Genau am 80. Jahrestag von Joseph Goebbels’ Sportpalastrede vom „totalen Krieg“ forderte Eva Illouz in einem „Zeit“-Gastkommentar vom Wochenende einen „totalen Sieg“ der Ukraine. Ist das ein geschichtsvergessener „Ausrutscher“? Oder ein skandalöser historischer Bezug mit Vorsatz? Beides wäre sehr fragwürdig. Bezüglich Russland schreibt die Professorin für Soziologie an der Hebräischen Universität in Jerusalem, eine „vernichtende Niederlage“ könne dem Land helfen, „aus seiner diktatorischen Geschichte herauszufinden“. Solche Artikel zeigen einmal mehr: Weite Teile der deutschen Medienlandschaft sind voll auf Kriegskurs und es gibt keine Roten Linien bei der Propaganda mehr. Ein Kommentar von Tobias Riegel.
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Die Wochenzeitung „Die Zeit“ hat am Wochenende verschiedene Gastkommentare zum Ukrainekrieg veröffentlicht. Neben Eva Illouz kamen dabei Marci Shore und Ivan Krăstev und Alexander Kluge zu Wort (alle Artikel befinden sich hinter der Bezahlschranke). Gastkommentare spiegeln nicht automatisch die Meinung der Redaktion – aber es ist eine redaktionelle Entscheidung, einen Gastkommentar zu bestellen und zu veröffentlichen.
Ein „totaler und vernichtender Sieg für die Ukraine“
Illouz schreibt unter dem Titel „Ich wünsche mir einen totalen Sieg“ zu Friedensverhandlungen:
„‚Verhandlungen’ ist ein Wort, das wir zu schätzen gelernt haben, es hat einen beruhigenden Klang, doch sollten wir ihm im Zusammenhang mit Kriegen misstrauen: Verhandlungen sind oft nichts anderes als eine Berechnung der eigenen Verluste im Verhältnis zur Macht des Kriegsgegners, keine Bereitschaft zum Frieden.“
Im folgenden Absatz spricht sie sich für einen „einen totalen und vernichtenden Sieg für die Ukraine“ aus und behauptet:
„Welches Ende wünsche ich mir, und welches fürchte ich? Ich wünsche mir einen totalen und vernichtenden Sieg für die Ukraine, und zwar aus mehreren Gründen: Unter Putin wird Russland nicht verhandeln. Seine Worte könnten bloßes Machogehabe sein, doch hat er mehrfach angedeutet, dass er einen totalen (das heißt atomaren) Krieg jeder Verhandlungslösung vorzieht. Ich wünsche mir einen totalen und vernichtenden Sieg für die Ukraine, weil die Russen täglich Verbrechen gegen die Menschlichkeit verüben, die nicht ungesühnt bleiben dürfen. Nicht zuletzt wünsche ich mir, dass Russland vernichtend geschlagen wird, weil Putin die ideellen Werte Europas bedroht.“
Auch historisch nimmt es Illouz mit den Fakten nicht so genau – schließlich geht es darum, einen „totalen Sieg“ anzupreisen. Dass der Ukrainekrieg bereits seit 2014 andauert, ist eigentlich eine Position Russlands, aber unter ganz anderen Vorzeichen als bei Illouz:
„Er (der Ukrainekrieg) begann spätestens 2014, als sich Demonstranten im Zuge des Euromaidan gegen eine antieuropäische Politik zur Wehr setzten. Auf die Revolution folgte 2014 die Annexion der Krim durch Russland. Womöglich begann der Krieg aber auch früher, 1932/33, als Stalin in der Ukraine eine Hungersnot von solchem Ausmaß anrichtete, dass sie einem Völkermord gleichkam.“
Vorsatz oder Versehen?
Ist dieser Artikel und seine Veröffentlichung am 80. Jahrestag von Goebbels’ Rede im Sportpalast eine gezielte Provokation oder ein Versehen? Soll mit einer vorsätzlichen Anspielung auf Goebbels’ Formel vom „totalen Krieg“ eine Art der Schock-Propaganda betrieben werden? Oder ist der Artikel und die zeitliche Parallele zum Sportpalast „nur“ ein Beispiel der Geschichtsvergessenheit? Beides wäre inakzeptabel.