Ein erster Kommentar zur Koalitionsvereinbarung – Wo bleibt das Positive?
So könnte vielleicht manch einer fragen, wenn ich jetzt den Versuch einer ersten Bewertung der Koalitionsvereinbarung und der Pressekonferenz der Koalitionspartner mache. Ich will vorweg sagen, dass ich nicht erwartet habe, dass in den Koalitionsgesprächen eine schonungslose Analyse der Wirkungen oder der Erfolge der bisherigen „Reformpolitik“ und dass am Agenda-Kurs Korrekturen vorgenommen worden wären oder gar ein Kurswechsel eingeleitet worden wäre. Der wirtschaftspolitische Kurs der Großen Koalition bleibt in seiner Grundausrichtung genauso falsch wie unter der früheren rot-grünen Regierung und er kann nicht wesentlich mehr Erfolge für einen wirtschaftlichen Aufschwung bringen, die Umverteilung von unten nach oben nicht umkehren.
Auch der Marsch in die Privatisierung der sozialen Sicherungssysteme wird weitergehen. Die gesetzliche Rente wird sich von einer angemessenen Altersvorsorge in eine minimale Grundsicherung wandeln, dazu sind die von der Koalition beschlossenen Nullrunden, die ja de facto (schon durch die Inflationsverluste) eine Rentenkürzung von rund 10% bedeuten ein weiterer verhängnisvoller Schritt.
Aber lassen wir einmal diese grundsätzliche Kritik beiseite und messen die Koalitionspartner an ihren eigenen Ankündigungen: „Sanieren, investieren, reformieren“
Obwohl mir seit Beginn der Koalitionsverhandlungen das Fanal zum wirtschaftlichen Aufbruch fehlte, obwohl die Sprüche wie „Heulen und Zähneklappern“ alles andere als ermunternd wirkten, wollte ich mit einem freundlichen Teilkommentar beginnen und das Positive suchen. So problematisch die Mehrwertsteuererhöhung ist, sie auf den Januar 2007 zu verschieben und so einen Kaufanreiz für das Jahr 2006 zu schaffen, und das Ganze mit einem 25-Milliarden-Investitionsprogramm zu zieren, das wollte ich eigentlich positiv vermerken. Hier wird immerhin sichtbar, dass man ein bisschen merkt: es kommt darauf an, aus dem tiefen Tal der Binnenmarktkonjunktur herauszukommen. Die Terminierung auf den Januar 2007 könnte man als Zeichen handwerklicher Professionalität werten. Aber dann habe ich mir die Bundespressekonferenz mit Angela Merkel, Franz Müntefering, Edmund Stoiber und Matthias Platzeck angeschaut, und es hat mir die Sprache verschlagen. Und bei vielem anderen beim genaueren Hinsehen auch:
- Wenn man wirklich Mut machen und das Vertrauen in die eigene Kraft stärken will, dann darf man doch nicht schon von Anfang an weiter verunsichern und jammern, die finanzielle Lage des Staates sei prekär (Stoiber) und der Haushalt 2006 sei „nicht verfassungskonform“. Wie kann eine neu startende Regierung eine solch defätistische Parole ausgeben? Das ist höchst unprofessionell. Zumal das ja gar nicht stimmt. Die Bundesregierung müsste nur erklären, was die Wahrheit ist, nämlich dass es ein gesamtwirtschaftliches Ungleichgewicht gibt. Dann wäre auch eine Neuverschuldung oberhalb des Prozentsatzes für die Investitionen verfassungskonform. So geht sie mit dem selbstkasteienden Etikett des Verfassungsbruchs an die Arbeit.
- Wenn man sich dann auch das 25-Milliarden-„Investitions“-Programm genauer anschaut, dann merkt man schnell, wie windig das ist. Zum einen hat es zur Realisierung lange Fristen, zum andern sind darin Ausgaben enthalten, die man beim besten Willen nicht in ein Investitionsprogramm umdeuten kann – so wird das Elterngeld bis 1800 € und nach Einkommen gestaffelt zum Investitionsprogramm gerechnet. Eine Groteske. Grotesk ist dieser sozialdemokratische Programmpunkt auch deshalb, weil gut Verdienende besser wegkommen als schlecht Verdienende.
