Wenn Sie diesen Text lesen, sind Sie wahrscheinlich ein „Friedensschwurbler“, „Vulgärpazifist“, „Rechts- oder Linksnationalist“, „Putin-Fan“, „Russland-Romantiker“, „Illiberaler“, „Propagandaopfer“, „Verschwörungstheoretiker“ oder „schlicht realitätsavers“, „selbstbesoffen“ und „egoistisch“. So tituliert zumindest der SPIEGEL-Kolumnist Sascha Lobo diejenigen, die sich Verhandlungen und Frieden für die Ukraine wünschen. Gut möglich, dass er noch eine persönliche Rechnung mit der EMMA-Herausgeberin Alice Schwarzer offen hat, deren Blatt ihm ein wenig schmeichelhaftes, aber auf den Punkt getroffenes Portrait spendiert hat. Auf Lobo ernsthaft einzugehen, wäre vergebene Liebesmüh’. Er ist nicht satisfaktionsfähig und die NachDenkSeiten sind nicht Twitter. Lobos peinliche Logorrhoe war jedoch nur der Höhepunkt der gestrigen SPIEGEL-Berichterstattung. Von Jens Berger.
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Der Tag begann mit einem neuen SPIEGEL-Podcast. Juan Moreno (hatte der nicht irgendwas mit Claas Relotius zu tun?) hat dort ein neues Format bekommen. Sein erster Gast – oh Wunder: Das (un)diplomatische enfant terrible Andrij Melnyk. Was der zu sagen hatte, kann ich Ihnen leider nicht berichten, aber man kennt ja Melnyks Inhalte („Waffen, Waffen, Waffen, Deutsche sind feige Arschlöcher“) und muss dafür nicht 31 Minuten seiner Lebenszeit verschwenden.
Aber die Auswahl des Gesprächspartners Melnyk hat beim SPIEGEL durchaus System. Man muss sich nur die Gesprächspartner und Stichwortgeber in den gestrigen Artikeln anschauen – Klitschko, Selenskyj, ukrainische Ärzte und ukrainische Menschenrechtler. Der Ukrainekrieg ist beim SPIEGEL die Bühne für Ukrainer, ihre Position einseitig darzustellen. Flankiert werden sie dabei von deutschen Stimmen, die natürlich ebenfalls sorgfältig ausgewählt sind und sich von einem Andrij Melnyk höchstens durch ihre Kinderstube, aber nicht durch ihre Positionen unterscheiden. Man lässt Joachim Gauck zu Wort kommen, findet einen Völkerrechtler, der Wladimir Putin vor ein Sondertribunal stellen will und lässt deutsche Minister „ihre Geschichte“ vom Beginn der russischen Invasion erzählen. Nordkoreanische Nachrichtenmagazine sind sicher regierungsferner und kritischer.
Bemerkenswert war gestern einmal mehr das sehr selektive Interesse für die Linkspartei. Da wird groß über den Austritt von Steffen Bockhahn und seine Gründe berichtet – hat sich der SPIEGEL jemals über Bockhahns politischen Inhalte abseits seiner Kampagnen gegen den linken Flügel seiner Partei interessiert? Da kam dem SPIEGEL die alberne Ankündigung der Berliner Linken natürlich wie gerufen, statt auf der Kundgebung von Schwarzer und Wagenknecht lieber vor der russischen Botschaft zu demonstrieren – und sogar die Antifa wird dabei mit dem denkwürdigen Satz „Die Mobilisierung (der rassistischen und queerfeindlichen Initiator*innen) Wagenknecht und Schwarzer am nächsten Samstag kann kein Standpunkt einer linken Friedensbewegung sein“ zitiert. Auch die Antifa interessiert den SPIEGEL freilich nur, wenn sie sich mal wieder im Sinne des Mainstreams gegen Kritiker der herrschenden Politik engagiert. Das ist alles nur noch erbärmlich.
Das SPIEGEL-Thema „Linkspartei“
Wer glaubt, die totale Meinungsmache sei nicht möglich, sollte sich nur einen Tag lang die im Minutentakt eintrudelnden „Schlagzeilen“ von SPIEGEL Online anschauen. Sie ist nicht nur möglich, sondern sie findet statt.
Die folgenden Screenshots vermitteln dazu einen Eindruck. Alle 17 Artikel sind an einem einzigen Tag erschienen und selbst sie sind nur ein Teil der unaufhörlich auf die Leser einprasselnden Meinungsmache …
Titelbild: Screenshot SPIEGEL.de