Am 16. Februar 2023 fand eine Veranstaltung der Eurasien-Gesellschaft mit dem renommierten Politikwissenschaftler und jahrelangen Kommentator der SiKo, Prof. Dr. Christian Hacke, unter Leitung des bekannten Osteuropaexperten Prof. Alexander Rahr in Berlin statt. Hacke, eigentlich bekennender Transatlantiker, kam die letzten Monate zunehmend in Kritik, weil er die westliche Eskalationspolitik in Bezug auf Russland hinterfragte. Die Eurasien-Gesellschaft ist eine recht junge Diskussions- und Forschungsorganisation. Ihr Anspruch ist es, Außen-, Sicherheits- und geopolitische Debatten zu führen und künftig Analysen zu erarbeiten, die woanders nicht mehr geführt und erarbeitet werden. Von Alexander Neu.
Das Selbstverständnis der Eurasien-Gesellschaft lautet:
„Wir bringen Menschen zusammen, die sich für friedliche Koexistenz und kooperative Beziehungen der Länder Eurasiens einsetzen. Wir analysieren und diskutieren über Entwicklungen in Europa, China, Russland, Zentralasien, Kaukasus, Indien, Iran und Pakistan, setzen uns für politische, wirtschaftliche und zivilgesellschaftliche Kontakte und kulturellen Austausch zwischen diesen Ländern ein, interessieren uns für den interreligiösen Dialog.“
Mit diesem Selbstverständnis hebt sich die Eurasien-Gesellschaft von anderen Denkfabriken und Diskussionsforen in Deutschland ab, da Eurasien nicht durch die transatlantische Brille gesehen werden soll, sondern durch die europäische und asiatische Brille. Der absolut dominierende westzentrierte Blick auf die Welt und auf den Doppelkontinent Eurasien spiegelt die geopolitischen Mächteverschiebungen nicht nur nicht wider, sondern begünstigt sogar eine umfassende Fehlperzeption der sich tatsächlich verschiebenden globalen Machtverhältnisse.
War es der Westen geradezu gewohnt, dass dieser die Strukturen und die Ausrichtung der Weltpolitik alleinig (unipolare Weltordnung) bestimmt, ja geradezu diktiert, so hat sich in den letzten 10 bis 15 Jahren eine langsame, aber mit wachsender Geschwindigkeit Veränderung aufgetan, die sich nun in Russlands Krieg gegen die Ukraine und im Stellvertreterkrieg zwischen Russland und dem Westen manifestiert. Nicht zuletzt die dezidierte Weigerung von Staaten und ganzen Kontinenten des globalen Südens, den westlichen Forderungen, sich den Sanktionen gegen Russland anzuschließen, offenbart das Ende der unipolaren Epoche. Brasiliens neu gewählter Präsident Luiz Lula da Silva verweigert trotz Bitten des Bundeskanzlers Olaf Scholz Waffen- und Munitionslieferungen an die Ukraine und betont, die Ukraine sei ebenfalls schuld an dem Krieg.
Statt Waffenlieferungen kündigt Lula Bemühungen um die Gründung eines „Friedensclubs“ an. Nicht anders Chinas Ankündigung kürzlich auf der Münchner Sicherheitskonferenz, eine Friedensinitiative vorzulegen, womit dem Westen eine Friedensunwilligkeit und -unfähigkeit unterstellt wird. Das NATO-Mitglied Türkei verweigert ähnlich wie der EU-Aspirant Serbien sowie die Mehrheit des globalen Südens die Verhängung von Sanktionen gegen Russland. In Südafrika handelte sich Scholz mit seinen Forderungen, Südafrika müsse sich den Sanktionen anschließen, ebenso wie in Brasilien eine Abfuhr erster Klasse ein. Der Iran liefert offensichtlich sogar Waffensysteme nach Russland etc. Auch Indien beteiligt sich nicht an den Sanktionen, sondern hat scheinbar ein neues Geschäftsmodell entdeckt: Aufkauf von verbilligtem russischen Öl, das es dann zu Treibstoffen aufbereitet und an den Westen teurer verkauft.
Obschon in der UN-Generalversammlung über 140 Mitgliedsstaaten den russischen Krieg gegen die Ukraine verurteilen, verweigert die Mehrheit der UNO-Mitgliedsstaaten die Verhängung von Sanktionen.
