Die Schlacht um Stalingrad 1942-1943: Historischer Kontext und Bedeutung

Die Schlacht um Stalingrad 1942-1943: Historischer Kontext und Bedeutung

Die Schlacht um Stalingrad 1942-1943: Historischer Kontext und Bedeutung

Ein Artikel von: Redaktion

Der Krieg gegen die Sowjetunion war von den Industriellen, Bankiers, Großgrundbesitzern und weiteren Mitgliedern der deutschen Oberschicht, der „Elite“ des Landes, gewollt. Das war wohl der entscheidende Grund, warum sie die Machtergreifung Hitlers ermöglicht hatten, eines Politikers, von dem weithin bekannt war, dass er die Zerstörung der Sowjetunion als die große Aufgabe betrachtete, die ihm von der Vorsehung anvertraut worden war. Hitlers so genannte „Machtergreifung“ war eigentlich eine „Machtübertragung“, und diese Machtübertragung wurde logischerweise von denjenigen in Gang gesetzt, die in der Armee, der Justiz, der Staatsbürokratie, im diplomatischen Dienst usw., hinter der demokratischen Fassade der Weimarer Republik, die Macht ausübten, nämlich der Oberschicht. Von Jacques R. Pauwels, aus dem Englischen von Heiner Biewer.

Um den von Hitler geplanten großen Krieg zu gewinnen, musste Deutschland als hochindustrialisiertes Land ohne Kolonien, und daher arm an strategischen Rohstoffen, ihn jedoch schnell gewinnen – bevor die importierten Vorräte von Kautschuk und vor allem Erdöl aufgebraucht waren, die Deutschland vor Beginn des Konflikts angelegt hatte. Diese Reserven stammten zum großen Teil aus US-Importen und konnten nicht in ausreichendem Maße durch synthetischen Treibstoff und Kautschuk aus heimischer Produktion (auf der Basis von Kohle) bzw. durch Erdöllieferungen aus befreundeten oder neutralen Ländern wie Rumänien und – nach dem Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 – der Sowjetunion aufgefüllt werden. Vor diesem Hintergrund entwickelten die Nazis die Strategie des Blitzkriegs: synchronisierte Angriffe mit einer großen Zahl von Panzern, Flugzeugen und Lastwagen (für den Transport von Infanterieeinheiten), um die Verteidigungslinien zu durchbrechen, hinter denen sich der Großteil der gegnerischen Streitkräfte in der Regel im Stil des Ersten Weltkriegs verschanzt hatte, um diese Kräfte dann einzukesseln, so dass ihnen nur die Wahl zwischen Vernichtung oder Kapitulation blieb.

In den Jahren 1939 und 1940 funktionierte diese Strategie perfekt: Der Blitzkrieg führte zum „Blitzsieg“ gegen Polen, Holland, Belgien und – auf spektakuläre Weise – gegen die vermeintliche militärische Großmacht Frankreich. Als sich Nazi-Deutschland im Frühjahr 1941 anschickte, die Sowjetunion anzugreifen, rechneten alle – nicht nur Hitler und seine Generäle, sondern auch die Heerführer in London und Washington – mit einem ähnlichen Szenario: Die Rote Armee würde von der Wehrmacht innerhalb von höchstens zwei Monaten vernichtet werden. Hitler und seine Generäle verachteten die Sowjetunion als einen „Riesen auf tönernen Füßen“, dessen Armee, vermeintlich durch Stalins Säuberungen in den dreißiger Jahren ihrer Köpfe beraubt, nicht mehr als „ein Witz“ war, wie es Hitler selbst einmal ausdrückte. Am Vorabend des Angriffs fühlte sich Hitler äußerst zuversichtlich: Er wähnte sich „am Rande des größten Triumphes seines Lebens“.