- Aus meiner Sicht reichen die expansiven Impulse, die man vorsieht, bei weitem nicht aus, um das Jahr 2006 zum Jahr des großen Aufschwungs zu machen, mit dem man dann im Jahr 2007 schon mit Mehrwertsteuererhöhung und anderen Sparmaßnahmen konsolidieren will. Selbst wenn ein hohes Wachstum von über 4% erreicht würde, reicht das angesichts der Unterauslastung der industriellen Kapazitäten (knapp über 80%) und der hohen Arbeitslosigkeit bei weitem nicht aus, um schon im Jahre 2007 in eine so harte Konsolidierungsphase eintreten zu können, um das Maastricht-Kriterien von 3% einzuhalten, was Frau Merkel definitiv und explizit angekündigt hat. Wahnsinn, so etwas zu tun. Angesichts solcher Versprechungen beginnt schon spätestens Mitte nächsten Jahres die Debatte darum, dass das Ziel trotz allem nicht erreicht wird und dass man jetzt neue Sanierungs- und Sparmaßnahmen ergreifen müsse, und schon wieder ist das Pflänzchen Konjunktur kaputt. Da ist der Vertrauensverlust jetzt schon programmiert.
- Immerhin, das bleibt positiv anzumerken, die künftige Kanzlerin hat gesagt: auch in Zeiten der Globalisierung könne die Politik gestalten. Das ist ein Fortschritt gegenüber den „objektiven“ Zwängen, von denen Schröder immer redete, wenn er seine „Reformen“ oktroyierte.
- Dass die Koalition wichtige Bereiche ausgespart hat, finde ich nicht so schlimm. Im Gegenteil. Wenn die neue Regierung sich um so mehr auf das Anschieben der Wirtschaft konzentrieren würde, statt weiter und immer wieder weiter zu reformieren, dann wäre das ja akzeptabel und sogar gut.
- Etwas verwirrend scheint die Wahl des Mottos der kommenden Regierung zu sein. Offenbar hat man sich nicht darauf verständigt, was die Parole sein soll. Frau Merkel sprach vom Dreiklang: Sanieren, Reformieren, Investieren. Herr Müntefering sprach von Mut und Menschlichkeit. Stoiber meinte, Mut und Menschlichkeit sei okay, aber dazu müsse kommen: Sanieren, Reformieren, Investieren.
- Frau Merkel sprach von einem gemeinsamen Wertegerüst. Mit mehr als mit „sozialer Marktwirtschaft“ hat sie dieses Wertegerüst aber nicht definiert – und da sich auf die soziale Marktwirtschaft selbst die Marktradikalen berufen, sagt diese Formel gar nichts mehr aus. Da sind wir gespannt auf die Regierungserklärung.
- Vor allem Frau Merkel und Herr Stoiber haben permanent vom Mittelstand geredet, den man besonders fördern wolle. Wie das bei einer 3%igen Mehrwertsteuererhöhung geschehen soll, ist mir etwas unklar. Denn die Mehrwertsteuererhöhung trifft ja gerade nicht die florierende Exportindustrie (sie zahlt für die Exporte keine MWSt), sondern gerade die auf den Binnenmarkt angewiesenen mittelständischen Unternehmen. Eine Erhöhung der Mehrwertsteuer bedeutet zudem eine Verschärfung der Tendenz zur Schwarzarbeit, die ja nicht so besonders im Interesse des Handwerks liegen dürfte und auch nicht durch die sonstigen Erleichterungen wie zum Beispiel die Wiedereinführung der degressiven Abschreibung ausgeglichen sein dürfte.
- In diesem Zusammenhang hat Edmund Stoiber etwas Bemerkenswertes gesagt. Dem Sinne nach etwa: Wir haben in der Vergangenheit die Investitionsbedingungen der großen Unternehmen durch die Steuerreform verbessert. Bravo. Dass dies so sei, dass wir eine ganze Strecke von Steuerreformen hinter uns haben und die Unternehmen bei uns im Vergleich zu anderen Ländern nur noch wenig belastet sind, sagen wir und andere schon lange. Bisher haben die neuen Koalitionspartner wie auch die FDP immer das Gegenteil behauptet und zum Beispiel in einem großen „Koalitionsversuch“ vom 17. März ein weiteres unsinniges Steuersenkungspaket beschlossen, das dann aber hängen blieb. Teile dieses Pakets sind möglicherweise jetzt wieder in der Koalitionsabrede enthalten.
