In der Überzeugung, dass sich die qualitative und quantitative Beschaffenheit der sich abzeichnenden zukünftigen Entwicklungen besonders gut durch Vergleiche mit früheren Gegebenheiten beurteilen lässt, soll zunächst – beginnend mit den „fetten Jahren“ der Nachkriegszeit – ein Blick auf die einstmals üblichen Lebensbedingungen geworfen werden. Zwar sind die eigenen diesbezüglichen Erfahrungen weitgehend auf die damalige BRD beschränkt, dürften aber dennoch ausreichen, um das Ausmaß der strukturellen Veränderungen einschließlich der daraus resultierenden Umgestaltungen des alltäglichen Lebens zu veranschaulichen. Dabei versteht es sich von selbst, dass die hier aus Gründen der Übersichtlichkeit getrennt voneinander dargestellten Epochen in Wirklichkeit fließend ineinander übergegangen sind und dementsprechend nicht mit einer klaren zeitlichen Zuordnung versehen werden können. Dem als Zeitzeugenbericht angelegten ersten Teil dieses Artikels (Retrospektive) folgt ein zweiter Teil (Machtkampf), in dem es um den Versuch einer Ausleuchtung der im Hintergrund wirkenden Kräfte und deren zukünftige Absichten geht. Für beide Teile gilt, dass schon allein aus Platzgründen nicht auf alle der hierfür in Frage kommenden Einzelthemen eingegangen werden kann. Von Magda von Garrel.
Teil 1: Retrospektive
Zeit des Aufbruchs
Um mit einem im wahrsten Sinne des Wortes alltäglichen Beispiel zu beginnen: In den ersten Jahrzehnten nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Post zweimal am Tag zugestellt, sodass nicht allzu lange auf einen Brief gewartet werden musste. In dringenden Fällen konnten zudem Telegramme verschickt werden, während private Telefonanschlüsse noch sehr selten waren. Immerhin nahm die Zahl der öffentlichen Telefonhäuschen allmählich zu, und man konnte auch in den zumeist nahe gelegenen Postfilialen telefonieren. Wenn es nur eine Kabine gab, musste man schon auf etwas längere Wartezeiten gefasst sein, aber die Standardleistungen wurden zumeist sehr schnell erbracht, da die Postfilialen personell sehr gut ausgestattet waren.
Sehr kundenfreundlich ging es auch bei den Banken zu. Nach Einrichtung eines (damals noch nicht überall erforderlichen) Kontos gehörte die Aushändigung oder Zusendung der monatlichen Kontoauszüge zu den selbstverständlichen Serviceleistungen der Banken, für die genauso wenig eine Extragebühr erhoben wurde wie für die Kontoführung. Geldanlagen wie Sparbücher oder Lebensversicherungen wurden mit hohen (Garantie-)Zinsen belohnt, und auch der Abschluss von Bausparverträgen kam für immer mehr Menschen wegen der zu erwartenden Zuschüsse aus den staatlichen Bauförderprogrammen in Frage.
Überhaupt wurde in jener Zeit viel und schnell gebaut. Die „Neue Heimat“ stampfte in Rekordzeit ganze Wohnquartiere aus dem Boden, was nicht zuletzt den zwangsweise einquartierten (und zumeist ungeliebten) Flüchtlingen aus den ehemaligen Ostgebieten zugutekam. Auf diese Weise sorgten die (nach heutigen Standards extrem schlecht isolierten) Wohnungen für eine weitgehende Befriedung der Gesellschaft. Neben den im Keller untergebrachten großen Waschküchen gehörten zu den neu gebauten Wohnungen oft auch noch Gartenbeete, auf denen alles angebaut werden durfte, was den Mietern im Sinne einer (zumindest partiellen) Selbstversorgung erstrebenswert erschien.
Für den Gesundheitssektor galt, dass die Ärzte damals noch viel Zeit für ihre Patienten hatten und auch auf dem Lande gut erreichbar waren, da sie dort entweder eine Landarztpraxis unterhielten oder in nicht allzu weit entfernten Kliniken arbeiteten. Aber auch ganz allgemein war es um die ländliche Infrastruktur (einschließlich der Bahn- und Busverbindungen) recht gut bestellt, da es zumindest in den größeren Dörfern Schulen, Kindergärten, Läden, Arztpraxen, Gastwirtschaften, Frisöre, Bäcker, Schlachter und oft auch noch weitere kleine Handwerksbetriebe (zum Beispiel Tischler-, Elektro- oder Reparaturwerkstätten) gab.
Selbst bei den Behörden ging es relativ angenehm zu, da damals nicht in Effizienzkriterien gedacht wurde und es auch noch keine Konzentration auf eng umgrenzte Leistungsbereiche gab. Wegen der behördeninternen Vernetzungsbereitschaft war es vielfach noch möglich, die anstehenden Angelegenheiten schnell und formlos „auf dem kleinen Dienstweg“ erledigen zu können.
Die Kinder jener Zeit waren recht unterschiedlichen Einflüssen ausgesetzt. Einerseits genossen sie sehr viel mehr Freiheiten als die heute lebenden Kinder, da sie in ihrer überwiegend draußen verbrachten Freizeit von ihren Eltern nicht überwacht und (nach ein- oder zweimaliger Führung) auch nicht zur Schule begleitet wurden. Andererseits galt die Prügelstrafe als normales „Erziehungsmittel“, wobei insbesondere die in Heimen lebenden Kinder – wie erst in letzter Zeit in vollem Ausmaß bekannt geworden ist – sogar noch schlimmeren Formen der schwarzen Pädagogik (nicht selten in Verbindung mit sexuellem Missbrauch) ausgesetzt waren.
Die Ausstattung der Schulen ließ insbesondere auf dem Land lange Zeit zu wünschen übrig. Hier gab es noch etliche sogenannte Zwergschulen, die aus zwei Räumen für jeweils vier Klassenstufen bestanden (Klassen 1 bis 4 und Klassen 5 bis 8). Schriftliche Aufgaben wurden in der Schuleingangsphase auf Schiefertafeln erledigt, bevor Hefte, Federkiele und Tintenfässer zum Einsatz kamen. Dafür gab es keinen Mangel bei der gesundheitlichen Betreuung der Schüler, die in regelmäßigen Abständen von Schulärzten untersucht wurden.
Ungeachtet aller nationalen und internationalen Krisen (Korea-Krieg, Kuba-Krise, Ermordung Kennedys, Bau der Berliner Mauer, Vietnamkrieg) erfreuten sich die in der BRD lebenden Deutschen am nach und nach größer werdenden Wohlstand der „Wirtschaftswunderjahre“. Der Verkauf von Musiktruhen und Fernsehern (mit nur einem Programm und klar definiertem Sendeschluss) nahm kontinuierlich zu, obwohl Schuldenmachen zu jener Zeit noch verpönt war. Man sparte halt so lange, bis man das Geld für den Erwerb des ersehnten Gegenstandes beisammen hatte.
Erste Auslandsreisen (vorzugsweise nach Italien) folgten, wobei man angesichts einer inzwischen fast erreichten Vollbeschäftigungsrate mehrheitlich von lang andauernden gesicherten Lebensverhältnissen ausging. Tatsächlich kam es damals noch ziemlich häufig vor, dass Arbeitnehmer bis zum Erreichen des Rentenalters immer im selben Betrieb beschäftigt waren und den eigenen Arbeitsplatz gar nicht so selten auch noch ihren Kindern „vererben“ konnten.
Auf der anderen Seite nahm mit dem wachsendem Wohlstand auch die Ungleichheit der Vermögensverhältnisse zu. Ein relativ großer Teil der Bevölkerung musste sich weiterhin ziemlich stark einschränken. Von diesem Umstand profitierten die ersten Aldi-Filialen mit ihrem vergleichsweise günstigen Warenangebot. Die hinter den Preisvorteilen stehenden Personaleinsparungen blieben natürlich nicht unbemerkt, da sich die Kunden nun plötzlich selbst die Waren zusammensuchen mussten, aber ein Bewusstsein für die längerfristigen Folgen der damit in Gang gesetzten Entwicklung war dennoch kaum vorhanden.
Zeit der Rebellion
Die eben geschilderte Zeit des Aufbruchs war aber auch eine Zeit der Verdrängung, und zwar nicht nur im Hinblick auf die vorangegangene Nazizeit. Es gab vieles, was man nicht sehen oder wahrhaben wollte, wie die oft mit Leid verbundene wirtschaftliche Abhängigkeit der meisten Frauen oder die eigene sexuelle Verklemmtheit. Entsprechend geschockt reagierte ein Großteil der erwachsenen Bevölkerung auf die bei vielen Jugendlichen plötzlich erwachte Bereitschaft, anders leben und tradierte Strukturen infrage stellen zu wollen.
Die ersten hierzulande registrierten Wellen gingen von London („swinging London“), San Francisco und Paris aus. Dabei stand London vor allem für neue Musik (Beatles, Rolling Stones) und Mode (Miniröcke, Plateauschuhe), während San Francisco zu einem Synonym für „flower power“ (Hippies) wurde. Die politische Revolte fand zunächst in Paris statt, wo sich ein Bündnis aus Studenten, Intellektuellen und Arbeitern lautstark für eine Beendigung des brutal geführten Vietnamkriegs (Stichwort: Napalm) einsetzte.
Diesem Ziel fühlten sich auch die zahlreichen Protestsänger und -sängerinnen verpflichtet, die im Rahmen des im August 1969 veranstalteten, legendären Woodstock-Festivals auftraten. Allerdings war das Festival auch geprägt von exzessivem Drogenkonsum und freier Liebe, wobei das Ausleben der sexuellen Freizügigkeit nicht zuletzt wegen der zwischenzeitlich auf den Markt gekommenen Antibabypille möglich war, mit der sich die Frauen selbst vor unerwünschten Schwangerschaften schützen konnten.
Im Vergleich zu Woodstock ging es in der BRD sehr viel „gesitteter“ zu, obwohl es auch hier zur Gründung spezieller Wohngemeinschaften (Kommunen) kam, die sich auch öffentlich zur freien Liebe bekannten. Andere junge Menschen zogen die Suche nach persönlicher Erleuchtung vor, was einen regelrechten Treck nach Indien auslöste.
