Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages (WD) hat als Auftragsarbeit ein juristisches Gutachten erstellt, welche potentiellen Möglichkeiten es gibt, Russland aus dem Sicherheitsrat sowie ganz aus den Vereinten Nationen auszuschließen, und ob diese Überlegungen aus völkerrechtlicher Sicht Aussicht auf Erfolg haben. Der bisher noch unveröffentlichte „Sachstand“ liegt den NachDenkSeiten vor. Von Florian Warweg.
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„Im Zuge des russischen Angriffs auf die Ukraine wurde in Wissenschaft und Medien vermehrt darüber diskutiert, ob Russland völkerrechtlich gesehen aus dem Sicherheitsrat bzw. aus den Vereinten Nationen (VN) ausgeschlossen werden darf. In der völkerrechtlichen Debatte werden für diese Argumentationslinien zum Teil recht „kreative“ Argumente vorgetragen, die im Rahmen dieses Sachstandes dargestellt und rechtlich eingeordnet werden sollen.“
So die Einleitung des entsprechenden Gutachtens des WD. Danach führen die Autoren aus, dass es derzeit drei Hauptargumentationslinien „zur Entfernung Russlands aus dem Sicherheitsrat bzw. aus den VN“ gäbe.
- Formaler Ausschluss Russlands aus den Vereinten Nationen gemäß Artikel 6 VN-Charta, Art. 18 Abs. 2 VN-Charta;
- Ausschluss auf Basis der sogenannten „historischen Argumentation“ (Ausgangspunkt hierfür ist die explizite Nennung der „Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken“ und nicht Russlands in Artikel 23 der VN-Charta, welcher die ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat auflistet);
- Ausschluss des russischen Vertreters im Sicherheitsrat über ein sogenanntes „prozedurales Manöver“, welches es zudem ermöglichen würde, „dass die Ukraine als VN-Gründungsmitglied und ehemaliges Mitglied der Sowjetunion den Sicherheitsratssitz Russlands sogar für sich beanspruchen könnte“.
Formaler Ausschluss Russlands aus den Vereinten Nationen
Dieser erste Ansatz wurde vor allem von US-amerikanischen Politikern, Juristen und einflussreichen Medien wie dem in Washington ansässigen The Hill bereits ab Anfang März 2022 propagiert. Sie berufen sich alle auf Artikel 6 der UN-Charta. Dort heißt es:
„Ein Mitglied der Vereinten Nationen, das die Grundsätze dieser Charta beharrlich verletzt, kann auf Empfehlung des Sicherheitsrats durch die Generalversammlung aus der Organisation ausgeschlossen werden.“
Hier verweisen die Juristen des Bundestags allerdings darauf, „während die Generalversammlung der Empfehlung des Sicherheitsrates nicht folgen muss, ist das Vorliegen einer Empfehlung dem Wortlaut der Norm sowie der herrschenden Meinung zufolge Voraussetzung für das Handeln der Generalversammlung. Die Vetomächte im Sicherheitsrat (dazu zählt auch Russland) können eine solche „Empfehlung“ also verhindern“.
Die Fürsprecher des Ausschlusses Russlands mittels dieses formellen Verfahrens begründen dies allerdings auch mit Verweis auf ein Gutachten des Internationalen Gerichtshofs (IGH) aus dem Jahr 1962. In dem Gutachten wird deutlich gemacht, dass die Generalversammlung bezüglich Artikel 6 der VN-Charta bedeutende Rechte habe. Im Wortlaut heißt es dort:
„Im Zusammenhang mit der Aussetzung von Rechten und Privilegien der Mitgliedschaft und dem Ausschluss von der Mitgliedschaft gemäß Artikel 5 und 6 hat der Sicherheitsrat lediglich eine Empfehlungsbefugnis, während die Generalversammlung entscheidet und deren Entscheidung den Status festlegt; es besteht jedoch eine enge Zusammenarbeit zwischen den beiden Organen.“
US-Juristen, wie etwa der Militärjurist Dan Maurer, argumentieren nun, dass durch dieses IGH-Gutachten deutlich würde, dass eine vorherige Empfehlung durch den Sicherheitsrat keine Voraussetzung für den Ausschluss eines Landes aus den Vereinten Nationen sei:
„Artikel 6 besagt nicht – und das IGH-Gutachten macht dies deutlich -, dass die Generalversammlung nur dann über einen Ausschluss abstimmen kann, wenn der (Sicherheits-)Rat zuvor darüber abgestimmt hat.“
Dieser Einschätzung widersprechen allerdings die Fachjuristen des Wissenschaftlichen Dienstes. In dem den NachDenkSeiten vorliegenden Gutachten heißt es diesbezüglich, dass der IGH zu der Frage, ob eine Empfehlung des Sicherheitsrats zwingend ist, zwar nicht explizit Stellung nehme, jedoch lege die Formulierung, „es besteht jedoch eine enge Zusammenarbeit“, nahe, dass eine vorhergehende Empfehlung des Sicherheitsrats verpflichtend sei. Schließlich, so der WD weiter, „wäre sonst keine enge Zusammenarbeit („close collaboration“) zwischen den beiden Organen nötig“.
