Vom Schein und Sein deutscher Schulreformen. Von Dr. Heinz Klippert
Vorbemerkung: Dr. Heinz Klippert ist Ökonom und Erziehungswissenschaftler. Sein Name ist eng mit der Entwicklung neuer Unterrichtsmethoden und mit dem Training dieser Methoden verbunden. Er war als Dozent am Erziehungswissenschaftlichen Fort- und Weiterbildungsinstitut der Evangelischen Kirche in der Pfalz tätig. An der praktischen Umsetzung und Weiterentwicklung seiner Arbeiten war die Mitbegründerin der NachDenkSeiten, Anke Bering-Müller beteiligt – damals hauptberuflich Leiterin des Trifels-Gymnasiums in Annweiler. Albrecht Müller.
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Hier der Text von Heinz Klippert:
Die Klagen über den Zustand des deutschen Schulwesens sind vielfältig: Es mangelt an Geld und überzeugenden Bildungspolitikern, aber auch und besonders daran, dass die vielbeschworene Modernisierung und Effektivierung des Schulunterrichts seit Jahrzehnten kaum vorankommt. Derzeit fehlen nicht nur zigtausende Lehr- und Förderkräfte, um die bestehenden Differenzierungs- und Förderbedarfe abdecken zu können. Zu beklagen sind u.a. auch gravierende Lese-, Schreib- und Rechenschwächen bei Viertklässlern, ernüchternde PISA-Ergebnisse, marode Schulgebäude, Schulhöfe und Sportstätten, miserable digitale Ausstattungen an vielen Schulen, lähmende Lehrerbelastungen, anhaltende Dominanz des lehrerzentrierten Unterrichts, dürftige Inklusionserfolge, anachronistische Arbeitsbedingungen für Lehrer/innen und Schulleiter/innen, kleinkarierter Bildungsföderalismus, fatale Selektionsprozesse im gegliederten Schulwesen, Benachteiligung von Kindern aus bildungsfernen Milieus etc.
Während für andere Brennpunkte (Aufrüstung, Bankenrettung, Corona, Energieversorgung etc.) in jüngster Zeit im Handumdrehen Hunderte von Milliarden Euro locker gemacht werden, darbt der Bildungsbereich in erschreckender Weise vor sich hin. Das belegt u.a. eine Studie der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KFW), der zufolge der „Investitionsstau“ im Bildungsbereich im Jahr 2018 bei knapp 50 Milliarden Euro lag – Tendenz steigend. Das heißt: Notwendige Modernisierungsmaßnahmen unterbleiben, werden abgespeckt oder auf die lange Bank geschoben. Zwar fehlt es nicht an imposanten Reformplänen und immer neuen Programmen, Zielen, Richtlinien und Modellversuchen. Doch deren praxiswirksame Realisierung fällt meist dürftig aus. Vieles glüht kurz auf, verblasst und erlischt aber schon bald wieder. Dieser „Glühwürmchen-Effekt“ ist deshalb alarmierend, weil Deutschland als führende „High-Tech-Nation“ hochgradig darauf angewiesen ist, dass das Schulwesen nachhaltig modernisiert und effektiviert wird. Das gilt sowohl für die Mobilisierung der vorhandenen Begabungsreserven als auch für das Erreichen zukunftssichernder Schulabschlüsse, Schülerkompetenzen und Integrationserfolge.
Doch realiter gelingt das eher selten. Schuld daran ist u.a. ein höchst unzulängliches Innovationsmanagement von Bund und Ländern. Viele Reformprogramme werden zwar toll designt, bleiben für die Akteure in den Schulen häufig aber viel zu abstrakt, aufwändig, unverbindlich, kurzatmig und alltagsfern. Zurück bleiben daher nur zu oft irritierte, frustrierte, überforderte oder in anderer Weise desillusionierte Lehrkräfte und Schulleitungen, deren Reformelan sich spätestens dann verliert, wenn die Machbarkeit und staatliche Unterstützung ausbleiben. Das gilt für die Umsetzung der diversen Curriculum-Reformen seit Ende der 1960er-Jahre genauso wie für die Implementierung neuer Lehr- und Lernmethoden, die Forcierung des digitalen Lernens, den Auf- und Ausbau integrativer bzw. inklusiver Schulen, die Umsetzung der neuen Bildungspläne und Bildungsstandards, den Umgang mit heterogenen Lerngruppen und schwierigen Schüler/innen, die Überwindung des Frontalunterrichts und des bestehenden Selektionsdrangs vieler Bildungsverantwortlicher oder das geforderte Engagement für mehr Schulautonomie, Entbürokratisierung, Lehrerkooperation und selbstverantwortliche Schulgestaltung.