Zum politisch motivierten Teil der damaligen Jugend gehörten nicht zuletzt die Lehrlinge, die (wie die Studenten) deutlich mehr Mitbestimmungsrechte forderten. Die Lehrlingsbewegung wurde medial aber nicht so stark wahrgenommen wie die Studentenbewegung mit ihren riesigen Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg, die Springerpresse und den Besuch des Schahs in Berlin.
Für den Studenten Benno Ohnesorg endete die Demo gegen den Schah-Besuch tödlich, obwohl er sich eigentlich gar nicht so richtig daran beteiligt hatte. Das später auf Rudi Dutschke verübte Attentat ging zwar glimpflicher aus, war aber eine direkte Folge der von den Medien losgetretenen Hetzkampagne. Damit hatten sich die Medien zum Sprachrohr vor allem des älteren Teils der Bevölkerung gemacht, in deren Augen die aufbegehrenden Jugendlichen nichts weiter als „Ratten“ (Originalton F. J. Strauß) waren. Mit anderen Worten erlebte Nachkriegsdeutschland erstmalig eine tiefe gesellschaftliche Spaltung, aber noch handelte es sich „nur“ um einen Generationenkonflikt.
Die von den Jugendlichen empfundenen Zwänge rührten auch daher, dass man damals erst mit 21 Jahren volljährig war. Umso verbissener wurde unter dem Schlagwort „Freizeit ohne Kontrollen“ um die Errichtung von Jugendzentren gekämpft. Am bekanntesten waren die (auch musikalisch unterstützten) Auseinandersetzungen um das Georg-Rauch-Haus in Berlin-Kreuzberg.
Währenddessen wurden in den Unis etliche Seminare und Vorlesungen nach den inhaltlichen Vorstellungen der Studenten zu Diskussionsveranstaltungen „umfunktioniert“ und neue (Selbst-)Verwaltungsorgane eingeführt. Aber auch außerhalb der Unis formierten sich zahlreiche politische Gruppierungen wie die Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ), und in beinahe allen Teilen der Republik kam es zur Bildung sogenannter K-Gruppen.
In dieser Zeit wurde nicht nur viel diskutiert, sondern auch viel gelesen, was eine Flut an neuen verlegerischen Produkten (Zeitungen wie taz, Zeitschriften wie konkret oder Buchreihen wie Werkkreis Literatur der Arbeitswelt) mit sich brachte. Sehr beliebt waren allerdings auch Raubdrucke, die angesichts der damaligen antikapitalistischen Grundstimmung mehr oder weniger als legitim angesehen wurden.
Zu den Neugründungen, die sich als dauerhaft erwiesen haben, gehörte die speziell für weibliche Leserinnen konzipierte Zeitschrift Emma, mit der die wieder erwachte Frauenbewegung, die sich bezeichnenderweise nicht aus, sondern in Konfrontation zur männlich dominierten Studentenbewegung entwickelt hatte, begleitet wurde. Da sich aber auch andere Männer (oft in Übereinstimmung mit ihren Frauen oder Freundinnen) überhaupt nicht mit dem Hauptanliegen der Zeitschrift (weibliche Emanzipation) identifizieren konnten, wurde die Bezeichnung „Emanzen“ schnell zu einem Schimpfwort.
Kontroversen anderer Art entzündeten sich im Hinblick auf die auch im pädagogischen Bereich neu ausprobierten Wege. Kinderläden, in denen Erziehungsstile wie Laisser-faire oder antiautoritäre Erziehung praktiziert wurden, waren (und sind) den Konservativen ein Dorn im Auge, wobei bis heute die genannten Erziehungsstile ständig miteinander verwechselt beziehungsweise gleichgesetzt werden.
Zeit der Widersprüche
Aber auch ganz allgemein herrschte in weiten Teilen der Bevölkerung viel Unverständnis vor. Schließlich hatte man es (einschließlich vieler Arbeiter) inzwischen zu einigem Wohlstand gebracht, der von den „68ern“ mit Schlagworten wie „Konsumterror“ plötzlich infrage gestellt wurde. Materieller Besitz und gutes Essen (Stichwort: „Fresswelle“) wurden als ausreichende Grundlagen für ein gutes Leben betrachtet, weshalb alle darüber hinausgehenden „intellektuellen“ Erwartungen von vornherein als suspekt galten. Eine Steigerung dieser Abwehrhaltung erfolgte immer dann, wenn eine Befragung zur eigenen Rolle in der Nazizeit stattfand.
Dennoch gelang es 1969 dem Sozialdemokraten Willy Brandt, dessen (auch internationales) Ansehen schon während seiner Zeit als Regierender Bürgermeister von Berlin gefestigt worden war, die Wahlen zu gewinnen und damit die jahrzehntelange Vorherrschaft der auf „Keine Experimente!“ abonnierten CDU zu brechen.
Ungeachtet seiner Beliebtheit begann mit Willy Brandt eine Zeit der äußerst widersprüchlichen politischen Signale. Einerseits stand Brandt für „Mehr Demokratie wagen!“, für eine neue Ostpolitik („Wandel durch Annäherung“) und – was ganz besonders hervorzuheben ist – für die Eröffnung neuer Bildungschancen für die bislang bildungsbenachteiligten Kinder (Stichwort: zweiter Bildungsweg).
Andererseits kam es in seiner Ära zur Einführung der Berufsverbote, das heißt zur Verabschiedung des Radikalenerlasses, der vermeintliche Verfassungsfeinde vom öffentlichen Dienst fernhalten sollte. Die danach einsetzende Gesinnungsschnüffelei beruhte auf Daten, die von dem als Verfassungsschutz bezeichneten und von ehemaligen Faschisten aufgebauten Inlandsgeheimdienst gesammelt worden waren. Schon damals gerieten sehr viele Menschen ins Visier der „Verfassungsschützer“: Studenten, angehende Lehrer, Post- und Bankangestellte, Gewerkschafter, Angehörige der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes sowie Menschen, die sich in der Friedensbewegung engagiert hatten. Für die Betroffenen bedeutete die Verhängung des Berufsverbotes, dass ihnen für lange Zeit der gesellschaftliche und finanzielle Boden unter den Füßen weggezogen worden war.
Selbst die bildungspolitischen Errungenschaften jener Zeit waren von Restriktionen begleitet. So mussten seit Beginn der 1970er-Jahre die Unterrichtsinhalte im Sinne „operationalisierter Lernziele“ aufbereitet werden. Damit lief der Unterricht auf das Erreichen eines mess- und abfragbaren Wissens hinaus und unterschied sich somit sehr von den erst wenige Jahre zuvor erdachten und erprobten kindzentrierten Ansätzen.
Die radikale Hinwendung zu einem auf Messbarkeit beruhenden Leistungsverständnis blieb in der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, da es für die meisten Eltern noch immer nicht üblich war, sich in schulische Belange einzumischen, und es außerdem bald ganz andere (vor allem mit der Neueinführung des Sexualkundeunterrichts zusammenhängende) Aufreger gab. Selbst die seinerzeit erstmalig ausgestrahlte „Sendung mit der Maus“ wurde wegen der darin versuchten Förderung der kindlichen Neugier vielfach ebenso argwöhnisch wie die „Sesamstraße“ beäugt. Schließlich herrschte (nicht nur in den männlichen) Köpfen noch immer die Vorstellung vor, dass ein Kind in erster Linie zu gehorchen hat.
Ähnlich antiquiert war die Ansicht, dass das Arbeitsfeld verheirateter Frauen in der Führung des Haushalts bestand. Erst 1977 war es auch in der BRD so weit, dass Ehefrauen ohne Erlaubnis ihrer Männer einen Beruf ergreifen und eigenverantwortlich auch größere Anschaffungen (Beispiel: Kühlschrank) tätigen konnten.
Fast genauso lange hat es mit der Liberalisierung (nicht Abschaffung!) des §218 gedauert, und dann mussten noch einmal ungefähr 20 Jahre vergehen, bevor es in den 1990er-Jahren zur (strafbewehrten) Gleichstellung ehelicher mit außerehelicher Vergewaltigung kam. Im Vergleich dazu waren den in der DDR lebenden Frauen viele Rechte weitaus früher zugestanden worden. Sogar der im Grundgesetz stehende Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ geht in Wirklichkeit auf eine Formulierung im Entwurf für die DDR-Verfassung zurück. [1]
1974 begann die Ära Schmidt, in der – aus Sicht der Bevölkerung – so nach und nach ganz andere Probleme in den Vordergrund rückten. Im kollektiven Gedächtnis geblieben ist der sogenannte „heiße Herbst“ des Jahres 1977, in dem die inzwischen zweite Generation der Rote Armee Fraktion (RAF) mit ihren zur Gefangenenbefreiung unternommenen Entführungs- und Erpressungsversuchen endgültig scheiterte und es stattdessen zum gefeierten Einsatz der Eingreiftruppe GSG9 kam (Stichwort: Mogadischu), die als Reaktion auf das an israelischen Sportlern verübte Massaker während der Olympischen Spiele 1972 in München gegründet worden war.
Aber auch von der APO (Außerparlamentarische Opposition), die den von Rudi Dutschke empfohlenen Weg gehen und einen „Marsch durch die Institutionen“ antreten wollte, war schon relativ bald nicht mehr viel zu hören, da sich die meisten „Marschierer“ schnell angepasst hatten. Entweder erlagen sie den Verlockungen des Geldes oder unterwarfen sich den in den Ämtern vorherrschenden Zwängen.
Im alltäglichen Leben standen die Zeichen zunächst weiter auf Wachstum. Der Autoverkehr hatte rasant zugenommen, und immer mehr Menschen besaßen jetzt (Farb-)Fernseher und eigene Telefone. „Auf der grünen Wiese“ entstanden große Einkaufszentren, wobei die Kehrseite dieser Entwicklung (Verödung der Innenstädte und Zerstörung dörflicher Strukturen) eher hin- als wahrgenommen wurde.
