Mehr zum Koalitionsvertrag: Die Große Koalition, ziemlich kleinkariert
„Ich erkläre hiermit, dass ich diese Koalitionsvereinbarung ebenso wenig lesen werde wie die vorige.“ So soll sich der noch amtierende Kanzler Gerhard Schröder laut BamS nach Abschluss der Koalitionsverhandlungen geäußert haben. Mir ist zwar klar, dass solche Verträge zwischen den koalierenden Parteien, die Regierungen – sind sie erst einmal gewählt – nur noch beim Regieren stören und am liebsten gleich in den Reißwolf verfügt würden. Dennoch wollte ich mich der Mühe unterziehen und die insgesamt 191 Seiten gründlich lesen, damit ich mir nicht später den Vorwurf einhandle: Ich hätte alles, was auf uns zu kommt, ja vorher wissen können und müssen.
Spätestens ab Seite 66 habe ich den Text jedoch nur noch überflogen. Dort steht nämlich der Satz: „Alle Maßnahmen dieses Koalitionsvertrages stehen unter Finanzierungsvorbehalt.“ D.h. man kann den ganzen Streit um den Koalitionsvertrag vergessen, wenn die dort vorgesehenen Maßnahmen nicht finanzierbar sind. So wie die Politik angelegt ist, ist aber nichts anderes zu erwarten.
Das Wichtigste dieses Koalitionsvertrages steht in der Präambel. Sie steckt voller Politlyrik und ich liege wohl nicht ganz falsch mit der Behauptung, dass die entscheidenden Verhandlungsgremien fast ausschließlich um deren Wortlaut gerungen haben. Die nächsten 140 Seiten nebst weiteren 45 Seiten Verhandlungsergebnisse zur Föderalismusreform lesen sich wie die routinemäßige Fortschreibung eines von den Beamten der Planungs- und Koordinierungsabteilung des Kanzleramtes ressortabgestimmten Regierungsprogramms, in dem mit beamtengemäßer Akribie möglichst flächendeckend das bisherige Regierungshandeln fortgeschrieben wird.
So ein Papier braucht man vielleicht, wenn die Regierungszentrale einen Überblick behalten will, welche Vorhaben in welchem Ressort für das Regierungshandeln anstehen. Ich trete aber wohl keinem der Verhandlerinnen oder Verhandler zu nahe, wenn ich behaupte, dass keine oder keiner von ihnen den Vertrag ganz oder auch nur in weiten Teilen durchgelesen hat. Schröder steht mit seiner Ignoranz da wohl keineswegs alleine.
Allenfalls haben die Verhandlungsteilnehmer von ihren „Zuschlägern“ oder ihren Länderstaatskanzleien gegilbte Exemplare an die Hand bekommen und Formulierungsvorschläge zu einzelnen von Anfang bis Ende durchnummerierten Textzeilen mit in die Sitzungen geliefert bekommen.
Dass die Prosa des Vertrages zum ganz überwiegenden Teil aus den Textbausteinen der Fachressorts zusammengestückelt worden ist, zeigt beispielhaft die akribische Auflistung des Katalogs der Marterinstrumente gegen den angeblichen Missbrauch der Hartz IV-Gesetze. Die Formulierungen, die dort gewählt worden sind, können eigentlich einem Politiker gar nicht einfallen. Z.B.: „Unter 25jährige, die erstmals eine eigene Wohnung beziehen wollen, können künftig nur noch Leistungen erhalten, wenn sie vorher die Zustimmung des Leistungsträgers einholen.“ Oder bei der „Ausgestaltung des Schonvermögens…könnten künftig die Schonbeträge zur Alterssicherung angehoben und die bisherigen Freibeträge entsprechend abgesenkt werden“ usw. usf. (Zeilen 1307ff.) Man merkt richtig, wie Clement seinen Beamtenapparat scharf gemacht hat.
Sie, liebe Leserinnen und Leser, brauchen sich also wie Gerhard Schröder kein schlechtes Gewissen zu machen, wenn Sie diesen Text nur downloaden und abspeichern. Sie sollten allenfalls die Seiten lesen, die Sie persönlich betreffen könnten.