Diese und andere Reformansätze sind mehr oder weniger schillernde „Glühwürmchen“ geblieben und haben in den letzten sechs Jahrzehnten nur selten jenes Stadium erreicht, in dem die betroffenen „Praktiker“ die angesagten Neuerungen so beherrschen, dass tragfähige, alltagstaugliche Handlungs-, Kooperations-, Planungs- und Entscheidungsroutinen entstehen, die eine dauerhaft verlässliche Umsetzungsarbeit gewährleisten. Um den Aufbau dieser operativen Routinen hat sich die Reformpolitik in der Vergangenheit viel zu wenig gekümmert. Stattdessen richtete sie ihr Hauptaugenmerk auf das Ankündigen immer neuer Reformmaßnahmen, um damit die eigene politische Wachheit und Tatkraft zu demonstrieren. Ob diese Vorhaben dann auch umgesetzt wurden, war eine ganz andere Frage. Diese sprunghafte, sporadische und kurzzyklische Symbolpolitik ist nicht nur unverbindlich und wenig nachhaltig. Sie wirkt auf viele Reformakteure in den Schulen und Schulverwaltungen auch eher abschreckend.
Vor diesem Hintergrund wird klar, dass nachhaltige Schul- und Unterrichtsreformen nicht nur mehr Geld, Personal und sonstiges modernes Equipment brauchen, sondern auch und vor allem ein griffigeres Innovationsmanagement von Bund, Ländern, Kommunen und Einzelschulen. Dazu gehört sowohl die Elementarisierung der nötigen Qualifizierungs- und Innovationsschritte auf den verschiedensten Ebenen als auch das Sicherstellen der erforderlichen Ressourcen, Netzpläne, Fortbildungsangebote und Unterstützungsleistungen von oben und außen, damit die anstehende Reformarbeit im besten Sinne des Wortes machbar und reizvoll wird und für die Umsetzungsverantwortlichen Hand und Fuß bekommt. Das impliziert nicht zuletzt das planvolle Qualifizieren und Bereitstellen erfahrener Innovationsexperten, die den zuständigen Reformakteuren in den Schulen, Lehrerbildungseinrichtungen und Schulbehörden mit Rat und Tat zur Seite stehen und bewährtes und entlastungsförderndes Know-how bereitstellen. Dieser Innovationsservice ist eine wichtige Voraussetzung für Reformerfolge.
Doch nicht nur das. Erforderlich ist zudem eine zeitgemäße Priorisierung bestimmter Reformvorhaben für mindestens drei Jahre, damit sich die betroffenen Reformakteure nicht über Gebühr verzetteln. Weniger ist mehr! Dieser Grundsatz gilt auch für die Schul- und Unterrichtsentwicklung. Daher empfiehlt sich eine periodische Schwerpunktsetzung im einen oder anderen Reformfeld – angefangen z.B. beim konkreten Aufbau einer neuen Lehr- und Lernkultur mit den Schwerpunkten selbstständiges Lernen fördern, digitales Lernen, gemeinsames Lernen und Lehrerkooperation über die Neuausrichtung der Lehrerbildung und den verstärkten Aufbau von Gesamt-, Inklusions- und Ganztagsschulen bis hin zur Verbesserung der unterrichtlichen Rahmenbedingungen, (Klassengröße, Lehrerversorgung, Lehrerarbeitszeit, Räumlichkeiten, Lehr- und Lernmittel etc.), der Schulleiterqualifizierung, des schulinternen Innovationsmanagements sowie der Zusammenarbeit der Bildungsträger auf kommunaler Ebene.
Überall bedarf es neuer Akzente und Anstrengungen, wenn die schulische Lehr- und Lernkultur nachhaltiger als bisher modernisiert werden soll. Das betrifft sowohl die Schulleitungen, Lehrerkollegien, Schulaufsichtsbehörden und Lehrerbildungseinrichtungen als auch die Regie führenden Bildungspolitiker/innen und Planungsinstanzen, deren Weichenstellungen und Unterstützungsleistungen maßgeblich darüber entscheiden, ob eine angesagte Schulreform gelingt oder nicht. Hier ist nach allen Erfahrungen noch viel Luft nach oben. Brauchen doch wirksame Schul- und Unterrichtsreformen vor allem eines: Ein möglichst stringentes, praxisnahes, langfristig angelegtes und Mut machendes Innovationsmanagement – einschließlich differenzierter Unterstützungsleistungen der staatlichen Instanzen. Andernfalls wird nachhaltige Schul- und Unterrichtsentwicklung noch lange ein uneingelöstes Versprechen bleiben (vgl. die Befunde, Anregungen und Quellen im angeführten Buch).
Buchhinweis: Die gelähmte Bildungsrepublik. Plädoyer für eine veränderte Reformpolitik. Beltz-Verlag Weinheim. Hardcover. B 5-Format. 272 Seiten. 38 Euro.