fair“-Moderator Klamroth und dem „Faktencheck“ seiner Redaktion zur Sendung. Auch die Aussage von Wagenknecht, dass schon vor dem 24. Februar 2022 zahlreiche Fälle „sexueller Gewalt“ durch die ukrainische Armee und das rechtsradikale Asow-Bataillon im Donbass von den Vereinten Nationen dokumentiert wurden, wird von UN-Berichten bestätigt.
Da die Darstellung der damaligen UN-Menschenrechtskommissarin auch medial von mehreren deutschen „Leitmedien“ aufgegriffen wurde, ist davon auszugehen, dass ebenso die „Hart aber fair“-Redaktion davon Kenntnis hatte, sich aber wohl bewusst dagegen entschieden hat, diese Quelle in ihre Sendung und den Faktencheck aufzunehmen. Ähnliches lässt sich über den OHCHR-Bericht von September 2022 vermuten. Über die Motivation der „Hart aber fair“-Redaktion, ausgerechnet diese Quellen zu ignorieren, lässt sich nur spekulieren.
Der „Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte“, so der offizielle Titel des Postens, verfügt, um eine Vorstellung über die Ressourcen zu haben, über 1.300 angestellte Mitarbeiter in 13 Länderbüros, die ihm zuarbeiten und Fälle sexueller Gewalt dokumentieren und verifizieren. Ihm steht ein Budget von rund 120 Millionen US-Dollar zur Verfügung. (Bis Ende August 2022 hatte dieses Amt die ehemalige chilenische Präsidentin Michelle Bachelet inne, seit September 2022 der Österreicher Volker Türk.)
Die UN-Quelle der „Hart aber fair“-Redaktion hat kein Verifizierungsmandat
Die „Hart aber fair“-Redaktion bezieht sich in der Sendung ausschließlich auf eine einzige namentliche UN-Quelle, die UN-Sondergesandte für sexuelle Gewalt in Konflikten, Pramila Patten. Diese verfügt, im Gegensatz zum UN-Menschenrechtskommissar, nur über einen sehr kleinen Mitarbeiterstamm und ein ebenso begrenztes Budget. Ihre Rolle ist fast ausschließlich repräsentativer Natur. Sie hat zudem, ebenfalls im Gegensatz zum UN-Hochkommissar, weder Kapazitäten noch den Auftrag, entsprechende Vorwürfe zu sexueller Gewalt zu verifizieren. Dies räumt Patten auch offen ein. So erklärte sie im November 2022 in einem Video-Interview gegenüber den bekannten russischen Prankstern Vovan und Lexus auf die Frage, ob ihr Beweise vorliegen für ihre offiziell verkündete Behauptung, russische Soldaten würden mit Viagra ausgerüstet, Folgendes:
„Nein, nein. Wie ich schon sagte, es ist nicht meine Aufgabe, Nachforschungen anzustellen. Ich sitze in New York, in einem New Yorker Büro, und ich habe ein Mandat zur Interessenvertretung („advocacy mandate“) – meine Aufgabe ist es nicht, Nachforschungen anzustellen. Die Nachforschungen werden vom Menschenrechtsbeobachtungsteam und von der Internationalen Untersuchungskommission durchgeführt. In ihren Berichten steht bisher nichts über Viagra.“
Es wird aber noch wilder. In einem bezeichnenden Gespräch mit dem „United States Institute of Peace“ (USIP), einer US-amerikanischen Bundeseinrichtung zur Erforschung und Verhinderung gewaltsamer Konflikte weltweit, erklärte die UN-Sondergesandte am 7. Juni 2022 (ab Minute 41:10 in der Aufnahme), auf welcher Quelle ihre Informationen zur sexuellen Gewalt russischer Soldaten und der angeblichen Ausrüstung mit Viagra vor allem beruhen:
„Der Ombudsfrau für Menschenrechte, obwohl sie letzte Woche ihres Amtes enthoben wurde“.
Bei der Ombudsfrau, auf die sich Patten bezieht, handelt es sich um die ukrainische Menschenrechtsbeauftragte Ljudmyla Denissowa, die am 31. Mai 2022 ihres Amtes enthoben wurde, weil sie Vergewaltigungen russischer Soldaten nachweislich erfunden hatte. Dies räumten selbst Infoportale wie t-online ein:
Wer hat es wem gezeigt?
Wir halten fest: Die „Hart aber fair“-Redaktion und der Moderator berufen sich argumentativ im Verlauf der gesamten Sendung ausgerechnet auf die UN-Vertreterin mit dem eingeschränktesten Mandat, die zudem selbst einräumt, keinerlei Verifizierungsmöglichkeiten für ihre Behauptungen zu haben, und die ebenso eingesteht, dass ihre Darlegungen bisher nicht von offiziellen UN-Berichten gestützt werden. Das hält Louis Klamroth aber nicht davon ab, in kompletter Anmaßung und Hybris gegenüber Sahra Wagenknecht zu verkünden: „Deswegen habe ich Ihnen gezeigt, wie es wirklich ist.“
Angesichts der aufgezeigten Tatsache, dass sowohl die Aussagen des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte vor dem UN-Menschenrechtsrat wie auch der letzte umfassende Bericht zur Menschenrechtssituation in der Ukraine die Darstellung von Sahra Wagenknecht stützen und nicht die Ausführungen von Louis Klamroth und dessen Redaktionsteam, war es im Rückblick der Talkshow-Gast Sahra Wagenknecht und nicht der paternalistisch agierende Moderator, die gezeigt hat, „wie es wirklich ist.“
Titelbild: Screenshot
Anmerkung der Redaktion: Inzwischen hat die „Hart aber fair“-Redaktion reagiert und eingeräumt, dass ihr „mittlerweile“ auch ein Bericht der UN-Menschenrechtskommissarin aus dem Juli 2022 bekannt sei, „in dem auch sexualisierte Gewalt auf ukrainisch kontrolliertem Gebiet berichtet wird“. Also genau die Quelle, auf die Sahra Wagenknecht in ihren Aussagen Bezug genommen hat und die vom Moderator als „Falschmeldung“ verleumdet wurden. Zudem gibt es jetzt folgende Ergänzung unter dem Faktencheck zur Talkshow:
“In einer früheren Version des Faktenchecks haben wir noch nicht auf den Bericht der UN-Menschenrechtskommissarin aus dem Juli 2022 und den UN-Bericht aus dem September 2022 verwiesen. Dies haben wir hier ergänzt.“
Eine öffentliche Stellungnahme und Entschuldigung des „Hart aber fair-Moderators“ Louis Klamroth für seine nachweislich falschen Beschuldigungen gegenüber Sahra Wagenknecht steht aber noch aus.
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