Ein Teil der Bevölkerung begann allerdings zu erkennen, dass wir (nicht zuletzt auf Kosten der Umwelt) über unsere Verhältnisse lebten, wozu ganz wesentlich der erste große Bericht des „Club of Rome“ beigetragen hatte. Das begünstigte den kontinuierlichen Aufstieg der Grünen, die zudem eng mit der Anti-Atomkraft- und Friedensbewegung verbunden waren. Die erste Regierungsbeteiligung der Grünen erfolgte 1983 in Hessen, obwohl der damalige sozialdemokratische Landesregierungschef Börner zunächst nicht viel mit den „Alternativen“ anfangen konnte (Stichwort: Dachlatten).
Im selben Jahr beschloss der Deutsche Bundestag die Aufstellung von Mittelstreckenraketen, nachdem Schmidt bereits 1979 (ungeachtet einer riesigen Gegendemonstration) den sogenannten NATO-Doppelbeschluss durchgesetzt hatte. Dieser beinhaltete die Stationierung nuklearer Mittelstreckenraketen in Europa in Verbindung mit Abrüstungsverhandlungen zwischen den Supermächten.
Ebenfalls 1983 wurde im Bundesgesetzblatt ein neues „Volkszählungsgesetz“ veröffentlicht. Dieses Vorhaben stieß in der Bevölkerung auf so heftigen Widerstand, dass die vierte bundesdeutsche Volkszählung erst 1987 (in überarbeiteter Form) durchgeführt werden konnte. Auch wenn für die Befragung selbst nach wie vor Papierbögen vorgesehen waren, sollte die Auswertung bereits mit elektronischer Datenverarbeitung (EDV) erfolgen, wobei die damalige EDV noch auf einem Lochkartensystem beruhte.
Unter Hinweis auf frühere Datenskandale, in die das Bundeskriminalamt und das Bundesamt für Verfassungsschutz verwickelt waren, prangerten die Kritiker vor allem die Möglichkeiten der Entanonymisierung an, wobei insbesondere eine Verbindung mit Spezialauswertungen (zum Beispiel im Hinblick auf Wohnungsgrößen und Monatsmieten) befürchtet wurde.
Ungefähr zeitgleich fand der erste Großversuch mit Scanner-Kassen im Massa-Markt 3 in Rüsselsheim statt. Trotz der von Belegschaft und Betriebsrat vorgebrachten Einwände sowie anderslautender Zusicherungen wurden nicht nur einige, sondern alle Kassen dieses Marktes schnell durch Computermodelle ersetzt. Weil die Computerkassen nicht nur jede kleinste Abwesenheit einer Kassiererin festhielten, sondern auch registrierten, wie viele Kunden zu welcher Tageszeit in den Markt kamen, verschlechterten sich die Arbeitsbedingungen des Personals ebenfalls sehr schnell. Wegen der maschinell festgestellten morgendlichen „Flaute“ wurde der Beginn der fünfstündigen Schicht kurzerhand auf 10 Uhr verlegt, was sehr zu Lasten der Mütter mit kleinen und schulpflichtigen Kindern ging. Außerdem wurden vermehrt Niedriglohnkräfte eingestellt, deren Löhne unter der Grenze für Sozialabgaben und Rentenversicherung lagen. [2]
Zeit der Innovationen
Das soeben skizzierte Supermarktbeispiel fiel in eine Zeit großer technischer Umwälzungen, die sich mit zunehmender Intensität auch auf den Privatbereich auswirkten. Der heutigen Computertechnologie ging eine lange Entwicklung voraus, die bereits in den 1950er- und 1960er-Jahren begann und vermutlich durch die technische Überlegenheit der damaligen UdSSR, die 1957 den weltweit ersten Satelliten erfolgreich ins All befördert hatte (Stichwort: „Sputnik-Schock“) angefeuert worden ist.
Einige weitere Stationen: 1960 kam es zum erstmaligen Einsatz von Industrierobotern („Unimate“), 1970 wurde das Internet erfunden, 1972 landeten US-Astronauten auf dem Mond, 1973 stellten japanische Wissenschaftler ihren hör-, seh-, tast-, lauf- und kommunikationsfähigen Roboter „Wabot 1“ vor, 1976 folgte die Gründung der Firma Microsoft und 1981 präsentierte IBM seinen mit dem von Microsoft entwickelten Betriebssystem MS-DOS laufenden Personal Computer (PC).
Bis zur ersten Verfügbarkeit des Internets in Deutschland dauerte es allerdings noch bis 1984, aber danach kam die PC-Welle auch hierzulande ins Rollen. Erste auf dem PC erstellte Seminar-, Diplom- und Doktorarbeiten wurden abgegeben, wobei zuvor die für das damalige Druckerpapier typischen seitlich gelochten Randstreifen entfernt werden mussten. Aus diesen Anfängen entwickelten sich schnell andere Anwendungsideen (wie die Verwendung vorgefertigter Satzbausteine für behördliche Antwortschreiben).
Die anfängliche Euphorie wurde beflügelt von der weit verbreiteten Ansicht, dass ein frei zugängliches Internet einen gewaltigen Demokratisierungsschub mit sich bringen würde. Ausgerechnet der zu den „Vätern“ der Computertechnologie gehörende Joseph Weizenbaum erhob demgegenüber schon früh seine warnende Stimme, indem er auf die durch militärische Nutzung wachsenden Kriegsgefahren hinwies und feststellte: „In dem Augenblick, wo Computer mit anderen Computern verbunden werden, wo sie sich in fremde Systeme einschalten, ‘beherrscht’ man sie nicht mehr.“ [3] Die erhoffte Förderung des demokratischen Gedankens blieb aber auch deshalb aus, weil schon 1991 die National Science Foundation (NSF) das NSF-net privatisierte, was den Investoren Milliardengewinne bescherte.
Dessen ungeachtet entwickelte sich die Computertechnologie immer weiter, wovon die Gen- und Biotechniken in ganz besonderem Maße profitierten. Sozusagen Schlag auf Schlag konnten diese Wissenschaften Ergebnisse vorweisen, die es in der gesamten Menschheitsgeschichte noch nie gegeben hatte: Genmanipulation von Pflanzen (zwecks Ertragssteigerung oder Herbizid-Resistenz), Klonen auch größerer Säugetiere (Schaf „Dolly“), Kinderwunscherfüllung durch künstliche Befruchtung außerhalb des Mutterleibs (In-vitro-Fertilisation), Leihmutterschaft und schließlich sogar die komplette Entschlüsselung des menschlichen Genoms.
Über diese für die meisten Menschen bislang völlig unvorstellbaren Entwicklungen wurde seinerzeit ausgiebig diskutiert, aber gleichzeitig erfolgte eine Überschwemmung der Konsumenten mit Videokameras, neuen Empfangsmöglichkeiten für Fernsehgeräte (Kabelanschlüsse) sowie den handlich und erschwinglich gewordenen PCs, deren Faszination vermutlich auch von den neuartigen virtuellen Spielmöglichkeiten ausging.
Speziell für die Kinder wurde ein „schlüsselbundgeeigneter“ Mini-Computer mit Namen Tamagotchi entwickelt, bei dem es darum ging, ein aus einem Ei geschlüpftes virtuelles Haustier durch Bedienung der entsprechenden Tasten zu „pflegen“. Bei fortgesetzter Nichtbeachtung der akustischen Erinnerungen an die zu leistenden Dienste starb das virtuelle Haustier schon vor der ihm zugemessenen Zeit an „Vernachlässigung“.
Von hier aus war es nicht mehr weit bis zum „internetfähigen Spielzeug“, das den Kindern in Form von Puppen oder Plüschtieren angeboten wurde. Mit diesen Spielwaren konnten die Kinder sprechen oder sogar Kontakt zu entfernt lebenden Verwandten aufnehmen. Dabei war den Kindern sehr wahrscheinlich nicht bewusst, dass die Eltern die oft heimlich geführten Gespräche mithören konnten.
Aber auch den Erwachsenen mangelte es an einem Bewusstsein dafür, dass es bei allen internettauglichen Geräten immer um das Sammeln und Speichern von Daten geht (einschließlich der sprachlichen Kommunikation). Ähnlich unbekümmert erfolgte der Austausch bildlicher Informationen, der nach dem massenhaften Aufkommen der Digitalkameras rasant zunahm.
Mit Abstand am begehrtesten waren die Handys, die – mit Ausnahme der berühmt-berüchtigten „Funklöcher“ – eine ständige Kommunikation auch außerhalb der eigenen vier Wände ermöglichten. Den Handys folgten die Smartphones, die wie die Laptops und Tablets von Anfang an vollwertige Computer waren. Die parallel dazu wie Pilze aus dem Boden schießenden Apps und Plattformen führten zu einer enormen Steigerung des Missbrauchspotenzials. In den sogenannten sozialen Medien kam es schnell zu Phänomenen wie „hate speech“ oder – gesteuert durch eine darauf angelegte algorithmische Auswahl – zur Bildung diskussionsverhindernder „Filterblasen“.
Als besonders grausam erwies sich das schulische „cyber mobbing“, das auf heimlich aufgenommenen und blitzschnell im Netz verbreiteten Fotos von Mitschülern oder Lehrern beruhte. Selbst die im Privatbereich (zum Beispiel anlässlich einer Geburtstagsfeier) aufgezeichneten Bild- und Tonaufnahmen waren fortan nicht länger vor fremden Zugriffen geschützt. Am härtesten traf (und trifft) es diejenigen (Kleinst-)Kinder, die vor laufender Kamera sexuell missbraucht wurden (und werden).
Zeit des Zerbröselns
Die Zeit der beschleunigten Zerbröselung von Infrastrukturen und öffentlichen Dienstleistungen begann zunächst sehr hoffnungsfroh. Gegen Ende der 1980er-Jahre fiel dem 1982 per Misstrauensvotum an die Macht gekommenen Kanzler Kohl die Wiedervereinigung sozusagen in den Schoß. Anfänglich sah es ganz danach aus, als ob die von ihm versprochenen „blühenden Landschaften“ Realität werden könnten. Tatsächlich kam es zu aufwändigen Renovierungen zahlreicher ostdeutscher Innenstädte, was aber die inzwischen eingetretene Schäbigkeit vieler westdeutscher Städte (vor allem im Ruhrgebiet) nur umso deutlicher hervortreten ließ.