Wenn Sie die dreiseitige Präambel gelesen haben, wissen Sie im Wesentlichen, worum es bei der Großen Koalition geht und welche Grundrichtung in der Regierungspolitik eingeschlagen werden soll. Allerdings enthält auch das „Kleingedruckte“ manche Tretmine und eine Vielzahl von verdeckten Hinweisen auf Interessen, von denen die Großkoalitionäre geleitet sind. So wird zum Beispiel in 1.2 (Zeile 710) „die Beseitigung der Diskriminierung von Public Private Partnerships“ gefordert und in 6.1 (Zeilen 2252ff.)wird erklärt, „unser Ziel ist es, mehr privates Kapital für den Verkehrswegebau zu mobilisieren.“ Die dahinter steckenden Interessen von Seiten privater Investoren, die dem Staat in die Taschen greifen wollen, sind deutlich zu erkennen.
Ich bin zwar selten mit dem Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie Jürgen Thuman einer Meinung, aber wo er Recht hat, da hat er Recht, wenn er sagt:
„Alles in allem ist der Koalitionsvertrag eine Fortsetzung der Reformpolitik mit vielen kleinen Schritten“. (BamS v. 13.11.05)
Das ist eigentlich nicht verwunderlich, denn wir hatten de facto schon bisher eine Große Koalition, nur nicht in der Regierung, sondern zwischen Regierung und Bundesrat. Deswegen wollte Schröder – was wir auf den NachDenkSeiten von Anfang an vorhergesagt haben – mit all seinen Manövern bis hin zu dem Überraschungscoup mit den Neuwahlen auch nie etwas anderes als eine Große Koalition. Das einzige Pech für ihn ist – oder vermutlich sieht er das sogar als Glücksfall an –, dass er nicht mehr im Kanzleramt sitzt.
Der Agenda-Kurs und seine weitere Fortsetzung durch die Große Koalition hat im Unterschied zu Rot-Grün aber jetzt im Parlament eine satte Zwei-Drittel-Mehrheit (von 73%). Die ganzen Inszenierungen vor und bei den Koalitionsverhandlungen hatten letztlich vor allem einen Zweck: Die Delegierten auf den Parteitagen in den sauren Apfel beißen zu lassen und den Koalitionsvertrag abzunicken. Ein weiteres Mal wird die SPD zur Disziplin gegenüber einer Regierung gezwungen, die sie zwar nicht mehr führt, aber an der sie immerhin zur Hälfte beteiligt ist. Nachdem die Linken in der SPD als vermeintliche Meuchelmörder von Franz Müntefering kaum eine Lippe riskieren können werden, wird es in Karlsruhe kaum eine kritische Stimme und somit eine große Mehrheit für eine Große Koalition geben. Es wird einmal mehr ein Jubelparteitag.
Die ganze Schizophrenie der gegenwärtigen Politik spiegelt sich schon im ersten Satz der Präambel wider: „Deutschland steht vor großen Herausforderungen: Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung, demografischer Wandel und Veränderungsdruck der Globalisierung verlangen große Anstrengungen, um heutigen und künftigen Generationen ein Leben in Wohlstand zu sichern.“(Zeilen 480ff.)
Dass wir gegenwärtig und jedenfalls auch im Verlauf der 16. Legislaturprobleme kein demografisches Problem haben werden und dass Deutschland als Exportweltmeister eher Gewinner der Globalisierung ist, haben wir auf den NachDenkSeiten des Öfteren herauf und herunter dekliniert. Dass wir ein riesiges Problem mit der Arbeitslosigkeit haben und dass die Lage der öffentlichen Haushalte alles andere als rosig ist, das will niemand bestreiten. Schizophren nenne ich es, wenn nicht als erstes und ursächliches Problem und als entscheidende Ursache für die genannten „großen Herausforderungen“ die stagnierende Wirtschaft und dabei vor allem die mangelnde Binnennachfrage angesprochen wird.