Vom Ostkrieg[1], ihrem „Blitzkrieg“ im Osten, an der später so genannten „Ostfront“, versprachen sich Hitler und seine Generäle weit mehr als von ihren bisherigen Blitzfeldzügen. Die Vorräte an Treibstoff und Kautschuk waren bereits geschrumpft, nachdem sich die spritfressenden Flugzeuge und Panzer auf den Weg gemacht hatten, um Europa von Polen über Norwegen bis nach Frankreich zu erobern; im Frühjahr 1941 erlaubten die Vorräte an Treibstoff, Reifen, Ersatzteilen usw. die Führung eines motorisierten Krieges nur noch für einige Monate. Dieser Mangel konnte nicht durch Importe aus der Sowjetunion im Rahmen des Ribbentrop-Molotow-Pakts vom August 1939 ausgeglichen werden, wie einige Historiker behaupten. Nach einer akribischen Studie des kanadischen Geschichtsprofessors Brock Millman, die im Journal of Contemporary History veröffentlicht wurde, stammten lediglich vier Prozent des deutschen Treibstoffs aus der Sowjetunion. In den Jahren 1940 und 1941 war Deutschland vor allem von Erdölimporten aus zwei Ländern abhängig: aus Rumänien, einem zunächst neutralen Land, das aber ab November 1940 mit Nazi-Deutschland verbündet war; und aus den USA, deren Ölbarone das Hitler-Regime über neutrale Länder wie das Spanien Francos und das besetzte Frankreich mit enormen Mengen des „flüssigen Goldes“ versorgten: diese Exporte sollten bis zum Kriegseintritt der Vereinigten Staaten im Dezember 1941 anhalten. Die vergleichsweise bescheidenen Einfuhren sowjetischen Erdöls beunruhigten Hitler zutiefst, denn gemäß des Paktes von 1939 musste Deutschland hochwertige Industrieprodukte und modernste Militärtechnik liefern, die von den Sowjets zur Verstärkung ihrer Verteidigung gegen den von ihnen früher oder später erwarteten deutschen Angriff verwendet wurden[2].

Hitler glaubte dieses Dilemma durch einen Angriff auf die Sowjetunion lösen zu können, und dies so schnell wie möglich, auch wenn das unbeugsame Großbritannien noch nicht besiegt war: Der „Blitzsieg“, den man voller Zuversicht im Osten erwartete, sollte Deutschland die reichen Ölfelder des Kaukasus bescheren, wo die spritfressenden Panzer und Stukas in Zukunft jederzeit ihre Tanks bis zum Rand befüllen könnten. Deutschland wäre dann ein wahrhaft unbesiegbares Über-Reich, das auch lange Kriege gegen jeden Gegner gewinnen könnte. So lautete der Plan mit dem Codenamen „Barbarossa“, dessen Umsetzung am 22. Juni 1941 begann; aber es lief nicht so, wie es sich die Strategen in Berlin vorgestellt hatten.

Die Rote Armee, zunächst schwer angeschlagen, bündelte ihre Kräfte nicht an der Grenze, sondern sie entschied sich für eine Verteidigung in der Tiefe; durch einen relativ geordneten Rückzug konnte sie einer Vernichtung in einer oder mehreren der großen Kesselschlachten entgehen, von denen Hitler und seine Generäle geträumt hatten. Es ist diese „Verteidigung in der Tiefe“, die die Wehrmacht daran hinderte, die Rote Armee zu vernichten, wie Marschall Schukow[3] in seinen Memoiren betont hat. Die Deutschen rückten vor, aber immer langsamer und unter großen Verlusten. Ende September, zwei Monate nach Beginn von Barbarossa, als der Sieg eigentlich schon feststehen sollte und die deutschen Soldaten auf dem Weg nach Hause sein sollten, um als siegreiche Helden empfangen zu werden, waren sie noch weit von Moskau und noch weiter von den kaukasischen Ölfeldern entfernt, einem der Hauptziele Hitlers in seinem Ostkrieg. Und schon bald sollten der Schlamm, der Schnee und die Kälte des Herbstes und des frühen Winters neue Schwierigkeiten für die Truppen mit sich bringen, die noch nie unter solchen Bedingungen kämpfen mussten.