Aber auch im Osten hielt die Freude nicht allzu lange an, da schnell klar wurde, dass die Treuhand (insbesondere nach der Ermordung Rohwedders) in den allermeisten Fällen nicht an einer Erhaltung der ostdeutschen Industriebetriebe und landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften interessiert war. Stattdessen wurden nun auch im Osten Deutschlands privaten Investoren und/oder früheren Eigentümern Tür und Tor geöffnet.
Die immer größer werdende Finanznot der Länder und Kommunen hatte zur Folge, dass private Investoren in zunehmendem Maße auch in Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge (und zwar sowohl im Osten als auch im Westen) einsteigen konnten (Post, Bahn, Gesundheit, Wohnen, Wasser, Straßen, Brücken, ÖPNV und später auch Schulen). Damit die dadurch aus der Hand gegebene Gestaltungsmacht nicht so stark auffiel, wurde die Gründung öffentlich-privater Partnerschaften zum bevorzugten Übereignungsmodell.
Darüber hinaus drückte Kohl die Etablierung privater Fernsehsender durch, was sowohl unbegrenzte Konsummöglichkeiten als auch den gewünschten Ablenkungseffekt mit sich brachte. Diese Strategie war so erfolgreich, dass die noch gar nicht so lange zurückliegende Zeit großer gesellschaftlicher Debatten (zur Atomenergie, zum Datenschutz oder zu den Gen-, Bio- und Reproduktionstechniken) erst einmal vorbei war.
Auch die Printmedien gerieten zunehmend unter Druck, weil immer mehr Menschen damit anfingen, sich über das Internet zu informieren, wodurch es für die Zeitungen und Zeitschriften zu einem kontinuierlichen Einbruch der Werbeeinnahmen kam. Um diesen Verlust zu kompensieren, wurde die Zahl der fest angestellten Journalisten drastisch reduziert, während sich gleichzeitig die Bereitschaft zur Annahme von Spenden erhöhte.
Eine vergleichbare Entwicklung vollzog sich auch im Wissenschaftsbetrieb, sodass schon damals die Unabhängigkeit von Forschung und Lehre ernsthaft bedroht war, was sich auch an der zunehmenden Jagd nach Drittmitteln ablesen ließ. Vor diesem Hintergrund war (und ist) man gut beraten, die Interessen der jeweiligen Auftraggeber bei der Beurteilung von Studienergebnissen zu berücksichtigen.
Bestechlichkeit und Korruption auch auf politischer Ebene gab es sicherlich nicht erst seit der Kohl-Ära, sie traten in dieser Zeit aber erstmalig besonders krass in Erscheinung (Stichworte: Bimbes- und Ehrenwortkanzler). Auf der anderen Seite wurden der Bevölkerung immer mehr Einschränkungen im Sinne eines Sozialabbaus in den Bereichen Sozialhilfe, Arbeitslosen-, Renten- und Krankenversicherung zugemutet. [4]
Die nachfolgende rot-grüne Regierung (Schröder und Fischer) setzte diese Kahlschlagpolitik nicht nur fort, sondern erhöhte auch noch den Druck durch Einführung von Hartz IV und der damit einhergehenden Ausweitung des Niedriglohnsektors. Außerdem wurde in dieser Zeit das staatliche Rentensystem weiter geschwächt, indem zum Ausgleich des inzwischen stark gesunkenen Rentenniveaus die überwiegend selbst zu finanzierenden Riester- und Rürup-Renten eingeführt wurden. Darüber hinaus erfolgten in dieser Zeit die Beteiligung am völkerrechtswidrigen Jugoslawienkrieg sowie die Ermöglichung weiterer Auslandseinsätze der Bundeswehr.
Von den arbeitslos gewordenen Menschen wurde nicht zuletzt eine Bereitschaft zur Arbeitsaufnahme in weit entfernt liegenden Orten erwartet, was das Pendleraufkommen in die Höhe schnellen ließ und deshalb häufig eine Zerstörung des früher üblichen Familienlebens nach sich zog. Orientierungslosigkeit machte sich aber auch in vielen anderen Bereichen breit, sodass das Bedürfnis nach gedruckten oder virtuellen Ratgebern schon damals stark zunahm.
Angeheizt von der Computerindustrie, die in dieser Zeit erstmalig tragbare Fitnessarmbänder auf den Markt gebracht hatte, wurde plötzlich auch die eigene Gesundheit zu einem Riesenthema. In Verbindung mit leicht verständlichen Zielvorgaben ermöglichten die Armbänder eine beständige Messung diverser Körperfunktionen, wodurch sich die Vorstellung, ungeachtet der individuellen Lebensbedingungen vor allem selbst für die eigene Gesundheit verantwortlich zu sein, in den Köpfen vieler Menschen festsetzte. Auf diese Weise erhöhte sich auch die Akzeptanz für die schon früher von den Krankenkassen entwickelten Modelle (Beitragsstaffelung auf der Grundlage von Risikoprofilen).
Zum Leidwesen vieler älterer Mitbürger ging es so nach und nach auch bei großen Unternehmen und Behörden immer „effizienter“ zu. Einhergehend mit dem allmählichen Abbau der öffentlichen Münz- und Kartentelefone reduzierten sich die telefonischen Kontaktmöglichkeiten vielfach auf eine zentrale Nummer, die das Gespräch mit einem echten Menschen erst nach einer einzutippenden Vorauswahl und/oder einer langen Wartezeit freigaben. Früher selbstverständliche Dienstleistungen (zum Beispiel Beratung in den Finanzämtern) wurden als nicht mehr zugehörige Aufgaben deklariert, und es begann eine Zeit, in der Papierausdrucke von Formularen nur noch auf ausdrückliche Nachfrage herausgegeben wurden.
Zeit der Angst
Die Zeit der großen Ängste setzte zu Beginn des neuen Jahrhunderts/Jahrtausends gleich mit einem Doppelschlag ein: Zerstörung des World Trade Centers in New York City und Durchführung des ersten PISA-Tests. Auf die Anschläge des 11. September 2001 reagierten die westlichen Länder mit einer ungeheuren Aufstockung militärischer Anschaffungen und technischer Sicherheitsmaßnahmen.
Wie die späteren Anschläge (zum Beispiel in Paris oder Berlin) gezeigt haben, erwiesen sich die innenpolitisch ergriffenen Maßnahmen als weitgehend untauglich, was aber nicht zu deren Rücknahme führte. Stattdessen wurden immer mehr Überwachungskameras installiert und erste groß angelegte Tests zur Optimierung der Gesichtserkennungssoftware durchgeführt. Darüber hinaus scheute man sich nicht vor einer Legalisierung der zuvor unerlaubten Eingriffe in die Privatsphäre.
Zu den in den USA eingeführten geheimdienstlichen Sonderrechten einige Zitate aus einem 2013 mit Thomas Drake geführten Interview, in dem es um die (vor seiner Zeit als Whistleblower) beim US-Geheimdienst NSA gesammelten Erfahrungen geht: „Die Überwachung begann mit Telefondaten, dann E-Mails, dann das Internet, dann Kreditkarteninformationen. … Die NSA war besessen davon, alles wissen zu wollen. … Microsoft wirbt damit, dass das Privatleben seiner Kunden Priorität hat. Und dann hilft Microsoft der Regierung, die Privatsphäre der Kunden zu entschlüsseln.“ [5]
Mit anderen Worten hatte Microsoft keine Probleme damit, zur umfänglichen (also über das Konsumverhalten hinausgehenden) Ausspähung der eigenen (US-amerikanischen) Bevölkerung durch Weitergabe der dem Konzern im Vertrauen übermittelten Daten beizutragen. Da diese spezielle Zugriffsmöglichkeit hierzulande nicht gegeben war, hat sich Deutschland dafür entschieden, die eigene Bevölkerung mit Hilfe unbemerkt einzuschleusender Staatstrojaner auszuspionieren, was immerhin auch den grenzüberschreitenden geheimdienstlichen Austausch privater Daten erleichterte.
Auf den ersten Blick deutlich harmloser wirkte sich in Deutschland der sogenannte „PISA-Schock“ aus. Nach Durchführung eines von der OECD (also von einer Wirtschaftsorganisation!) entwickelten Tests stellte sich heraus, dass die deutschen Schüler im Vergleich zu anderen Ländern nur mit mittelmäßigen Leistungen aufwarten konnten.
Dieses Ergebnis versetzte Eltern und Bildungspolitiker gleichermaßen derart in Panik, dass Fragen nach der Qualität der Testkonstruktion, dem dahinter stehenden Bildungsziel oder den Besonderheiten des deutschen Schulsystems gar nicht erst aufkamen. Stattdessen verengte sich die Diskussion schnell auf die Begriffe „Effizienz“ und „Digitalisierung“. Ab sofort hatten Schulen „outputorientiert“ zu sein, was einer starren Fixierung auf die Erfordernisse des späteren (digital gedachten) Arbeitsmarktes gleichkam und ein stärkeres Eingehen auf individuelle Interessen und Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen nur noch sehr begrenzt zuließ. Dass diese Fixierung einem neoliberalen Bildungsverständnis entsprach, spielte für viele Eltern kaum eine Rolle, da für sie die Sicherung der beruflichen Chancen ihres Nachwuchses im Vordergrund stand.
Die nächste große Schockwelle stellte sich 2008 als Folge des von den USA (Stichwort: Lehman Brothers) ausgehenden Zusammenbruchs der Finanzmärkte ein. Viele kleinere Anleger mussten erstmals erkennen, dass sie in gutem Glauben „faule“ Aktienpakete erworben hatten und dass es sich bei den mit Bankmitarbeitern geführten Beratungsgesprächen immer um Verkaufsgespräche gehandelt hatte. Die damalige Bundeskanzlerin Merkel („großkoalitionäre“ Nachfolgerin von Schröder) sah ihre Hauptaufgabe in der Beruhigung der Bevölkerung, indem sie (sachlich unrichtig) beteuerte, dass die Spareinlagen nicht gefährdet seien und in naher Zukunft eine sehr viel strengere Regulierung der Finanzwirtschaft erfolgen werde.
Diese (später nur sehr minimal eingehaltene) Zusage erzielte die gewünschte Wirkung, weshalb die von der damals gegründeten Occupy-Bewegung ausgehenden Proteste relativ schnell an Bedeutung verloren.