- Franz Müntefering hat übrigens wieder behauptet, Bundeskanzler Schröder habe in seiner Zeit mit den Reformen begonnen. Man muss langsam befürchten, dass der künftige Vizekanzler das wirklich glaubt. Richtig ist jedoch: Schon die Regierung Kohl hat permanent “reformiert“. Die Sozialdemokraten nannten das früher Sozialabbau. Das einzige, was Schröder begonnen hat, war, dass er auch seine Partei, die Sozialdemokratie, zu einem Kurswechsel hin zu einer neoliberalen Wirtschafts- und Sozialpolitik gezwungen hat und damit dieses Dogma zur herrschenden Lehre gemacht hat. Die Vermögenssteuer wurde zu Kohls Zeiten gestrichen, genauso wie die Gewerbekapitalsteuer und eine Fülle anderer Steuersenkungen zu Gunsten der Wirtschaft.
- Die Reichensteuer ist eine ziemlich freche Irreführung der sozialdemokratischen Klientel. Das klingt ja so kämpferisch, wie das Reden über die „Heuschrecken“. Wenn man sich das Kleingedruckte anschaut (und freundlich gestimmt ist), dann kann man nur milde lächeln: bei einem Einkommen von 250.000 € und 500.000 bei Verheirateten steigt der Steuersatz um 3%, und die gewerblichen Gewinneinkommen sind obendrein ausgenommen. 500.000 ! € – um zu begreifen, wie hoch die Grenze liegt, bei der die zusätzliche Steuerbelastung stattfindet, muss ich den Betrag in DM umrechnen: fast eine Million. Maximale Einnahmen etwas über eine Millarde gegenüber 24 Milliarden bei der Mehrwertsteuer, die alle zahlen müssen. Na ja, schon in der Kaiserzeit galt: „Salzsteuer bringt mehr als Sektsteuer“.
- Von Interesse für eine Bewertung dieses Koalitionsvertrages ist auch die Antwort auf die Frage, was nicht vereinbart worden und offenbar auch nicht beabsichtigt ist:
- Das Ehegattensplitting wird nicht angetastet, obwohl diesen Vorteil der verheirateten Spitzenverdiener zu kappen nun wirklich an der Tagesordnung wäre.
- Die zum 1.1.2002 eingeführte Befreiung von der Besteuerung der Gewinne beim Verkauf von Unternehmen und Unternehmensteilen wird nicht zurückgenommen. Das Gerede von den „Heuschrecken“ bleibt folgenloses Backenaufblasen.
- Es gibt keine neue Vermögensteuer und auch keine sonstige zusätzliche Belastung der großen Vermögen. Der Appell von vermögenden Personen zur Erhöhung der Steuern auf Vermögen, der uns in den letzten Tagen erreichte, bleibt ungehört. Es gibt auch keine höhere Besteuerung des leistungslos ererbten Großvermögens.
- Die große Koalition macht nicht den Versuch, das Vertrauen der vielen betroffenen Arbeitnehmer in die Arbeitslosenversicherung als einer Versicherung, die sie im Notfall auffängt, wieder herzustellen. Dies wäre wirklich nötig gewesen, um jenen vielen Menschen zwischen 40 und 60, die schon Jahrzehnte in diese Versicherung einbezahlt haben, etwas von der Angst weg zu nehmen, in die man sie mit Hartz IV versetzt hat – nämlich in einem Jahr vom Normalverdiener in die Bedürftigkeit zu fallen.
- Ich vermisse wirksame Maßnahmen zur Stabilisierung der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung: Das Minimum wäre die Streichung der Subventionen für die 400-Euro-Jobs, für die 1-Euro-Jobs und der Subventionen für die Riester-Rente sowie die Übernahme der versicherungsfremden Leistungen bei Kranken- und Rentenversicherung. (Siehe dazu auch das Minderheitenvotum des Sachverständigen Peter Bofinger auf Seite 216ff. des Gutachtens und unser Eintrag im Kritischen Tagebuch vom 9.11.)
- Ich vermisse eine Ermunterung zu besseren Lohnabschlüssen mit Lohnsteigerungen im Rahmen der Produktivität plus zu erwartender Preissteigerungsrate.
- Ich erkenne nicht den wichtigen Versuch, die Macht einiger weniger Medienkonzerne zu beschränken und so etwas zur Wiederherstellung pluraler Meinungsbildung zu tun Das wäre etwas gewesen, was nur eine Große Koalition leisten könnte. Natürlich wird man auch überhaupt nichts tun, um der Kommerzialisierung und der Ausbreitung von Gewalt über die Medien einen Riegel vorzuschieben, sie jedenfalls zurückzudrängen.