In der Zwischenzeit hatte sich die Rote Armee von den anfänglichen Schlägen erholt und startete am 5. Dezember 1941 eine verheerende Gegenoffensive vor Moskau. Die Streitkräfte der Nazis wurden zurückgedrängt und mussten sich auf Verteidigungspositionen zurückziehen. Nur unter großer Mühe gelang es ihnen, die Offensive der Roten Armee aufzuhalten und den Winter 1941-1942 zu überstehen. Am Abend jenes schicksalhaften 5. Dezembers 1941 meldeten die Generäle des Oberkommandos der Wehrmacht Hitler, dass Deutschland aufgrund des Scheiterns der Blitzkriegsstrategie nicht mehr darauf hoffen könne, den Krieg zu gewinnen. Die Schlacht um Moskau läutete das Scheitern der Blitzkriegsstrategie gegen die Sowjetunion ein. Die politischen und militärischen Machthaber Nazideutschlands erhofften sich von einem „Blitzsieg“ an der Ostfront im Jahr 1941, dass dieser eine Niederlage Deutschlands im gesamten Krieg verhindern würde, und das wäre ziemlich sicher der Fall gewesen. Man kann wohl davon ausgehen, dass Deutschland nach einem Sieg der Nazis gegen die Sowjetunion 1941 noch heute der Hegemon in Europa und möglicherweise auch im Nahen Osten und Nordafrika wäre. Doch im Dezember 1941 erlitt Nazideutschland vor Moskau die Niederlage, die einen deutschen Gesamtsieg unmöglich machte, und zwar nicht nur den Sieg gegen die Sowjetunion selbst, sondern auch den Sieg gegen Großbritannien und den Sieg im Krieg insgesamt. Mit anderen Worten: Der 5. Dezember 1941 war der eigentliche Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs. Es sei darauf hingewiesen, dass die Vereinigten Staaten zu diesem Zeitpunkt – wenige Tage vor Pearl Harbor – noch nicht in den Krieg gegen Deutschland verwickelt waren. Dies war vielmehr eine Folge der Schlacht um Moskau.

Kurz nachdem Hitler die schlechte Nachricht aus Russland erhalten hatte, erfuhr er, dass die Japaner am 7. Dezember Pearl Harbor angegriffen hatten und dass die Amerikaner Japan, aber nicht Deutschland, das mit diesem Angriff nichts zu tun hatte, den Krieg erklärten. Doch Hitler erklärte seinerseits den Vereinigten Staaten am 11. Dezember den Krieg. Das Bündnis mit Japan zwang ihn nicht dazu, wie einige Historiker behaupten, denn es verlangte lediglich, einem Partner zu Hilfe zu kommen, der von einem dritten Land angegriffen wurde; das Land der aufgehenden Sonne wurde jedoch nicht angegriffen, sondern hatte die Feindseligkeiten selbst eingeleitet. Hitler hoffte zweifellos, dass Tokio diese dramatische Solidaritätsgeste gegenüber seinem japanischen Partner erwidern und dem eigenen Todfeind, der Sowjetunion, den Krieg erklären würde. Dann hätte die Rote Armee einen Zweifrontenkrieg führen müssen, was die deutschen Aussichten auf einen Sieg im gigantischen Ostkrieg wiederbelebt hätte. Doch Japan schluckte den Köder nicht und Nazideutschland hatte nun einen weiteren gewaltigen Feind, auch wenn es noch lange dauern sollte, bis die amerikanischen Streitkräfte tatsächlich gegen die Nazi-Truppen antraten.