Ähnlich erging es der Anti-TTIP-Bewegung (TTIP: Transatlantic Trade and Investment Partnership), obwohl es ihr (nach Jahren anderweitigen Widerstands gegen dieses Freihandelsabkommen mit den USA) 2015 noch gelungen war, in Berlin eine wahrhaft riesige Demonstration gegen dieses Vorhaben zu organisieren. In diesem Fall gaben zwei Gründe den Ausschlag für das Erlahmen der Bewegung: einerseits eine der Bedeutung des Ereignisses völlig unangemessene Kurzberichterstattung im Fernsehen und andererseits die bald darauf einsetzende „Flüchtlingskrise“, die – nach einer schnell verebbten Phase des Wohlwollens – in vielen europäischen Ländern massive und sehr inhumane Abschottungsmaßnahmen auslöste.
Die nächste ganz große Verunsicherung setzte mit der Anfang 2020 von der WHO ausgerufenen Corona-Pandemie ein. Als Folge sehr einseitiger Berichterstattung wurde die Bevölkerung dermaßen in Angst und Schrecken versetzt, dass mehrheitlich auch die härtesten Maßnahmen (wie Lockdowns, Quarantäne oder Hybrid-Unterricht) widerspruchslos befolgt und viele Fragen (wie die nach den Risiken unerprobter mRNA-Injektionen) gar nicht erst gestellt wurden. Sogar die aus der permanenten Verunglimpfung der Maßnahmenkritiker resultierende Entzweiung von Freunden und Familien wurde in Kauf genommen, woraus sich eine (wegen der bislang fehlenden Aufarbeitung auch noch nicht überwundene) ganz neuartige, nunmehr durch alle Altersstufen vertikal verlaufende Spaltung der Gesellschaft ergab.
Parallel dazu existierte die seit Jahrzehnten beständig größer gewordene Kluft zwischen Arm und Reich nicht nur weiter, sondern vertiefte sich auch noch, weil die staatlichen Unterstützungsmaßnahmen insbesondere denen zugutekamen, die gar nicht so extrem bedürftig waren (Beispiel: Lufthansa) – ganz zu schweigen von den ohnehin superreichen „Corona-Gewinnlern“, die nie zur Mitfinanzierung der Ausgleichszahlungen herangezogen wurden.
Während zwischen den bislang geschilderten Angst- und Schockzuständen immer ein paar „Erholungsjahre“ lagen, fiel der Anfang 2022 begonnene Ukraine-Krieg in eine noch längst nicht abgeschlossene „Corona-Zeit“. Unter Missachtung der von vielen Menschen empfundenen Angst vor einer Ausweitung dieses Krieges zu einem (vielleicht sogar atomar geführten) Dritten Weltkrieg fand auch in diesem Fall sofort eine mediale Gleichschaltung statt, nach der nicht Verhandlungsbemühungen, sondern Sanktionen und Waffenlieferungen als wichtigster und moralisch gebotener Akt der Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung zu gelten hatten.
Im Schatten und/oder als Folge der immer permanenter und tiefgreifender werdenden Angst wurden (in Form diverser Infektionsschutzgesetze) Grundrechte eingeschränkt, was noch schneller in Vergessenheit geriet als die kriminellen Machenschaften, in die auch Politiker verwickelt waren (Stichworte: Wirecard, Cum-Ex oder Maskendeals).
Zeit der Daten-Allmacht
Mit der „digitalen Hinterlassenschaft“ der coronageprägten Jahre (Stichwort: „Digitalisierungsschub“) sind wir in der Jetztzeit angekommen, in der – um mit dem Bildungsbereich zu beginnen – Unterrichtsinhalte immer häufiger digital vermittelt werden. Vor allem dann, wenn jedem Schüler ein eigenes Endgerät zur Verfügung steht, können die Lehrer von dieser Entwicklung noch profitieren (stillere Klassen, mehr Zeit für einzelne Schüler und abnehmender Korrekturbedarf), aber eine anwachsende Zunahme der Unterrichtsversorgung durch Avatare bedeutet eben auch, dass die Anwesenheit echter Menschen immer seltener erforderlich sein wird.
Wirklich neu ist dieser Trend allerdings nicht. So berichtete die Berliner Morgenpost bereits im Juli 1996: „Der erste virtuelle, interaktive ‘Lehrer’ – genannt Hermann – würde, so schwärmen seine Schöpfer von der North Carolina University in Raleigh, den Schulunterricht revolutionieren. Jedes einzelne Kind der örtlichen Schule erhält seit etwa einem halben Jahr probeweise einen persönlichen ‘Pädagogen’ und mit ihm eine individuelle Ausbildung, abgestimmt auf die eigenen Stärken und Schwächen. Eine vollkommen neuartige Software, die sich der sogenannten Künstlichen Intelligenz (KI) bedient, bildet Hermanns ‘Gehirn’. Das Programm lernt aus den Antworten der Kinder und verfeinert sich ständig.“ [6]
Die Möglichkeit des Eingehens auf individuelle Lernniveaus bedeutet aber noch keinen Verzicht auf fremdbestimmte Lernstoffe. Im Unterschied hierzu geht das „Deeper Learning“ genannte Konzept projektorientiert vor, sodass sich die Schüler zumindest an der Ausgestaltung eines inhaltlich vorgegebenen Rahmens eigenverantwortlich beteiligen können. Zum festen Bestandteil dieses Ansatzes gehört die Vorstellung einer digitalisierten Schule, in der die Wissensvermittlung nicht mehr über Schulbücher oder Lehrer, sondern über den Zugriff auf das globale Internet mit allen zur Verfügung stehenden Wissensressourcen stattfinden soll. Auch in Deutschland gibt es bereits zwei Netzwerke zum „Deeper Learning“, die (Stand September 2022) insgesamt 26 Schulen umfassen und sowohl von der Robert Bosch Stiftung (Schulen in Baden-Württemberg) als auch von der Telekom Stiftung (Schulen bundesweit) unterstützt werden. [7]
Tatsächlich gehört zu den unbestreitbaren Vorteilen des Internets die Möglichkeit, sich schnell und in einem bislang unbekannten Ausmaß über alle nur denkbaren Sachverhalte informieren zu können. Die sich daraus ergebende Arbeitserleichterung haben sich sowohl Schüler als auch Studenten früh zunutze gemacht, indem sie bei der Erledigung ihrer schriftlichen Aufgaben immer häufiger auf (nicht in jedem Fall auch verstandene) Textpassagen aus dem Internet zurückgriffen.
Inzwischen haben wir es allerdings mit einem noch viel bedenklicheren Phänomen zu tun: Mit Chat GPT steht seit Kurzem ein KI-basiertes Werkzeug zur Verfügung, das mit großer Wahrscheinlichkeit die Welt des Lehrens und Lernens auf den Kopf stellen wird. Hierbei handelt es sich um ein Texterstellungsprogramm, das völlig selbstständig ganz unterschiedliche (bis zur Lyrik reichende) Texte in der jeweils gewünschten Thematik und Länge produzieren kann.
Mit anderen Worten werden wir es vermutlich bald massenhaft mit Texten zu tun haben, deren Urheberschaft überhaupt nicht mehr eindeutig geklärt werden kann, was auch für schriftstellerisch tätige Menschen zu einem (nicht zuletzt finanziellen) großen Problem werden dürfte. Im Bildungsbereich läuft diese Entwicklung paradoxerweise darauf hinaus, dass die inzwischen extrem hoch gehaltene Leistungsmessung über weite Strecken ausgehebelt wird und wir uns zukünftig bei keinem Text mehr sicher sein können, ob dieser von einem Menschen oder einer Maschine stammt.
Sehr viel älter ist die grundsätzliche Diskussion über den Einsatz von Computern im Unterricht. In einem (damals noch langen!) Spiegel-Artikel aus dem Jahr 1984 wurden Vor- und Nachteile einer Ausstattung der Schulen mit Computern ausführlich dargestellt. Dabei ging es beispielsweise um die Frage, ob im Zuge dieser Entwicklung Informatik als Unterrichtsfach auf die Oberstufe der Gymnasien beschränkt bleiben sollte. [8]
Demgegenüber wurde der altersmäßig sehr frühe Kontakt mit Computern nicht so sehr als Problem gesehen, was bis heute der Überzeugung vieler Eltern so sehr entspricht, dass sie sich deshalb kaum fragen, welche Folgen es für Kinder haben kann, wenn man sie während der Zeit ihrer Gehirnreifung mehr digitalen als analogen Reizen aussetzt. Dabei haben viele der im Silicon Valley arbeitenden Eltern diese Frage schon längst für sich beantwortet, indem sie ihre Kinder ganz bewusst auf eine Waldorfschule schicken und Dinge wie Tablets oder Smartphones unter Verschluss halten. [9]
Da sich ein früh „falsch verschaltetes“ Gehirn auf das ganze spätere Leben negativ auswirken kann, sollen hier auch noch einige neurologische Aspekte erwähnt werden. Dazu zwei Zitate, die aus einem mit der Neurobiologin und Hirnforscherin Gertraud Teuchert-Noodt geführten Interview stammen: „Das Smartphone in der Hand der Mutter nimmt das Kind unaufhaltsam mit in die digitale Abhängigkeit. Kleinkinder lernen durch Nachahmung. Natürlich wollen die kleinen Händchen auch surfen. Und weil das so einfach ist, unterstützen das die entzückten Eltern. Sie merken nicht, dass die Farben und Formen wie ein D-Zug durch das Köpfchen rasen und sie ihr Kind auf das Gleis der Lernbehinderung und Suchtentstehung stellen.“
Das zweite Zitat bezieht sich auf die Grundbedürfnisse eines Kindes: „Das Tablet im Kinderzimmer versetzt das Kind in eine digitale Zwangsjacke. Elementare Bedürfnisse wie krabbeln, laufen, klettern werden unterdrückt. Diese Bedürfnisse dienen dazu, die Sinne zu schärfen, die Muskeln zu stärken, den Geist und die Freude an körperlicher Bewegung zu wecken. Nur wenn die Nervenzellen der einzelnen Hirnfelder sehr viele Kontakte mit sehr vielen anderen Zellen ausbilden, kann ein intelligentes Kind heranreifen.“ [10]
Hinzu kommt, dass die heutigen Kinder und Jugendlichen ohnehin schon vollkommen mit digitalen Angeboten übersättigt sind, die ihnen aber auch aus anderen Gründen oft zu schaffen machen. Wer sich immer wieder bei Facebook, Instagram, YouTube, TikTok oder WhatsApp aufhält, erhält schnell den (zumeist fälschlichen) Eindruck, dass andere viel attraktiver sind (Stichwort: „body shaming“) und ein weitaus interessanteres Leben führen. Der unter diesen Umständen eigentlich gebotene Rückzug aus diesen Foren kommt aber trotzdem kaum in Frage, weil dann auch noch der virtuelle Kontakt zu den Gleichaltrigen verloren ginge. Das ist der Teufelskreis, in dem sich viele Kinder und Jugendliche heutzutage befinden: Um nicht völlig zu vereinsamen, sind sie auf ständige virtuelle Feedbacks angewiesen, die aber kaum noch Zeit für echte Kontakte im realen Leben lassen. Auch diese Entwicklung ist durch die „Corona-Zeit“ mit ihrem Mantra von der Kontaktvermeidung als Ausdruck eines verantwortungsvollen Sozialverhaltens sehr verstärkt worden.