Wäre nicht die Ankurbelung der Konjunktur, die Steigerung der Binnennachfrage und ein dadurch angestoßenes Wirtschaftswachstum, die Kernfrage gewesen, um das sich der Streit in den Koalitionsgesprächen hätte drehen müssen? Zumal die Beamten im Text noch aufgeschrieben hatten, dass „seit rund 10 Jahren …die deutsche Wirtschaft durch eine ausgesprochene Wachstumsschwäche gekennzeichnet“ ist, und dass ein halbes Prozent Wachstum 2,5 Mrd. Euro zusätzliche Steuereinnahmen und 2,3 Mrd. Euro Mehreinnamen für die sozialen Sicherungssystem brächte. (Zeilen 670ff.)
Aber so weit haben unsere Koalitionäre wohl nicht mehr gelesen, für sie kommt offenbar ein Konjunkturaufschwung vom Himmel oder allenfalls vom Ausland und Wachstum gibt es eben nur durch langfristig wirkende „strukturelle Reformen“ (Zeilen 485f.). Nicht die Steigerung der Nachfrage, sondern die „Wiederbelebung der Investitionstätigkeit ist der Schlüssel für neues Wirtschaftswachstum“ (Zeilen 691ff.), lautet wie schon bei Rot-Grün auch das wirtschaftspolitische Credo der Großen Koalition.
Im Vertrag steht freimütig, dass die Senkung der Steuersätze die Erträge mancher Unternehmen verbessert und deren Investitionsfähigkeit gesteigert hätten, jedoch habe die höhere Ertragskraft nicht zu ausreichenden Inlandsinvestitionen geführt. Warum aber dann „weiter so“ mit der Verbesserung der Investitionsbedingungen, warum noch bessere Abschreibungsbedingungen, warum Erleichterungen bei der Schenkungs- und Erbschaftssteuer und warum später eine noch investitionsfreundlichere Unternehmensteuerreform? Was haben denn die bisherigen „historisch einmaligen“ (Schröder) Steuersenkungen gebracht?
Warum dann nur einspurig weiter so, mit weiteren Entlastungen für die Investoren etwa durch Senkung der Lohnzusatzkosten unter 40 %, die Senkung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge von 6,5 auf 4,5%, die erneute Prüfung des Kombi-Lohnmodells mit staatlichen Lohnzuschüssen für Niedrigstverdiener usw. usf.?
Es bleibt also dabei: Auch die Große Koalition bleibt fixiert auf die Angebotsseite der Wirtschaft und sieht ihr Hauptaufgabenfeld in der Verbesserung der Investitionsbedingungen für die Unternehmensseite.
Eine Worttrias aus der Präambel hat es sogar in die Schlagzeilen geschafft: „Sanieren, reformieren, investieren“. Schon die Reihenfolge ist Programm: Also erstens sparen, sparen und nochmals sparen. Dann, zweitens, Sozial- und Transfersysteme reformieren (will sagen abbauen und kürzen), damit die „strukturelle Lücke“ (Zeile 3170) aufgefüllt werden kann. Und wenn dann noch etwas übrig bleibt, wird, drittens, noch ein bisschen staatlich investiert. (Dass die Koalition ein Investitionsprogramm von 25 Milliarden – allerdings verteilt über die gesamte Legislaturperiode – spricht, ändert nichts an dieser Reihenfolge.)
Gerade umgekehrt würde ein Schuh daraus. Der Staat müsste endlich wieder kräftig investieren, in Verbindung mit produktivitätsorientierten Lohnerhöhungen könnte die Nachfrage gesteigert, dadurch das Wachstum gesteigert, die Beiträge für die Sozialsysteme würden wieder steigen und die Steuern wieder etwas stärker sprudeln.
Die Logik der Großen Koalition ist aber eine andere: „Sanierung des Haushalts und das Erreichen des Maastricht-Defizitkriteriums bis zum Jahr 2007 sind unerlässlich. Weitere Reformen der sozialen Sicherungssysteme sind erforderlich. .. Deutschland braucht eine Wachstumsstrategie mit deutlich höheren Investitionen“. (Zeilen 659ff.)
Das sog. (staatliche) „Investitionsprogramm“ ist eine reine Alibiveranstaltung, so als ob man jetzt schon der gängigen Behauptung Vorschub leisten wollte, Investitionsprogramme brächten nichts.