Die Schlacht um Moskau war zweifellos der Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs, aber außer Hitler und seinen Generälen wusste kaum jemand, dass Deutschland von nun an dazu verurteilt war, den Krieg zu verlieren. Die breite Öffentlichkeit war sich dessen gewiss nicht bewusst, nicht in Deutschland, nicht in den besetzten Ländern, nicht in Großbritannien und erst recht nicht in den USA. Es sah so aus, als hätte die Wehrmacht einen vorübergehenden Rückschlag erlitten, vermutlich – so die Nazi-Propaganda – wegen des unerwartet frühen Wintereinbruchs; aber sie hatte sich immer noch tief auf sowjetischem Gebiet verschanzt und besetzte weiterhin einen großen Teil des Landes. Es wurde daher erwartet, dass die Deutschen 1942 ihre Offensive wieder aufnehmen würden, was sie auch taten.

Im Frühjahr 1942 sammelte Hitler alle verfügbaren Kräfte für die Offensive mit dem Codenamen „Unternehmen Blau“ in Richtung der Ölfelder des Kaukasus. Er war überzeugt, dass er noch eine Chance hatte, den Krieg zu gewinnen, aber sicher nicht, „wenn er nicht das Petroleum von Maikop und Grosny bekommt“. Das Überraschungsmoment war jedoch verloren gegangen und die Sowjets verfügten immer noch über riesige Mengen an Männern, Öl und anderen Ressourcen. Die Wehrmacht hingegen konnte die enormen Verluste, die sie 1941 bei ihrem „Kreuzzug“ in der Sowjetunion erlitten hatte, nicht kompensieren: 6.000 Flugzeuge und mehr als 3.200 Panzer und ähnliche Fahrzeuge sowie mehr als 900.000 Gefallene, Verwundete und Vermisste, fast ein Drittel der durchschnittlichen Stärke der deutschen Streitkräfte.

Die für einen Vorstoß auf die Ölfelder des Kaukasus zur Verfügung stehenden Kräfte waren daher äußerst begrenzt und reichten, wie sich herausstellte, nicht aus, um das Ziel der Offensive zu erreichen. Unter diesen Umständen ist es bemerkenswert, dass die Deutschen 1942 so weit vordringen konnten. Doch als ihre Offensive im September desselben Jahres unweigerlich ins Stocken geriet, waren ihre schwach besetzten Linien über viele Hunderte von Kilometern ausgedehnt und boten ein perfektes Ziel für einen sowjetischen Gegenangriff. Vor diesem Hintergrund wurde eine ganze deutsche Armee in Stalingrad eingeschlossen und schließlich vernichtet, in einer gigantischen Schlacht, die im Herbst 1942 begann und Anfang Februar 1943, also vor genau achtzig Jahren, endete. Nach diesem aufsehenerregenden Sieg der Roten Armee war die Unausweichlichkeit der deutschen Niederlage im Zweiten Weltkrieg für alle offensichtlich. Aus diesem Grund – aber auch wegen der langen Dauer der Schlacht, der enormen Zahl der beteiligten Truppen und der beispiellosen Verluste auf beiden Seiten – betrachten die meisten Historiker diese Schlacht und nicht die Schlacht um Moskau als den Wendepunkt des weltweiten Konflikts von 1939 bis 1945. Aus rein militärischer Sicht muss anerkannt werden, dass die Schlacht um Moskau im September 1941 bereits dazu führte, dass der größte Teil der deutschen Streitkräfte an der rund 4.000 Kilometer langen Ostfront gebunden war und dass die Deutschen dort den größten Teil ihrer mageren Erdöl- und Kautschukressourcen einsetzen mussten.