Es wird deutlich, dass sich eine neue Gruppe von Staaten in gewisser Anlehnung an die Organisation der „Bewegung der Blockfreien Staaten“ auftut, die wohl global gesehen die Staatenmehrheit darstellt, die sich weder vom Westen noch von Russland in dem Ukraine-Krieg bzw. in dem Stellvertreterkrieg vereinnahmen lassen will, sondern selbstbewusst jeweilige nationale Interessen verfolgt.
Für manche westliche politische Vertreter und die sie treibenden Medien stellt dies eine schockartige und schmerzhafte neue Situation dar. Für politische Analytiker indessen, die ihre Aufmerksamkeit über den transatlantischen Tellerrand bemühten, war diese Entwicklung absehbar. Und dennoch fahren westliche Staatschefs in Länder des globalen Südens und versuchen immer noch mit alten Kolonialattitüden die Länder auf Linie zu bringen, was jedoch zum Scheitern verurteilt sein wird und im Gegenteil den Emanzipationsprozess vertiefen und beschleunigen dürfte.
Und hier setzt die Eurasien-Gesellschaft an, indem sie die sich herausentwickelnde multipolare Welt als eine unverrückbare Realität wahrnimmt und in ihren Diskussionen und Analysen vor allem auf die größte und bevölkerungsreichste Landmasse, nämlich den Doppelkontinent Eurasien, fokussiert.
Dabei sollen die Debatten durchaus kontrovers geführt werden. Ein Meinungskorridor, wie er derzeit in Politik, Medien, Gesellschaft und Wissenschaft zu beobachten ist, wird abgelehnt, da dieser dem Erkenntnisgewinn abträglich wäre. Faktenbasierte Wissenschaft, statt wissenschaftsnihilistische Political Correctness – das soll die Richtschnur sein.
Die oben genannte Veranstaltung mit dem Politikwissenschaftler Prof. Chr. Hacke, einem überzeugten Transatlantiker, führte zu einer sehr interessanten Debatte. Das lag auch daran, dass der Gast, obschon Transatlantiker, seine Urteilsfähigkeit nicht dem politischen Zeitgeist der Political Correctness opfert, sondern analytisch die anstehende Münchner Sicherheitskonferenz, die er jahrelang für den Sender Phönix kommentierte, erheblich kritisierte. Die Kritik bezog sich auf die größte US-Delegation seit 20 Jahren und deren Zusammensetzung, die Nichteinladung Russlands, den damit einhergehenden, zunehmend einengenden Geist der Konferenz und der geradezu zu erwartenden Beschwörung des notwendigen Zusammenhalts der westlichen Welt gegen das Böse.
Prof. Chr. Hacke war für die Eurasien-Gesellschaft schon aufgrund seiner nicht stromlinienförmigen Positionierungen von Interesse. So warnte Hacke in der Sendung Maischberger, mit massiven Waffenlieferungen wachse die Gefahr eines Nuklearkrieges. Eine eigentlich banale Feststellung führte zu harter medialer Kritik. Der Merkur, aber auch andere Medien kommentierten diese Aussage wie folgt:
„Dass er sich damit genau in der Argumentationslinie Putins befindet, scheint den Professor nicht zu stören.“
Prof. Hacke wurde auf diese Weise eine eigene Analyse- und Urteilsfähigkeit abgesprochen – mehr noch, er wurde als Verlautbarungsorgan Putins diffamiert. So eindimensional, unterkomplex, verstörend, ja geradezu verkommen ist das Diskussionsklima in Deutschland mittlerweile.
Wie wichtig und wie gewünscht eine offene und kontroverse, jedoch nicht moralisch anklagende und diffamierende Debatte ist, offenbarte die anschließende Diskussion in der Eurasien-Gesellschaft. Es wurde mitunter strittig diskutiert. Manche Äußerungen von Prof. Hacke wurden wohlwollend zur Kenntnis genommen, wie beispielsweise die Feststellung, demnach die fortgesetzte NATO-Osterweiterung die grundlegende Ursache für den Krieg Russlands sei. Andere Äußerungen, wie die in seinen Augen bestehende Notwendigkeit der Beschaffung von Atomwaffen für Deutschland, um in der Welt ein eigenes Gewicht darstellen zu können, wurden eher mit Ablehnung und Skepsis betrachtet.
Aber genau diese Art der Diskussion, diese kontroverse Atmosphäre ohne Häme und moralischem Damoklesschwert, scheint bislang zu fehlen. Die Sitzplätze waren bis zum letzten Platz besetzt.
Transparenzanmerkung der Redaktion: Der NachDenkSeiten-Gastautor Alexander Neu ist Mitglied der Eurasien-Gesellschaft