Insgesamt bewertet der WD diesen „formalen“ Ansatz als nicht umsetzbar:
„Im Ergebnis bleibt – mit der wohl überwiegenden Meinung in der Völkerrechtslehre – festzuhalten, dass ein Ausschluss Russlands aus den Vereinten Nationen und dem VN-Sicherheitsrat gem. Art. 6 VN-Charta gegen den Willen Russlands (Veto) rechtlich nicht möglich ist.“
„Historischer Ansatz“ zum Ausschluss Russlands
Dann widmet sich das Gutachten dem sogenannten „historischen Ansatz“. Hintergrund hierfür ist die Tatsache, dass Artikel 23 der VN-Charta bei der Auflistung der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates nicht Russland, sondern noch immer „die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken“ aufführt:
„Die Republik China, Frankreich, die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland sowie die Vereinigten Staaten von Amerika sind ständige Mitglieder des Sicherheitsrats.“
Hinsichtlich der Möglichkeiten, Russland aus dem Sicherheitsrat auszuschließen, wird von interessierter Seite, in diesem Fall hauptsächlich ukrainischen Regierungsvertretern, argumentiert, dass Russland nie rechtmäßig den Vereinten Nationen und dem Sicherheitsrat beigetreten sei. Da Russland, so die weitere Argumentation, kein „Nachfolgestaat“, sondern ein „Fortsetzerstaat“ der ehemaligen UdSSR sei, hätte Russland genau wie alle anderen ehemaligen sozialistischen Sowjetrepubliken nach Auflösung der Sowjetunion den VN neu beitreten müssen. Eine Ausnahme würden hier lediglich die Ukraine und Belarus darstellen, diese hätten keines neuen Beitritts bedurft, da jene beiden Staaten – anders als Russland und die übrigen ehemaligen Sowjetrepubliken – bereits vor Auflösung der UdSSR völkerrechtlich vollwertige Mitglieder der VN und zeitweise sogar des VN-Sicherheitsrats gewesen seien. (Beide Teilrepubliken der UdSSR waren am 24. Oktober 1945 als eigenständige Gründungsmitglieder den Vereinten Nationen beigetreten.)
Doch auch dieser Argumentation widersprechen die Fachjuristen des Deutschen Bundestages. Dazu verweisen sie zunächst darauf, dass nach dem Zerfall der Sowjetunion die Ukraine, Belarus und die Russische Sozialistische Sowjetrepublik (RSFW) am 8. Dezember 1991 das Minsker Abkommen schlossen, in dem die drei Staaten feststellten, dass die UdSSR als Subjekt des Völkerrechts aufhört, zu existieren. In diesem Zusammenhang wurde auch die Gründung der „Gemeinschaft unabhängiger Staaten“ (GuS) beschlossen. 13 Tage später, am 21. Dezember 1991, unterzeichneten die Vertragsstaaten des Minsker Abkommens sowie fast alle weiteren ehemaligen Sowjetrepubliken in Alma Ata verschiedene Dokumente, die bis heute als „Alma-Ata-Protokolle“ bezeichnet werden. In einem dieser Dokumente, dem Protokoll zum Minsker Abkommen (nicht zu verwechseln mit Minsk II), erklärten die Vertragsstaaten, dass das Minsker Abkommen für alle Vertragsstaaten gelte. Aus einem weiteren der Dokumente, der sogenannten „Entscheidung des Rats der Staatschef der Gemeinschaft der unabhängigen Staaten“ („Decision by the Council of Heads of States of the Commonwealth of Independent States“), ginge, so die Darlegung des WD, eindeutig hervor, „dass die ehemaligen Sowjetrepubliken (inklusive der Ukraine) sich entschieden haben, die Fortsetzung der Mitgliedschaft der Sowjetunion im VN-Sicherheitsrat durch Russland zu unterstützen.