Diese Lage verhinderte neue deutsche militärische Initiativen gegen die Briten, und sie machte es unmöglich, Rommel in Nordafrika mit genügend Männern, Ausrüstung und Treibstoff zu versorgen, um seine Niederlage bei El Alamein im Herbst 1942 zu vermeiden. Es ist jedoch offensichtlich, dass das Fiasko von Stalingrad die klägliche militärische Lage des Reiches unendlich verschlimmerte und es unmöglich machte, eine ausreichende Anzahl von Truppen an der europäischen Atlantikküste zu stationieren, um einer anglo-amerikanischen Invasion zu begegnen, die früher oder später mit Sicherheit eintreten würde. Im Juni 1944, zur Zeit der Landung in der Normandie, hatten die Westalliierten erhebliche Schwierigkeiten, obwohl sie nur mit einem kleinen Teil der Wehrmacht konfrontiert waren, während die einst so gefürchtete deutsche Luftwaffe wegen eines gravierenden Treibstoffmangels praktisch nicht mehr über den Stränden zu sehen war. Ohne die Erfolge der Roten Armee, zunächst vor Moskau und dann bei Stalingrad, hätte die gesamte Wehrmacht für den Kampf an der Westfront zur Verfügung gestanden und die Luftwaffe hätte über unerschöpfliche Mengen an kaukasischem Erdöl verfügt. Eine anglo-amerikanische Landung in der Normandie wäre „mission impossible“ gewesen.

In jedem Fall waren die Auswirkungen der Schlacht von Stalingrad massiv. Der deutschen Öffentlichkeit wurde von nun an schmerzlich bewusst, dass ihr Land auf eine schmachvolle Niederlage zusteuerte, und zahllose seiner Unterstützer wandten sich nun gegen das NS-Regime; viele, wenn nicht die meisten der militärischen und zivilen Führer, die an dem Attentat auf Hitler im Juli 1944 beteiligt waren und heute als Helden und Märtyrer des deutschen Widerstandes gegen die Nazis gefeiert werden, wie z.B. Stauffenberg und Goerdeler, mögen zwar mutige Menschen gewesen sein, aber sie hatten Hitler zur Zeit seiner Triumphe, d.h. vor der Niederlage bei Stalingrad, enthusiastisch unterstützt.

Wenn sie nach der Schlacht von Stalingrad Hitler loswerden wollten, dann weil sie befürchteten, dass er sie mit in den Untergang reißen würde. Das Bewusstsein über die Bedeutung der deutschen Niederlage an der Wolga demoralisierte auch die Verbündeten Nazideutschlands und veranlasste sie, nach Auswegen aus dem Krieg zu suchen. Die neutralen Länder, von denen viele bis dahin mit Nazideutschland sympathisiert hatten, vor allem weil ihre Herrscher Hitlers Antisowjetismus teilten, zeigten sich nun gegenüber den Mitgliedern der „Anti-Hitler-Koalition“ und vor allem gegenüber den „Anglo-Amerikanern“ deutlich wohlwollender. Franco tat zum Beispiel so, als würde er die alliierten Flieger nicht bemerken, die nach dem Abschuss ihrer Flugzeuge über den besetzten Gebieten mit der Hilfe von Widerstandskämpfern die Pyrenäen von Frankreich nach Spanien überquerten, um auf diesem Weg nach England zurückzukehren.

In Frankreich und in anderen besetzten Ländern begannen die führenden politischen, militärischen, aber auch wirtschaftlichen Kollaborateure, d. h. Bankiers und Industrielle, sich auf diskrete Weise von den Deutschen zu distanzieren. Im Vertrauen auf die wohlwollenden Dienste des Vatikans und des Franco-Regimes suchten sie Kontakt zu den Amerikanern und den Briten, die ihnen Sympathie und Unterstützung entgegenbrachten, da beide Seiten danach strebten, die etablierte kapitalistische sozialökonomische Ordnung zu erhalten (die französische Historikerin Annie Lacroix-Riz hat sich in einigen ihrer gründlich recherchierten und dokumentierten Bücher mit diesem wenig bekannten Aspekt des Krieges befasst). Umgekehrt ließen die Nachrichten aus Stalingrad die Moral der deutschen Feinde überall steigen. Nach vielen langen Jahren der Finsternis, in denen es so aussah, als würde Nazideutschland ganz Europa für immer beherrschen, sahen die Widerstandskämpfer in Frankreich und anderswo endlich das sprichwörtliche Licht am Ende des Tunnels. Und ihre Reihen wurden nun in zunehmendem Maße verstärkt durch viele, die vor der frohen Botschaft aus Stalingrad zu lethargisch gewesen waren. Vor allem in Frankreich wurde der Name Stalingrad zum Schlachtruf des Widerstands. Nach dem großen Sieg der Roten Armee an der Wolga ging in Deutschland das Schreckgespenst einer unvermeidlichen Niederlage um, während in den besetzten Ländern jeder wusste, dass die Stunde der Befreiung nahte – vielleicht langsam, aber sicher.