Ein anderes großes Problem ist bereits 2008 von der Computerzeitschrift c’t am Beispiel des SchülerVZ (VZ für Verzeichnis) genannten Portals angesprochen worden: „Dass das Schüler-Netzwerk alles andere als ein sicherer Hort für Privates ist, auf den nur Schüler zugreifen, mussten Anfang Januar auch die Hinterbliebenen einer bei einem Skiunfall verunglückten Schülerin erfahren. Einen Artikel über den Unfall illustrierte die Bild-Zeitung mit einem Foto aus dem SchülerVZ.“ [11]
Missbrauch kann aber auch mit denjenigen Daten getrieben werden, die bei der unterrichtlichen Nutzung digitaler Geräte anfallen, indem beispielsweise die gespeicherten Lernverlaufsprotokolle noch Jahre später den Ausgang eines Bewerbungsgesprächs beeinflussen können. Damit sind wir in der digitalisierten Arbeitswelt angekommen, in der wir mancherorts schon froh sein können, wenn es echte Bewerbungsgespräche überhaupt noch gibt. Von Amazon ist bekannt, dass es dort schon seit Jahren üblich ist, alle Bewerbungs- und Entlassungsentscheidungen von Algorithmen treffen zu lassen. Das heißt, dass persönliche Faktoren (wie zum Beispiel plötzlich eingetretene Notlagen) überhaupt keine Rolle mehr spielen. Diese Art der Entscheidungsfindung muss inzwischen ein solches Ausmaß erreicht haben, dass sich manche Unternehmen veranlasst sehen, das Gegenteil zu beteuern. [12]
Die zum Corona-Maßnahmenkatalog gehörende Zunahme an sogenannten Homeoffice-Arbeitsplätzen ist teilweise sehr begrüßt worden: Reduzierung des Pendlerverkehrs in Verbindung mit plötzlich ganztägiger häuslicher Anwesenheit. Es hat sich aber bald gezeigt, dass diese Art der Familienzusammenführung nur dann einigermaßen gut funktioniert, wenn die Wohnung für eine klare Abgrenzung des Arbeitsbereiches groß genug ist. Außerdem bedeutet ein Arbeiten von zu Hause aus nicht automatisch, mehr Zeit für die Familie zu haben. Ganz im Gegenteil hat die „Homeoffice-Welle“ eine weitere Entgrenzung der Arbeitszeit mit sich gebracht.
Noch fragwürdiger sind die schon vor 20 Jahren in den Betrieben eingesetzten Programme, mit denen das Tun und Lassen der Mitarbeiter heimlich und ohne Hinterlassung von Spuren überprüft werden kann. Das nachfolgende Zitat soll die Dimension dieser Art von Überwachung verdeutlichen: „Programme mit unzweideutigen Namen wie „Spector“, „Spy“ oder „Boss Everywhere“ zeichnen sämtliche Details von Computerarbeit auf: Programmstarts, Tastatureingaben, E-Mails oder auch die Reiseroute über Datenautobahnen in aller Welt. … Besonders dreiste Varianten knipsen mit Webcams Fotos vom Mitarbeiter am Rechner und verschicken diese per E-Mail. So kann sich der Chef in aller Ruhe ein Bild davon machen, wer wann was an seinem Arbeitsplatz getrieben hat.“ [13]
Zusammen mit der Gesundheitswelle hat sich das Überwachungsspektrum noch einmal deutlich ausgeweitet. Mit dem Versprechen, das Wohlergehen von Mitarbeitern verbessern zu können, ist eine Smartphone-Software auf den Markt gekommen, die Telefonate mit privaten Handys (also auch außerhalb der Betriebe) auswertet. Dabei wird die Stimmenfrequenz auf mitschwingende Emotionen analysiert, um die Gemütslage der Mitarbeiter erfassen zu können.
Die App wertet aber auch den Umgang mit dem eigenen Handy aus: Wer sich oft und schnell hintereinander neue Nachrichten anschaut, gibt (im Gegensatz zu einem in der Stimme mitschwingenden Lächeln) ein Stresssymptom zu erkennen. Die Überwachung erstreckt sich sogar auf den Schlaf: Ein Herumwälzen im Bett wird vom Bewegungssensor des Smartphones registriert und fließt ebenfalls in die Auswertung ein. Nach Auskunft des Start-ups, das diese App entwickelt hat (Soma Analytics), erfolgt die Nutzung der privaten Smartphones zur permanenten Eigenüberwachung auf freiwilliger Basis, aber von Konsequenzen im Falle einer Ablehnung ist nicht die Rede. [14]
Der nächste digital durchdrungene Alltagsbereich umfasst viele Aspekte unseres Konsumverhaltens. Coronabedingt hat sich nicht nur die Zahl der Geschäfte mit einem Online-Warenangebot, sondern auch die Zahl der Lieferdienste stark vermehrt. Dieser auch „Plattformökonomie“ genannte Wirtschaftszweig zeichnet sich vor allem durch extrem schlechte Arbeitsbedingungen für die dort tätigen Mitarbeiter aus. Die in aller Regel nicht angestellten, sondern (schein-)selbstständig beschäftigten Arbeitskräfte werden schlecht entlohnt, sind nicht sozialversichert, bekommen weder Urlaubs- noch Krankheitsgeld und dürfen höchstens ausnahmsweise einen Betriebsrat wählen. Hinzu kommt eine ständige Überwachung per App, deren Ergebnis ein rascher Auftragsschwund sein kann, der ihnen aber nie erläutert wird. Im Gegensatz zu den privaten Taxidiensten (Beispiel Uber) kommt bei den Fahrradkurieren auch noch ein stark erhöhtes Unfallrisiko hinzu.
Angesichts zaghafter Regulierungsversuche auf EU-Ebene sind viele Plattformen dazu übergegangen, Subunternehmen einzuschalten, um sich der eigenen Verantwortung zu entziehen. Dabei wird in der Plattformökonomie nicht nur viel Geld durch die massive Ausbeutung der Mitarbeiter verdient, sondern auch durch den Verkauf der bei jeder Lieferung anfallenden Kundendaten.
Kaum besser sieht es in der realen Einkaufswelt aus. Seit Errichtung der ersten Aldi-Filialen geht es bei den Selbstbedienungsläden immer um die Frage, wie und wo Personal eingespart werden kann. Während der erste Schritt auf diesem Weg noch „analoger“ Natur war (Wechsel von losen zu verpackten Lebensmitteln), setzten nach der bereits erwähnten Einführung der Scanner-Kassen weitere Versuche ein, den Bedarf an menschlicher Arbeitskraft durch Einsatz „intelligenter“ Technik zu reduzieren.
Dabei fällt auf, dass jeder neue diesbezügliche Schritt als kundenfreundliche Verbesserung angepriesen wird. Das gilt für die (schon älteren) Selbstbedienungskassen ebenso wie für die „Easy Shopper“, bei denen es sich um Einkaufswagen handelt, die mit Display und Scanner zur automatischen (Preis-)Erfassung der vom Kunden hineingelegten Waren ausgestattet sind.
In Berlin ist Rewe gerade dabei, in einer Art Probelauf dem Beispiel von Amazon (Supermärkte ganz ohne Personal) zu folgen. Kunden, die sich am Eingang mit einer zuvor heruntergeladenen App registrieren, können die aus dem Regal herausgenommenen Waren direkt in die eigene Tasche stecken und an den Kassen vorbei nach draußen gehen, wo sie die Rechnung auf ihr Handy bekommen. Dieses Vorgehen ist möglich, weil in der zu diesem Zweck umgerüsteten Filiale 4000 Kameras installiert und die Regale und Auslagen mit mehr als 1000 Gewichtssensoren bestückt sind. Zur technischen Ausrüstung gehört außerdem eine etwa zwei Kubikmeter große Servereinheit zur Verarbeitung der Daten. [15]
Was in derartigen Läden sonst noch so alles möglich ist, zeigt ein in den USA bekannt gewordenes Beispiel, das vom Onlineportal Planet Wissen veröffentlicht worden ist: „Das Besondere an Big Data ist, dass nicht nur die Gegenwart erfasst wird. Es lassen sich auch Voraussagen über die Zukunft treffen. … Eine US-amerikanische Handelskette ermittelte zum Beispiel, welche Kundinnen wahrscheinlich schwanger sind, und bewarb diese gezielt. Wer will aber schon durch einen Supermarkt von seiner Schwangerschaft erfahren?“ [16]
In weitaus größerem Stil wird Big Data von Geheimdiensten, militärischen Abteilungen und polizeilichen Ermittlungsstellen (auch in Deutschland) genutzt. Hierbei geht es immer darum, Massendaten so zu analysieren, dass bestimmte Muster schnell erkannt werden können. Zu den neueren Anbietern in diesem Bereich gehört die (auch von Peter Thiel finanzierte) US-Firma Palantor mit ihrer Fahndungssoftware „Gotham“. Das darüber hinaus (zur „Verbrechensprophylaxe“) verfolgte Vorhersageziel beruht auf dem Versuch, „deviantes Verhalten“ zu erkennen, das beispielsweise bei einem „auffälligen Betreten“ eines Parkhauses registriert wird.