Daraufhin schickte der damalige Präsident der Russischen Föderation, Boris Jelzin, einen Brief an den VN-Generalsekretär Javier Pérez de Cuéllar, den dieser offiziell am 24. Dezember 1991 erhielt. In diesem Brief teilte Jelzin mit, so führt der WD weiter aus, „dass die Russische Föderation mit der Unterstützung der ehemaligen Sowjetstaaten die Mitgliedschaft der Sowjetunion in den VN sowie dem Sicherheitsrat fortsetze“. Die Völkerrechtler des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages verweisen darauf, dass, selbst wenn man der Auffassung folge, Russland hätte den VN nach dem Ende der Sowjetunion neu beitreten müssen, diese Argumentation im Jahr 2023 obsolet sei, da „mittlerweile völkergewohnheitsrechtlich anerkannt sei, dass Russland den Sitz der ehemaligen Sowjetunion im Sicherheitsrat übernommen und fortgeführt hat“. Abschließend betont das Gutachten des WD:
„Die internationale Staatengemeinschaft akzeptierte ohne Widerspruch die von Jelzin beanspruchte Fortsetzung der VN- und Sicherheitsratsmitgliedschaft durch Russland.“
Auch der renommierte Völkerrechtsexperte und Direktor des Programms zu den Vereinten Nationen an der Columbia University, Daniel Naujoks, kommt zu einer ganz ähnlichen Einschätzung hinsichtlich des „historischen Argumentationsansatzes“ der aktuellen ukrainischen Regierung:
„Es ist eine juristische Spitzfindigkeit der Ukraine und völkerrechtlich Humbug.“
Ausschluss Russlands unter Rückgriff auf die Geschäftsordnung des Sicherheitsrats und Übernahme des Sitzes durch die Ukraine
„In der völkerrechtlichen Debatte wird die Auffassung vertreten, dass die Russische Föderation gemäß Regel 17 der vorläufigen Geschäftsordnung des VN-Sicherheitsrats i.V.m Art. 27 Abs. 2 VN-Charta ganz aus dem Sicherheitsrat ausgeschlossen werden könnte und dass die Ukraine den von Russland belegten Sitz für sich beanspruchen könne. Schließlich sei die Ukraine sowohl Gründungsmitglied der VN als auch Unions- bzw. Teilrepublik in der ehemaligen UdSSR gewesen. Deswegen könne die Ukraine ebenso wie Russland einen glaubwürdigen Anspruch auf Fortsetzung des Sitzes der ehemaligen UdSSR geltend machen.“
Mit diesen Worten leitet der WD die völkerrechtliche Überprüfung der dritten Argumentationslinie der Ausschlussbefürworter ein. Die erwähnte Regel 17 der vorläufigen Geschäftsordnung des VN-Sicherheitsrats lautet:
„Ein Vertreter im Sicherheitsrat, gegen dessen Vollmacht im Rat Einspruch erhoben worden ist, nimmt mit den gleichen Rechten wie die anderen Vertreter weiter an den Sitzungen teil, bis der Sicherheitsrat die Angelegenheit entschieden hat.“36
Im ebenso vom WD in diesem Zusammenhang erwähnten Artikel 27 Absatz 2 der VN-Charta ist zu lesen:
„Beschlüsse des Sicherheitsrats über Verfahrensfragen bedürfen der Zustimmung von neun Mitgliedern.“
Westliche Völkerrechtler, wie beispielsweise der britische Rechtswissenschaftler Thomas Grant, argumentieren auf dieser Basis wie folgt: Regel 17 der vorläufigen Geschäftsordnung des Sicherheitsrats erlaube es den Mitgliedern des Sicherheitsrates, bei einer Abstimmung über die Vollmacht des russischen Vertreters gegen diesen zu stimmen. Regel 17 der vorläufigen Geschäftsordnung des Sicherheitsrats zufolge würde der russische Vertreter im Sicherheitsrat verbleiben, bis über die Angelegenheit entschieden wird. Da es sich bei Abstimmungen über Vollmachten um Verfahrensfragen handele, käme Artikel 27 Absatz 2 der VN-Charta zum Einsatz. Gemäß diesem Artikel bedürften prozedurale Angelegenheiten lediglich einer Mehrheit von neun Mitgliedern und es bestehe keine Möglichkeit, ein Veto einzulegen.