Wenn wir die Situation nach Stalingrad aus der Sicht von Uncle Sam und seinem britischen (Junior-)Partner betrachten, so besteht kein Zweifel, dass die Aussicht auf eine Niederlage Deutschlands und die Befreiung Frankreichs und des übrigen Europas durch die Rote Armee in den Machtzentralen in London und Washington die Alarmglocken schrillen ließ. Während sich die Nazis und die Sowjets an der Ostfront einen tödlichen Kampf lieferten, hatten sich die westlichen Alliierten damit begnügt, am Rande des Geschehens zu bleiben, ihre Verluste zu minimieren und massiv aufzurüsten. Während die Rote Armee das Kanonenfutter lieferte, das man brauchte, um Deutschland zu besiegen, konnten sie wie ein deus ex machina entscheidend eingreifen, wenn sowohl die Nazi-Feinde als auch der ungeliebte sowjetische Verbündete erschöpft sein würden. Mit Großbritannien als Juniorpartner wären die USA dann in der Lage, die Führungsrolle im Lager der Sieger zu übernehmen und sowohl den Sowjets als auch den Deutschen die Friedensbedingungen zu diktieren. Aus diesem Grund hatten sich Washington und London 1942 geweigert, eine „zweite Front“ durch die Landung von Truppen in Frankreich zu eröffnen. Stattdessen verfolgten sie eine „südliche“ Strategie und schickten im November 1942 eine Armee nach Nordafrika, um die dortigen französischen Kolonien zu besetzen. Durch den Ausgang der Schlacht von Stalingrad hatte sich die Lage dramatisch verändert.

Aus rein militärischer Sicht war Stalingrad natürlich ein Geschenk für die westlichen Alliierten, denn diese Niederlage hatte die Kriegsmaschinerie des Nazi-Feindes auch zu ihrem Vorteil geschädigt. Aber Roosevelt und Churchill waren alles andere als glücklich darüber, dass sich die Rote Armee nun ihren Weg in Richtung Berlin und möglicherweise noch weiter nach Westen bahnte, und dass die Sowjetunion – und ihr sozialistisches sozialökonomisches System – sich nun bei den Patrioten in allen besetzten Ländern sehr großer Beliebtheit erfreute und die Widerstandsbewegungen in Frankreich und anderswo zu Plänen ermutigte, nach der Befreiung ihrer Länder weitreichende, geradezu revolutionäre Veränderungen einzuleiten. Umgekehrt waren die Angelsachsen in Ländern wie Frankreich alles andere als beliebt, zum einen wegen ihres bis dahin geringen Beitrags zum Kampf gegen den Nazismus, zum anderen, weil ihre Luftangriffe auf Städte in Frankreich und anderen besetzten Ländern beträchtliche Opfer unter der Zivilbevölkerung forderten. Wenig hilfreich war zudem, dass Washington seit langem diplomatische Beziehungen zur Kollaborationsregierung von Marschall Pétain in Vichy unterhielt und den Plänen für radikale Veränderungen nach der Befreiung bekanntermaßen ablehnend gegenüberstand. In Anbetracht dieser Umstände wurde nach Ansicht der amerikanischen Historiker Peter N. Carroll und David W. Noble „die Landung von Truppen in Frankreich zur zwingenden Notwendigkeit für die amerikanische und englische Strategie“, um so zu verhindern, dass Westeuropa und der größte Teil Deutschlands „in sowjetische Hände“ oder zumindest unter sowjetischen Einfluss fielen.