Doch zurück zu den alltäglichen Anwendungsbereichen, zu denen nicht zuletzt das Gesundheitswesen gehört, das inzwischen derart viele digitale Produkte und Vorgehensweisen umfasst, dass hier nur auf die etwas neueren Entwicklungen eingegangen werden soll. So sind etliche Ärzte dazu übergegangen, ihre Befundberichte als Mail-Anhang zu verschicken oder zwecks Terminvereinbarung nur noch online (über doctolib.de) kontaktiert werden zu wollen.
Ungeachtet des damit verbundenen Risikos eines Fremdzugriffs verfolgen alle großen Tech-Konzerne (Amazon, Apple, Facebook, Google, Microsoft) das Ziel, die Digitalisierung der Medizin voranzutreiben. Zu diesem Zweck beteiligen sie sich beispielsweise an pharmazeutischen Firmen oder universitären Studien. Auch komplette Firmenaufkäufe sind nicht selten, wobei es immer um die Entwicklung neuartiger Produkte geht, die zur (permanenten) Überwachung zahlreicher Körperfunktionen oder zur rein KI-basierten Befundermittlung eingesetzt werden.
Aber selbst schon länger bekannte Produkte wie das digitale Sprachverarbeitungsgerät Alexa lassen sich im angestrebten medizinischen Sinne nutzbar machen: „Bemerkenswert ist in diesem Kontext, dass Amazon ein Patent für Alexa hält, das aus der Stimmanalyse seiner Spracheingabe auf den Gesundheitszustand des Nutzers schließen kann. Dies eröffnet en passant neue Umsatzpotenziale für den Konzern, der künftig maßgeschneidert Angebote für nicht verschreibungspflichtige Medikamente platzieren könnte.“ [17]
Mittlerweile können sogar Toiletten („smarte Toiletten“) als Datenquellen erschlossen werden, wenn man sie mit Bewegungssensoren, Teststreifen, Uroflometern, Analscannern, Drucksensoren, Stuhlkameras und Fingerabdruck-Scans bestückt. Auf diese Weise ist es möglich, die an eine Cloud weitergeleiteten und gespeicherten Daten dem jeweiligen Nutzer zuzuordnen. [18]
Zum Sammeln und Auswerten von (Patienten-)Daten ist auch die digitale Patientenakte gedacht, die aber trotz millionenschwerer staatlicher Förderung bislang noch nicht so richtig vom Fleck gekommen ist. Die in diesem Zusammenhang versprochene zukünftige Vermeidung von Doppeluntersuchungen setzt voraus, dass jeder Arztbesuch, jede Diagnose und jede Verordnung elektronisch erfasst und gespeichert wird. Das dürfte insbesondere diejenigen Rentner verdrießen, die gerne verschiedene Ärzte aufsuchen, um ein Stück weit ihrer Einsamkeit zu entkommen.
Um das ebenfalls auf den Weg gebrachte elektronische Rezept (E-Rezept) digital empfangen zu können, wird die App „E-Rezept“ benötigt. Während der digitale Empfang eines E-Rezepts im Rahmen einer Videosprechstunde (Stichwort: „Telemedizin“) noch nachvollziehbar ist, gilt das nicht für echte Arztbesuche. „Daten-Junkies“ werden das allerdings anders sehen und auf eine lückenlose Ausstattung mit Smartphones und/oder anderen digital nutzbaren Geräten hoffen.
Zur telemedizinischen Ausstattung gehören auch mobile (Selbst-)Messgeräte, deren Ergebnisse eine wichtige Beratungsgrundlage für die per Video zugeschalteten Ärzte darstellen. Dem Vernehmen nach sollen sogar schon Köfferchen mit darin enthaltenen Stethoskopen in Vorbereitung sein. Wie auch immer: Coronabedingt haben Selbstkontrollen und -untersuchungen enorm zugenommen, wodurch es zu einem früher undenkbaren „outsourcing“ ärztlicher Leistungen gekommen ist.
Und noch etwas hat sich geändert: Seit Ende 2020 können Ärzte auch medizinische Apps (Aufzeichnung von Blutwerten, Hilfe bei Tinnitus oder Austausch von Vitaldaten mit medizinischem Fachpersonal) verschreiben. Diese können ergänzt werden durch die von manchen Krankenkassen angebotenen Bonus-Apps, die aber nur nach einer Verknüpfung mit der auf dem Smartphone vorinstallierten Health App funktionieren. Dabei ist die letztgenannte App die eigentliche Datensammlerin, sodass die Bonus-App lediglich eine Kopie der ganz anderweitig gesammelten Daten erhält.
Unabhängig von den Anwendungsbeispielen kann festgestellt werden, dass sich insbesondere der Gesundheitssektor durch eine symbiotische und zugleich gewinnträchtige Verbindung von Digitalisierung und Privatisierung auszeichnet. Als Folge dieser von der Regierung unterstützten Entwicklung müssen immer mehr öffentlich betriebene Krankenhäuser schließen, die dann durch (zumeist ausgerechnet innerstädtisch angesiedelte und den Abbau nur unzureichend ausgleichende) Medizinische Versorgungszentren (MVZ) ersetzt werden. Ohne Wissen der Patienten betreiben Investoren aber auch den Ankauf der von niedergelassenen Ärzten betriebenen Praxen oder die Gründung von Gemeinschaftspraxen, die auf ein Spezialgebiet (Beispiel Augenheilkunde) fokussiert sind und den Patienten bevorzugt teure (Sonder-)Behandlungen anbieten.
Zu den noch gar nicht erwähnten Projekten gehören Vorhaben wie Einführung einer elektronischen Identität (Stichwort: ID2020), Schaffung eines digitalen Zwillings oder Genommedizin. Auch wenn die genannten Vorhaben derzeit noch nicht „spruchreif“ sind, lässt sich schon jetzt erahnen, wohin die Reise gehen könnte. Spätestens dann, wenn es gelingt, alle über uns gesammelten Daten auf kleinstem Raum miteinander zu verknüpfen, ist eine Art „Superpass“ denkbar, der Angaben enthält wie Gesundheitsdaten, geschlechtliche Identität, Schufa-Auskünfte, politische und sexuelle Präferenzen, Konsumverhalten, Lern- und Studiengänge, Abschlussnoten, Reiseziele, eventuelle Vorstrafen, berufliche Tätigkeiten, behördliche Dokumente und vielleicht auch noch Angaben zu unseren engsten Freunden und bevorzugten Freizeitaktivitäten.
Ein solcher (eines Tages vielleicht sogar weltweit auslesbarer) Pass könnte (vergleichbar mit den bisherigen Schufa-Dateien) per Scoring-Verfahren (Punktesystem) dazu genutzt werden, die (dann nicht länger nur finanzielle) „Seriosität“ des jeweiligen Inhabers zu beurteilen. Sollte es so weit kommen, wäre dieser Ausweis lediglich umfangreicher als die in Bologna bereits geplante „Smart Citizen Wallet“. Vergleichbare Vorhaben sind mittlerweile auch schon in Rom, Wien und Bayern angekündigt worden. Angepriesen werden solche Projekte als Träger großer sozialer und ökologischer Verbesserungen, wodurch der darin enthaltene manipulative Charakter (Erziehung zum „tugendhaften“ Bürger) vollkommen verschleiert wird.
Obwohl in Europa zunächst nur „Belohnungspunkte“ vergeben werden sollen, erinnern derartige Vorstöße doch sehr an das in China schon vor Jahren eingeführte Sozialkreditsystem. Danach wird belohnt, wer sich im Sinne der „von oben“ gesetzten Ziele verhält, während diejenigen, die ein „unerwünschtes Verhalten“ an den Tag legen, mit Punkteabzügen und den daraus folgenden großen Nachteilen für ihr tägliches Leben bestraft werden. Zusammen gedacht mit der ebenfalls geplanten Abschaffung des Bargeldes beziehungsweise der Einführung diverser digitaler Zentralbankgelder wird die von solchen Systemen ausgehende Gefahr noch deutlicher: Bestrafung unerwünschten Verhaltens nicht nur durch Punkteabzug, sondern auch durch Kontosperrungen, die dann nicht länger anderweitig überbrückt werden können.
Im Gegensatz zu den noch hypothetischen Gefahren sind wir bereits jetzt mit einer Entwicklung konfrontiert, bei der es darum geht, noch mehr Arbeitskräfte durch den Einsatz von Robotern einzusparen oder Personal erst gar nicht einstellen zu müssen. Ganz anders als die schon vor Jahrzehnten eingeführten Industrieroboter sind nunmehr viele „niedliche“ (mit Kulleraugen bestückte) und bedarfsgerecht programmierte Dienstleistungsroboter im Einsatz. In Alten- und Pflegeheimen treten sie als sprechende Animateure auf, die Witze oder Geschichten erzählen können, zur Teilnahme an Spielen oder gymnastischen Übungen ermuntern und in der Lage sind, eine Reihe von Fragen (zum Beispiel nach dem Wetter) zu beantworten.
Das Empathie hervorrufende Kindchenschema wird unterstützt durch eine bewusst klein gehaltene Gestalt, weshalb sogar Restaurantbesucher (beim Anblick eines Servierroboters) versucht sind, dessen „Köpfchen“ zu streicheln. Dabei wird völlig ausgeblendet, dass auch die so menschlich wirkenden Dienstleistungsroboter mit Mikrofonen und Kameras ausgestattet sind, von denen wir nicht wissen, was sie aufnehmen und speichern.
In diesem Zusammenhang kann gar nicht eindringlich genug betont werden, dass es die „Künstliche Intelligenz“ in der heutigen Form gar nicht gäbe, wenn wir nicht immer wieder (aus Bequemlichkeit, Unwissenheit oder Alternativlosigkeit) bereit gewesen wären, den Computern Massen an persönlichen Daten anzuvertrauen, die – in Verbindung mit den von den Überwachungssystemen gesammelten Daten – allesamt von diversen Interessenten abgeschöpft und verwertet werden.