Das geschilderte Vorgehen wird dann mit folgender Argumentation gerechtfertigt: Russland habe als Gegenleistung für die mit den anderen ehemaligen Sowjetrepubliken vereinbarte Fortsetzung der VN-Rechte der UdSSR durch Russland – in den bereits erwähnten „Alma-Ata-Protokollen“ – versprochen, die VN-Charta zu respektieren, insbesondere aber auch die territoriale Integrität der Grenzen seiner Nachbarn zu wahren. Russland habe sich jedoch mit dem Einmarsch in die Ukraine an seinen Teil der Abmachung nicht gehalten.
Doch auch diese, vor allem im angelsächsischen Raum populäre, Argumentation hinterfragen die Fachjuristen des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages aus völkerrechtlicher, aber auch realpolitischer Sicht.
Zunächst weist der WD darauf hin, dass Artikel 27 der VN-Charta zwischen Beschlüssen über Verfahrensfragen, die nur der Zustimmung von neun Mitgliedern des Sicherheitsrates bedürfen, und Beschlüssen des Sicherheitsrats in allen anderen Angelegenheiten, bei denen alle ständigen Mitglieder zustimmen müssen (Artikel 27 Abs. 3), unterscheidet. Letztere, so die Fachjuristen des Bundestages weiter, unterliegen somit der Vetomöglichkeit der ständigen Sicherheitsratsmitglieder. Was genau unter Verfahrensfragen („procedural matters“) zu verstehen ist, sei jedoch weder in der VN-Charta noch in der vorläufigen Geschäftsordnung des Sicherheitsrats definiert und im Einzelnen umstritten. Vor diesem Hintergrund weisen die Völkerrechtler des WD darauf hin, dass bei strittigen Fragen dieser Art, also ob eine prozedurale Frage vorliegt oder nicht, eine Mehrheitsentscheidung nach Art. 27 Absatz 3 der VN-Charta herbeigeführt werden müsse, also erneut das (russische) Vetorecht greife und damit sei „der Weg rechtlich verbaut, einen Ausschluss Russlands aus dem Sicherheitsrat unter Rückgriff auf dessen vorläufige Geschäftsordnung voranzutreiben“.
Die Fachjuristen des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages kommen in ihrem Fazit zu der klaren Einschätzung, dass ein Ausschluss Russlands aus dem Sicherheitsrat völkerrechtlich nicht tragfähig und politisch nicht praktikabel sei. Abschließend betonen sie nochmals:
„Keiner der aufgezeigten Wege, den Ausschluss Russlands aus dem Sicherheitsrat oder den VN zu betreiben, erweist sich derzeit rechtlich oder politisch als durchführbar.“
Dass vor diesem Hintergrund überhaupt ein Ausschluss Russlands aus den Vereinten Nationen von der Ukraine gefordert wird, unterstützt von bekannten angloamerikanischen Völkerrechtlern und auch hochrangigen Politikern in den USA und der EU, siehe etwa die entsprechende Forderung des EU-Ratspräsidenten Charles Michel im Dezember 2022 vor der UN-Generalversammlung, spricht Bände über das instrumentelle Verhältnis dieser Vertreter zum Völkerrecht und bezeugt deutlich den rein propagandistischen Charakter dieser Forderung. Insbesondere die Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas schauen kopfschüttelnd auf diese Debatte und die darin zum Ausdruck kommende Doppelmoral. Sei es der Vietnamkrieg mit Millionen toten Zivilisten, sei es der herbeigelogene Irakkrieg 2003, sei es das völkerrechtswidrige Totalembargo der USA gegen Kuba, welches seit über 60 Jahren die Bevölkerung eines ganzen Landes in Geiselhaft für das beleidigte Ego des „Imperiums“ nimmt, nichts davon hat je dazu geführt, dass so eine ähnliche Debatte über den Verbleib der USA in den VN initiiert wurde.
Angefordert hatte das völkerrechtliche Gutachten beim Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages zum Thema „Ausschluss Russlands aus dem Sicherheitsrat“ der Sprecher für Außenpolitik der AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag, Petr Bystron.
Titelbild: Screenshot von Sachstand des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages: „Ausschluss Russlands aus dem Sicherheitsrat“