Da sollen also jährlich 35 bis 40 Milliarden eingespart und bis 2007 die Mehrwertsteuer um 3 % oder 24 Milliarden erhöht werden und dann soll ein Investitionsprogramm verteilt auf 4 Jahre mit einem Volumen von 25 Milliarden die Wirtschaft in Schwung bringen? Da wird erst ein Mehrfaches an Nachfrage abgezogen, was tröpfchenweise investiert wird. In die 25 Milliarden werden eingerechnet:
6,5 Milliarden Abschreibungserleichterungen vor allem für den Mittelstand und Steuersubventionen bei energiesparenden Gebäudesanierungen.
5 Milliarden für die steuerliche Abzugsfähigkeit von haushaltsnahen Dienstleistungen (früher nannte man das „Dienstmädchenprivileg“ für diejenigen, die sich das leisten können), für Gebäudeerhaltung und -modernisierung und für Kinderbetreuungskosten.
Weiter wird hinzu gerechnet, die Einführung des Elterngeldes auf 67% des letzten Nettoeinkommens bis maximal 1.800 Euro.
Nicht klein schreiben will ich die 6 Milliarden für die Förderung neuer Technologien (Zeilen 3235 ff.).
Diesen Bauchladen an Fördermitteln, Steuererleichterungen und Steuersenkungen jedoch als „Investitionsprogramm“ zu bezeichnen, ist schon ziemlich mutig.
Franz Müntefering hat übrigens im Verlauf der Koalitionsgespräche immer wieder davon gesprochen, dass Sozialdemokraten für einen „handlungsfähigen Staat“ eintreten. Ich hatte dabei immer daran gedacht, dass der Staat in der Lage sein soll, seine Aufgaben zu erfüllen (vor allem auch im Bereich der Daseinsvorsorge), dem Primat der Politik gegenüber der Ökonomie zum Durchbruch zu verhelfen oder die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen. Da habe ich mich wohl gründlich geirrt. Die einzigen Stellen, wo ich den Begriff des „handlungsfähigen Staates“ im Koalitionsvertrag gefunden habe, das war im Zusammenhang mit der Konsolidierung der Finanzen (Zeile 528), mit der Reform des Föderalismus und der Verbesserung der Verwaltungseffizienz (Zeile 330) und – man höre und staune – im Zusammenhang mit der inneren Sicherheit und der Terrorismusbekämpfung (Zeile 617).
Der „starke Staat“ zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung passt ganz gut in das wirtschaftsliberale politische Paradigma, das diesen Koalitionsvertrag kennzeichnet: Der Staat hat die Investitionsbedingungen zu verbessern, für mehr Markt, für mehr Wettbewerb zu sorgen und um Verständnis für mehr Ungleichheit zu werben, er hat die Eigenverantwortung bei der Risikovorsorge durch Privatisierung der sozialen Sicherungssysteme zu verlangen und die Verlierer der Marktgesellschaft zu „fordern“ und – damit das ganze nicht auseinanderdriftet oder gar explodiert – hat er für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Jedenfalls, bei der inneren Sicherheit darf nicht gespart werden und da hört auch das Gerede von der Freiheit auf.
Über solche größeren Zusammenhänge, über das zu Grunde liegende Gesellschaftsbild ist im Koalitionsvertrag an kaum die Rede. Die Grundentscheidung sozialer Wohlfahrtsstaat oder wirtschaftsliberaler Staat nach angelsächsischem Verständnis ist mit der Großen Koalition machtpolitisch zugunsten der Fortsetzung des Agenda-Kurses und eines wirtschaftsliberalen Weges vorentschieden und sozusagen vor die Klammer gezogen, deswegen auch so viel Kleinkariertes im Koalitionsvertrag.
Jetzt heißt es eben CDU/CSU und SPD „Gemeinsam für Deutschland“. Eigentlich müsste man sagen: CDU/CSU und SPD gemeinsam gegen den in der Wahl zum Ausdruck gebrachten Willen der Mehrheit der deutschen Wählerinnen und Wähler für den Sozialstaat, für mehr Solidarität.