Die dabei verfolgten Ziele sind, soweit darüber überhaupt gesprochen wird, teilweise so bizarr, dass sie kaum glaubhaft erscheinen. Als Beispiel sei die Metavers genannte Welt genannt, in der wir uns nach den Vorstellungen von Zuckerberg zukünftig ganz überwiegend aufhalten werden. Das heißt konkret: Sobald wir nach dem morgendlichen Aufstehen unser Headset aufgesetzt haben, soll sich praktisch unser gesamtes alltägliches Leben (Arbeiten, Einkaufen oder Schulbesuch der Kinder) in dieser künstlichen Welt abspielen.
Eine andere Zielrichtung ist unter dem Begriff „Transhumanismus“ bekannt geworden, worunter – grob gesagt – eine „Verschmelzung“ von Mensch und Maschine verstanden wird. In diesem Bereich gibt es durchaus unterschiedliche Ansätze, aber allen Befürwortern gemeinsam ist die Vorstellung, dass es zwischen Mensch und (KI-gestützter) Technik keinen fundamentalen Unterschied mehr gibt.
Wer so denkt, leugnet die dem Menschen eigene Emotionalität (Liebe, Sehnsucht, Trauer, Freude, Verzweiflung, Mitgefühl, Begeisterung, Hass), Kreativität, Spontaneität, Spiritualität, Verletzlichkeit und auch Irrationalität vollkommen und kann (wie Eagleman) von einer Überwindung des Todes durch Herunterladen unserer zuvor kopierten Gehirne auf einen Computer und damit von einem ewigen Leben in Silizium träumen.
Aber selbst dann, wenn von diesen Horrorprojekten Abstand genommen werden sollte, bleiben wir in jedem Fall die Ausgebeuteten: Ausschließlich wir sind die Urheber unserer mehr oder weniger freiwillig gelieferten Daten, aber von den riesigen Gewinnen, die entweder durch den Direktverkauf unserer Daten oder durch den Verkauf der auf unseren Daten basierenden Produkte erzielt werden, bekommen wir nichts ab. Aus diesem Umstand zieht Werner Meixner folgenden Schluss: „Wenn allgemein bewusst wird, dass jegliche privaten Daten wertvoller Rohstoff sind, dann wird sich der Wille zum Eigentum mächtig zeigen. Spätestens dann werden die Leute einsehen, dass es auch nicht um die Frage geht, ob man etwas zu verbergen hat, sondern um die Frage, ob man bestohlen werden will.“ [19]
Zwischenbilanz
Der zeitgeschichtliche Rückblick auf die Entwicklung der BRD verdeutlicht, dass die von Lebensfreude und Zuversicht geprägten Jahre schon weit zurückliegen und sich nie wiederholt haben. Das euphorische Lebensgefühl ist (von Ausnahmen abgesehen) der heutigen Jugend nie vergönnt gewesen, und das, was davon vielleicht doch noch vorhanden war, ist in den „Corona-Jahren“ gründlich zerfetzt worden.
Aber auch insgesamt haben sich die Lebensbedingungen kontinuierlich verschlechtert: Zerbröselung der Infrastruktur, Deregulierung und Prekarisierung des Arbeitsmarktes, Zunahme der Armut, privatisierungsbedingte Schwächung der öffentlichen Daseinsvorsorge und Sozialversicherungssysteme, familienunfreundliche Entgrenzung der Arbeitszeiten, Verlust an Glaubwürdigkeit (Politik, Presse und Wissenschaft), neoliberale Umstrukturierung des Bildungswesens, Krisenbewältigungspolitik auf Kosten der Armen, Zementierung der Vermögensungleichheit, Abbau demokratischer Grundrechte und Forcierung der Digitalisierung im überwiegenden Interesse der Kapitalanleger.
Zu den wenigen Lichtblicken der vergangenen Jahrzehnte gehören die stückweise Umsetzung der grundgesetzlich verankerten Gleichberechtigung (mit einem allerdings bis heute bestehenden „gender gap“ bei der Entlohnung) oder die Abschaffung der Prügelstrafe. Jenseits der inzwischen vielfältig eingetretenen missbräuchlichen Nutzung kann auch die Digitalisierung als Fortschritt gelten.
So hat – auf der Grundlage eines schnellen Informationsaustausches – das Internet ganz neuartige Möglichkeiten eröffnet: Zugriff auf viele bislang verschlossen gebliebene Wissensbereiche, Schaffung neuer Kreativitätsfelder oder Bildung von Netzwerken mit Menschen, die man auf anderen Wegen kaum kennengelernt hätte. Ebenso wenig sollen die zahlreichen Anwendungen und Arbeitserleichterungen geleugnet werden, die sich (einschließlich etlicher medizinischer Sparten) in vielen Berufsfeldern bewährt haben.
Angesichts der nutzbringenden (und somit erhaltenswerten) Vorteile des Internets ist es nicht verwunderlich, dass viele Menschen die dunkle Seite der Digitalisierung nicht mit ihrem Alltagsleben in Verbindung bringen. So wird immer wieder übersehen, dass die angestrebte „Voll-Digitalisierung“ der Gesellschaft auf eine Exklusion derjenigen Menschen hinausläuft, die diesen Weg nicht mitgehen können oder wollen. Hinzu kommt ein inzwischen recht sorglos gewordener Umgang mit den eigenen Daten, der es den (Groß-)Konzernen sehr leicht macht, uns diese zu entwenden. Das sah in den 1980er-Jahren, als es um die Durchführung der vierten Volkszählung ging, noch völlig anders aus.
Mit anderen Worten dürfte in den dazwischen liegenden Jahren eine gewaltige Abstumpfung und/oder Resignation (als Folge des oft verwehrten Zugangs bei „Datenverweigerung“) eingetreten sein. Eine in dieser Hinsicht große Rolle spielt auch die geschickte Marketingstrategie, nach der es niemals um Gewinnschöpfung und -maximierung, sondern immer nur um das Wohl des Volkes (Stichwort: Sicherheit) oder um das Wohl des Einzelnen (Stichwort: Gesundheit) geht.
Unter dem Strich bleibt festzuhalten: Wir haben uns einlullen lassen und sind nun mehrheitlich von der Unausweichlichkeit und/oder Nützlichkeit der Digitalisierung aller Lebensbereiche überzeugt. Obwohl die Angst vor einer Abhängigkeit von Energieressourcen inzwischen sehr groß geworden ist, schrecken wir nicht davor zurück, uns durch das fortschreitende Verstopfen aller analogen (Notfall-)Alternativen in eine noch viel größere Abhängigkeit zu begeben.
Aber nicht nur vor diesem Hintergrund, sondern auch im Hinblick auf das zukünftige Schicksal der (Enkel-)Kinder und der gesamten Menschheit sollten wir uns wieder häufiger die Frage stellen: Ist ein komplett digitalisiertes Leben überhaupt wünschenswert?
Lesen Sie auch den zweiten Teil.
Leserbriefe zu diesem Beitrag finden Sie hier.
Titelbild: Daniel Krason/shutterstock.com
[«1] Meyer-Schoppa, Heike und Gille-Linne, Karin, Mythos der Waschkörbe, vorwärts, O7-08/2008, S.27
[«2] Roitsch, Jutta, Am Ende wird die Kassiererin selbst kassiert / Die lautlose Revolution an den Ladenkassen der Supermärkte, Frankfurter Rundschau vom 02.06.1984 (Rubrik „Zeit und Bild“)
[«3] Interview der Wochenzeitung „industrie“ mit Joseph Weizenbaum, das in der Frankfurter Rundschau vom 30. November 1983 unter dem Titel „Diese technologischen Prozesse setzen sich fort wie Krebs“ auszugsweise veröffentlicht worden ist, S.15
[«4] Steffen, Johannes, Kürzungen, Streichungen und höhere Beiträge, Frankfurter Rundschau, 22.12.1995, S.16. Der Beitrag beruht auf einer von der Arbeiterkammer Bremen erstellten Dokumentation über den in vielen Bereichen vorgenommenen Sozialabbau. In dem Artikel ist die Dokumentation leicht gekürzt und zugleich aktualisiert worden. Der dargestellte Zeitraum umfasst die Jahre von 1982 bis 1995.
[«5] Drake, Thomas im Gespräch mit Hahn, Dorothea, Sie sind besessen davon, alles wissen zu wollen, taz vom 18.07.2013, taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=sw&dig=2013%2F07%2F18%2F.
[«6] Georgescu, Vlad / Vollborn, Marita, Schöne neue (Schul-)Welt? Computer als „perfekte“ Lehrer, Berliner Morgenpost vom 07.07.1996, S. 53
[«7] Aus einem Interview mit Anne Sliwka, Online-Veröffentlichung in: News4Teachers vom 21.09.2022
[«8] Titelgeschichte in: DER SPIEGEL, Nr.47/1984, Alarm in den Schulen: Die Computer kommen
[«9] Lemhöfer, Anne, Lasst sie buddeln, Frankfurter Rundschau, FR7 Magazin vom 16./17.05.2020
[«10] Wurzbacher, Ralf im Gespräch mit Teuchert-Noodt, Gertraud, Wir machen aus unseren Kindern Psychopathen, junge welt, 19.01.2019 (Wochenbeilage)
[«11] Bager, Jo, Dabei sein ist alles, c’t 2008, Heft 5, S.92-94
[«12] So heißt es in einem der Autorin zugegangenen Schreiben einer Abrechnungsstelle wörtlich: „Eine Verwendung Ihrer Daten für ein Profiling oder eine automatisierte Entscheidungsfindung erfolgt nicht.“
[«13] Uehlecke, Jens, Big Brother im Betrieb, VER.DI PUBLIK 04, April 2003, S.8
[«14] Darstellung nach: Klofta, Jasmin und Rest, Jonas, Big Boss is watching you, Frankfurter Rundschau, 23.04.2015, S. 14-15
[«15] Knoblach, Jochen, Wie klauen, nur legal, Berliner Zeitung vom 10.11.2022
[«16] planet-wissen.de/technik/computer_und_roboter/big_data_das_netz_der_daten/index.html
[«17] Krüger-Brand, Heike E., Tech-Konzerne als Treiber, Deutsches Ärzteblatt, Jg.117, Heft 8, 21.02.2020
[«18] Bebilderte Darstellung in: Apotheken-Umschau, A 12/22, S.54-55
[«19] Meixner, Werner, Die smarte Diktatur, rubikon.news/artikel/die-smarte-diktatur