Als jedoch Anfang 1943 die Nachricht vom sowjetischen Sieg in Stalingrad bekannt wurde und man sich der Folgen bewusst wurde, war es zu spät, um noch im selben Jahr eine Landung in Frankreich zu planen, und so musste man bis zum Frühjahr 1944 warten.

Die Landung in der Normandie im Juni 1944 war nicht der Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs. Militärisch hatte Nazideutschland bereits in den Schlachten von Moskau und Stalingrad und erneut im Sommer 1943 in der Schlacht von Kursk verheerende Schläge erhalten. Und obwohl die Landungen offiziell die Befreiung Frankreichs und des übrigen Europas zum Ziel hatten, bestand ihre „latente“, d.h. unausgesprochene, aber tatsächliche Funktion darin, die Sowjetunion daran zu hindern, Europa im Alleingang, möglicherweise einschließlich Westeuropa bis zum Ärmelkanal, zu befreien – eine Aussicht, die erstmals durch den Sieg der Roten Armee an der Wolga möglich schien. Die Befreiung Frankreichs – oder eine Besetzung wie durch die Deutschen, wie General de Gaulle das Ergebnis der Landung in der Normandie einmal beschrieb! – sollte auch verhindern, dass die Führer der französischen Résistance, die ebenso wie die einfache Bevölkerung mehrheitlich große Sympathie und Bewunderung für die Sowjets hegten, eine wichtige Rolle beim Wiederaufbau ihres Landes spielen konnten[4].

Washington und London verabscheuten diesen „Philosowjetismus“, der damals von der Mehrheit der Franzosen geteilt wurde. Aber vor allem fürchteten sie, dass diese Patrioten an die Macht kommen und radikale sozialökonomische Reformen durchführen könnten, einschließlich der Verstaatlichung von Unternehmen und Banken, die mit den Nazis kollaboriert hatten (der entscheidende amerikanische Agent in der Schweiz, Allen Dulles, späterer CIA-Chef, warnte regelmäßig vor dieser Gefahr). Um die radikalen Projekte der Résistance zu unterbinden, die mit den amerikanischen Plänen für Frankreich und ganz Europa, nämlich der Einführung eines möglichst ungezügelten Kapitalismus, unvereinbar waren, beschlossen Washington und London nach langem Zögern, sich auf General Charles de Gaulle zu stützen, der insofern eine seltene Ausnahme darstellte, als er ein populärer Widerstandsführer und zugleich Konservativer war. Die Amerikaner hielten ihn für einen nervenden Größenwahnsinnigen, erkannten aber schließlich seine Nützlichkeit und ermöglichten es ihm, im befreiten Frankreich an die Macht zu kommen. Ihre Strategie bestand darin, für de Gaulle einen triumphalen Einzug in Paris zu inszenieren, mit einem recht theatralischen Spaziergang über die Champs Elysées, bei dem andere, wohl ebenso wichtige oder sogar wichtigere Führer der Résistance gezwungen waren, ihm zu folgen. Die Zusammenarbeit mit de Gaulle sollte sich für die Amerikaner jedoch als alles andere als einfach gestalten. So erwies es sich als unmöglich, ihn nach seiner Ernennung zum Regierungschef an der Verabschiedung einiger radikaler Reformen zu hindern, wie sie vom Widerstand und von der Mehrheit des französischen Volkes gewünscht wurden. Ohne ihn wäre jedoch vielleicht die Linke an die Macht gekommen und es hätten weitreichendere, quasi-revolutionäre Veränderungen umgesetzt werden können. Und in diesem Fall hätten die Amerikaner Frankreich nicht in das antisowjetische Bündnis einbinden können, das sie nach der Niederlage Nazideutschlands und im Rahmen des Kalten Krieges in Europa errichten wollten. Die Mitgliedschaft in diesem so genannten Bündnis entsprach einem Vasallenstatus gegenüber Uncle Sam, und das Ziel des Bündnisses erwies sich als dasselbe wie das der Operation Barbarossa, nämlich die Zerstörung der Sowjetunion.

