Wie viele andere Ukrainer wachte ich am 24. Februar und die Tage danach durch das Geräusch von Explosionen in Kiew auf. Zuvor hatte ich mein Bestes getan, um den Gedanken an die Möglichkeit eines Krieges mit all seinen Vor- und Nachteilen für die Beteiligten zu verdrängen. Doch was passiert ist, ist passiert. Die letzten 12 Monate haben die Bestrebungen, Wünsche, Gründe, Rollen, Aufgaben und Motive aller Beteiligten völlig offengelegt. Für geo- und machtpolitische Überlegungen der USA werden Abertausende Ukrainer, insbesondere aus dem einfachen Volk, zur Schlachtbank geführt. Von Maxim Goldarb.
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- Die Vereinigten Staaten von Amerika befassen sich mit Hilfe der brennenden Ukraine mit Russland, teilweise mit China, drängen Europa in die Rolle eines unterwürfigen Satelliten und versuchen, die Position des Welthegemons wiederzuerlangen.
- Europa wurde (vorerst) bis zur Brust in den Konflikt hineingezogen, und am Ende wird es eines der Hauptopfer sein. Ein Teil seiner Spitze ist sich dessen bewusst und versucht, den Wunsch der USA, ihren Verbündeten zu opfern, abzuwehren (nichts Persönliches, nur Geschäft).
- Russland stellt sich gegen den Westen und versucht, einen weiteren Pol des Welteinflusses zu schaffen, indem es China in die Reihen seiner direkten Verbündeten aufnimmt und Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas um sich schart, die der westlichen Hegemonie und des Diktats überdrüssig sind.
- China wartet geschickt ab, studiert sorgfältig die Situation und die Aktionen der anderen und vergisst dabei nicht, sich so weit wie möglich mit russischen Ressourcen einzudecken, die durch all die Ereignisse billiger geworden sind. Es wird langsam ins Spiel kommen und ist definitiv nicht auf der Seite der Vereinigten Staaten – die Anzahl an Optionen für China nimmt aber mit der Zeit ab.
- Ich werde nicht über Polen, die baltischen Staaten und andere offensichtliche US-amerikanische Satelliten sprechen – sie werden tun, was ihnen gesagt wird. Obwohl sie auch ihre ganz eigenen, historischen Ansichten über die ukrainischen Ressourcen haben.
- Die Ukraine … in den Augen und Köpfen aller Beteiligten existiert sie nicht mehr, egal welcher westliche Vertreter offiziell erklärt: „Wir werden uns den Bemühungen anschließen, wir werden geben, investieren, wir werden Euch helfen, bis zum Ende, wir sind mit Euch, Ihr seid mit uns“ und so weiter.
Das wurde sofort klar, nachdem die Vereinigten Staaten die Friedensgespräche vereitelt hatten und eine unglaubliche Menge Benzin ins Feuer gegossen wurde. Wenn jemand glaubt, dass er Benzin einsetzen muss, um ein brennendes Haus zu löschen, dann ist er einfach ein Idiot. Oder ein Lügner. Unser Land muss alle oben genannten Punkte lösen. Die Ukraine wurde lange vor 2022 als Opfer auserkoren: Der offizielle Beginn der Opfer-Rolle ist der „Sieg“ des US-amerikanischen Protegés Juschtschenko bei den Präsidentschaftswahlen von 2004-2005.
Was müsste die Führung des Landes tun, die vorgibt, alles zu tun, um die geliebte Ukraine und ihre Bevölkerung zu schützen? Alles, um den Krieg sofort zu beenden, sich an den Verhandlungstisch zu setzen! All diese hysterischen Aufrufe, die Verkündigungen eines baldigen Sieges und der Rückeroberung aller Gebiete dienen in der heutigen Realität nur dazu, das eigene Volk zu zwingen, weiter zu kämpfen. Bis zum letzten Ukrainer …
Ich glaube an die ausländischen Zahlen über die ukrainischen Opfer: Von der Leyen spricht von 200.000, die US-Medien von 350.000. Das war ein paar Monate vor dem Jahreswechsel. Und es werden noch mehr werden, wenn es weitergeht. Dies wird durch die unerfüllten, nicht abgeschlossenen Punkte 1 bis 5 dieses Artikels belegt.
Mir ist klar, dass sich jetzt bezahlte Propagandisten, Experten und „Meinungsführer“ gegen mich wenden und mich erneut ächten werden: „Das ist unpatriotisch, das ist gegen die Politik des Präsidenten“ und so weiter.
Aber für mich sind Patriotismus der Wunsch und die Handlungen, die darauf abzielen, sein Land und sein Volk zu erhalten und zu entwickeln. Und keineswegs ein blinder oder (noch schlimmer) ein bewusst bezahlter Wunsch, das Land und die Menschen, vor allem die einfachen Menschen, die Arbeiterklasse, zur Schlachtbank zu führen.
Zum Autor: Maxim Goldarb ist aktuell Vorsitzender der „Union der linken Kräfte“ und war vor dem Maidan-Putsch leitender Rechnungsprüfer und Kontrolleur der Finanzen des ukrainischen Verteidigungsministeriums. Die Union der linken Kräfte ist eine 2007 gegründete ukrainische Oppositionspartei, die sich am Demokratischen Sozialismus orientiert und unter anderem zum Ziel hatte, die ausufernde Privatisierung strategischer Staatsunternehmen sowie den Verkauf landwirtschaftlicher Flächen an ausländische Großkonzerne zu stoppen sowie die Ukraine geopolitisch neutral auszurichten. Zudem setzte sie sich für Russisch als zweite Amtssprache und eine Stärkung des ländlichen Raums ein. Diese Ziele reichten aus, dass die Partei zusammen mit weiteren linken Parteien am 17. Juni 2022 verboten und ihr gesamtes Vermögen enteignet wurde. Ihre Mitglieder arbeiten seit diesem Zeitpunkt aus dem Untergrund oder Exil heraus. Einige ihrer Führungspersönlichkeiten wurden in den letzten Monaten entführt und gelten seitdem, wie beispielsweise der Parteigründer Wassilij Wolga, als spurlos verschwunden.
Titelbild: shutterstock / Halfpoint