Dass sogar Anton Hofreiter und Annalena Baerbock Forderungen der Ukraine nach neuen Waffen kritisch kommentieren, hat Seltenheitswert. Doch die Forderung nach Streubomben, die am Wochenende auf der Münchner Sicherheitskonferenz vom ukrainischen Regierungsvize Kubrakow vorgetragen wurde, können selbst die Hardliner der Grünen verständlicherweise nicht öffentlich erörtern, gehört Deutschland doch zu den Staaten, die die Streubomben-Konvention unterzeichnet und sich damit völkerrechtlich verpflichtet haben, diese Waffen zu ächten. Doch so überraschend, wie allseits berichtet wurde, kam Kubrakows Forderung keinesfalls. Die Ukraine setzt schließlich seit 2014 diese geächteten Waffen im Krieg gegen die Separatisten und später gegen die russische Armee ein. Der internationale Protest blieb aus. Und offenbar liefert zumindest die Türkei als NATO-Staat auch bereits Streubomben an die Ukraine, die aktuell im Krieg eingesetzt werden. Wo bleibt der Aufschrei der angeblich so ums Völkerrecht besorgten Grünen-Politiker? Von Jens Berger.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download
Die internationale Ächtung von Streumunition ist eine vergleichsweise junge Entwicklung. Das Osloer Übereinkommen zur Ächtung von Streubomben trat erst am 1. August 2010 in Kraft und wurde bislang von 111 Staaten ratifiziert. Deutschland und Spanien gehören dazu. Die USA, Russland, die Ukraine, die Türkei und Estland gehören nicht dazu. All diese Länder spielen eine Rolle bei der aktuellen Debatte um den Einsatz von Streubomben im Ukraine-Krieg.
Noch bis in die 1990er wurde Streumunition in vielen Staaten der NATO und des ehemaligen Warschauer Pakts produziert. Sowohl Russland als auch die Ukraine verfügen über Lagerbestände dieser Munition aus alten Sowjetzeiten. Dass die Ukraine und die Separatisten bereits 2014 im Bürgerkrieg in der Ostukraine diese völkerrechtlich geächtete Munition eingesetzt haben, ist bekannt und wurde damals auch scharf kritisiert. Die UNO zeigte sich alarmiert, forderte Untersuchungen und am Ende verurteilten 32 Staaten (darunter viele EU-Staaten, aber nicht Deutschland) den Einsatz dieser Waffen in der Ukraine. Es blieb jedoch bei dieser moralischen Empörung, die keine praktischen Folgen für die Ukraine hatte.
Seit Beginn der Invasion der Ukraine durch russische Truppen im letzten Jahr wurde abermals von beiden Seiten Streumunition eingesetzt. Diesmal konnten sich jedoch weder die UNO und schon gar nicht die westlichen Staaten zu einer klaren Verurteilung beider Seiten durchringen. Dies ist sicher auch dem ukrainischen PR-Geschick zu verdanken. Am 2. März letzten Jahres gehörte die Ukraine zu den 140 Staaten, die einer UN-Resolution zustimmten, in der alle Konfliktparteien aufgefordert wurden, ihren Verpflichtungen aus dem humanitären Völkerrecht in vollem Umfang nachzukommen, und in der alle diesbezüglichen Verstöße verurteilt werden. Und dennoch setzte auch die Ukraine in der Folge immer wieder Streumunition ein.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, woher die Ukraine diese Waffen hat. Wie groß das eigene Lager aus alten Sowjetbeständen ist, vermag niemand mit Sicherheit zu sagen. Es schwebt zudem der Verdacht im Raum, dass die Ukraine längst inoffiziell aus dem Westen mit diesen völkerrechtlich geächteten Waffen beliefert wird. So sorgte im Dezember ein Video für Aufregung, das westlichen Militärexperten zufolge den Einsatz spanischer Streumunition vom Typ MAT-120 seitens der Ukraine im Kampf um Bachmut zeigt. Dieser Vorgang ist ein echtes Politikum, da Spanien – anders als die Ukraine – zu den Unterzeichnern der Streubomben-Konvention gehört und ein Export dieses Waffentyps in die Ukraine ein klarer Verstoß gegen das Völkerrecht wäre. Woher die Ukraine diese Waffen hat, ist unbekannt. Fest steht jedoch, dass neben Spanien auch die libysche Armee über größere Bestände dieses Munitionstyps verfügte. Gut möglich, dass diese Bestände nun über Umwege in die Ukraine gekommen sind.
Es ist jedoch nicht nur spanische Streumunition, die seitens der Ukraine im Krieg eingesetzt wird. Hierzulande von den Medien völlig ignoriert wurde eine investigative Recherche des sicherlich nicht als „prorussisch“ geltenden US-Fachblatts Foreign Policy. Dem Bericht zufolge hatte die Ukraine sich mit dem Wunsch nach Streubomben bereits im letzten Herbst an die US-Regierung gewandt. Auch wenn die USA selbst die Streubomben-Konvention nicht ratifiziert haben, so verbieten es amerikanische Gesetze jedoch, diese Waffen zu exportieren. Kurz nach der „Abfuhr“ aus Washington fanden die Ukrainer jedoch offenbar ein anderes NATO-Mitglied, das hilfsbereiter war – die Türkei. Seit November liefern die Türken – Foreign Policy zufolge – die völkerrechtlich geächtete Munition an die Ukraine. Es ist unwahrscheinlich, dass dies gegen den Willen der USA geschieht. Diese Lösung ist jedoch so sauber, wie ein dreckiger Deal nur sein kann. Die Türkei gehört nämlich nicht zu den Staaten, die die Streubomben-Konvention unterzeichnet haben und die „Duldung“ eines türkisch-ukrainischen Waffenhandels verstößt auch nicht gegen US-Gesetz.
Neben der Türkei gibt es jedoch noch ein weiteres NATO-Mitglied, das gerne Streubomben an die Ukraine liefern würde und dieser Fall ist auch ein deutsches Politikum. Das „europäische Land“, das laut AFP der US-Regierung seine Bereitschaft zur Lieferung von Streubomben an die Ukraine angezeigt hat, ist Estland. Darüber hatten vor wenigen Wochen estnische Medien berichtet. Offizielle Stellen haben dies auch bereits bestätigt und auch Estland gehört zu den Staaten, die die Streubomben-Konvention nicht unterzeichnet haben. Die Sache hat jedoch einen pikanten Haken: Die estnischen Streubomben, die nun in die Ukraine geliefert werden sollen, wurden in den 1990ern in Deutschland hergestellt und Estland braucht für den Export eine Genehmigung der deutschen Regierung. Ein entsprechendes Ersuchen liegt Berlin offenbar bereits vor.
Die ganze Debatte um die Lieferung von Streumunition an die Ukraine ist also alles andere als die „Schnapsidee“, als die sie – wenn überhaupt – an diesem Wochenende von deutschen Medien dargestellt wurde. Diese völkerrechtlich geächtete Munition wird bereits von NATO-Staaten geliefert und in Berlin liegen sehr konkrete Anfragen für Exportgenehmigungen vor. Bislang hat die Bundesregierung – teilweise nach längerem Lavieren – der Ukraine noch jeden Waffenwunsch erfüllt. So auch diesmal? Das wäre – allen scheinempörten Statements zum Trotz – nicht überraschend.
Die ganze Debatte ist mittlerweile an Heuchelei kaum zu übertreffen. Der Begriff „völkerrechtswidriger Angriffskrieg Putins“ scheint bei fast jedem Journalisten bereits als Tastaturkürzel in den Makros abgespeichert zu sein und ist fester Terminus in jeder Debatte zum Thema. Wenn es jedoch um die – von Deutschland ratifizierte – Ächtung von Streubomben geht, scheint das Völkerrecht plötzlich nicht mehr als eine gutgemeinte, aber nicht unbedingt obligatorische Empfehlung zu sein.
Titelbild: John Wreford/shutterstock.com