Am Ende des Zweiten Weltkriegs und noch einige Jahre danach war den meisten Bewohnern der westeuropäischen Länder, die Opfer Nazideutschlands geworden waren, vor allem aber Frankreichs, bewusst, dass die Befreiung ihrer Heimat vor allem den Anstrengungen und Opfern der Sowjetunion zu verdanken war, ein Faktum, das spätestens mit dem glorreichen Sieg der Roten Armee in der Schlacht von Stalingrad deutlich geworden war. Es war eine Zeit, in der dieselben Menschen, ganz im Gegensatz zu heute, den Russen und anderen ethnischen Gruppen der Sowjetunion – Ukrainern, Georgiern, Armeniern, Aserbaidschanern, Usbeken usw. – mit großer Dankbarkeit und Wohlwollen begegneten. An diesen fernen und kurzen Augenblick in der Geschichte erinnert noch immer der Name, den man im Juni 1945 einem der größten Plätze in Paris gab: Place de la Bataille-de-Stalingrad, „Platz der Schlacht von Stalingrad“.

Titelbild: Everett Collection/shutterstock.com

Zum Autor: Jacques R. Pauwels ist ein belgischer Historiker, der eine Reihe von Büchern vor allem zum Ersten und Zweiten Weltkrieg veröffentlicht hat. Hierzu zählt u.a. die Trilogie „The Great Class War“ – Der große Klassenkrieg (über den 1. Weltkrieg), „Big Business and Hitler“ – Die Großkonzerne und Hitler – sowie „The Myth of the Good War“ – Der Mythos vom guten Krieg (Letzteres in deutscher Übersetzung erhältlich beim Verlag PapyRossa).


[«1] Der Ausdruck „Ostkrieg“ ist für den Krieg gegen die Sowjetunion bei uns nach meinem Eindruck wenig gebräuchlich. Er wird jedoch von Pauwels im englischen Originaltext exakt so verwendet. Vgl. dazu auch das viel beachtete Buch „Wehrmacht im Ostkrieg“ von Christian Hartmann, Teil des Projekts „Wehrmacht in der NS-Diktatur“.

[«2] Ursachen und Folgen des Hitler-Stalin-Paktes hat Pauwels ausführlich beschrieben, Übersetzung ins Deutsche siehe hier, hier und hier.

[«3] Shukov unterzeichnete am 9. Mai 1945 für die sowjetische Seite die Urkunde über die bedingungslose Kapitulation Deutschlands. Er hat damals gesagt: „Wir haben sie befreit, das werden sie uns nie verzeihen“. Die deutschsprachige Google-Suche nach diesem Zitat lieferte vor einigen Monaten noch Ergebnisse. Am 8.2.2023 finde ich nur noch einen Treffer (in einem Leserkommentar auf einer russischen (!) Domäne, de.topwar.ru). Die englische Wikipedia gibt das Zitat noch wieder.

[«4] Zu den Favoriten der USA zählten andere: „Die ständigen Verbindungen zweier anderer Ikonen des ‚europäischen Gebäudes‘, Robert Schuman – der für die Vollmachten für Philippe Pétain stimmte – und vor allem des geschäftstüchtigen Bankiers Jean Monnet, zu den amerikanischen Interessen werden durch zahlreiche Dokumente belegt. Bereits 1943 erschien Monnet als der Mann, der von Präsident Franklin Delano Roosevelt geschickt wurde, um General Henri Giraud gegen de Gaulle zu unterstützen. Er misstraute dem Willen des Volkes und bekämpfte die Autonomie der Politik gegenüber der Wirtschaft …“. Zitiert aus LMd 6/2019

Die NachDenkSeiten sind für eine kritische Meinungsbildung wichtig, das sagen uns sehr, sehr viele - aber sie kosten auch Geld und deshalb bitten wir Sie, liebe Leser, um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank!