Die Aufarbeitung der unangemessenen Corona-Politik ist unverzichtbar: Eine Wiederholung eines solch irrationalen Vorgehens muss unbedingt verhindert werden. Da ein Totschweigen der Verfehlungen der Verantwortlichen für Panikmache und Corona-Politik nicht gelingt, gab es in den letzten Wochen einige Ansätze für eine „Aufarbeitung“. Diese Art der Verarbeitung muss aber als völlig ungenügend zurückgewiesen werden. Ein Kommentar von Tobias Riegel.
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Zu beobachten sind momentan vor allem folgende Abwehrstrategien der Verantwortlichen für Schulschließungen, einsames Sterben, 2G-Selektion, Panikmache, Dämonisierung der Kritiker der Corona-Politik, Demonstrationsverbote und viele weitere politische, soziale, moralische, medizinische und mediale Verfehlungen: „Wer hätte das denn ahnen können“/„hinterher ist man immer schlauer“, „wir sind doch relativ gut durch die Pandemie gekommen“ oder: „Schuld sind die anderen“. Ganz Hartgesottene treten sogar immer noch die Flucht nach vorn an – etwa der sogenannte „Weltärztepräsident“ Frank Ulrich Montgomery, der seine infame Aussage von der „Tyrannei der Ungeimpften“ kürzlich sogar noch einmal bekräftigt hat.
Die Angst der Verantwortlichen vor der Aufarbeitung und die Tatsache, dass es für eine echte Aufarbeitung keine Instanz mehr gibt, haben wir auf den NachDenkSeiten beschrieben. Die Folgen eines Scheiterns der Analyse der letzten drei Jahre können gravierende und langfristige Beschädigungen für den Zusammenhalt der Gesellschaft sein und die Gefahr einer Wiederholung erhöhen.
„Zeit“: „Da habe ich mich geirrt“
Auf eine Form des Umgangs mit der Corona-Politik soll hier näher eingegangen werden, weil damit der Versuch einer Aufarbeitung simuliert werden soll. Die „Zeit“ hat kürzlich unter dem Titel „Da habe ich mich geirrt“ 25 Zitate von Personen veröffentlicht, die in der Corona-Politik und bei der Panikmache, auf der diese Politik basierte, eine Rolle gespielt haben. Was in der Überschrift jedoch nach Selbstkritik klingt, ist streckenweise eher eine Rechtfertigung.
So schreibt Michael Hallek, Onkologe an der Uni-Klinik Köln und Mitinitiator von „No-Covid“: „Wir – eine Gruppe von Wissenschaftlern und Ärzten – haben Anfang 2021 auf dem Höhepunkt der Pandemie eine Reihe an Vorschlägen unter dem Namen ‚No-Covid-Strategie‘ vorgestellt. Im Rückblick würde ich sagen, dass die Wahl dieses Namens etwas unglücklich war. (…) Heute wird ‚No-Covid’ von manchen gleichgesetzt mit chinesischer Tyrannei. Dabei war unser Vorschlag das Gegenteil. ‚No-Covid’ war eine Öffnungsstrategie!“
Manuela Schwesig, Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, nutzt das bekannte Element des „Dankes“ – für ein erzwungenes Bürgerverhalten: „Ich bin beeindruckt, wie gut die Bürgerinnen und Bürger die harten, vielfach auch bitter notwendigen Einschränkungen mitgetragen haben.“ Dann nutzt sie die eingangs beschriebenen Elemente des „wer hätte das denn ahnen können“ und des „Schuld sind die anderen“: „Ich weiß aber noch, wie unklar die Lage war: Am 12. März 2020, bei der Ministerpräsidentenkonferenz mit der Kanzlerin, schilderte Christian Drosten eindrucksvoll, was Corona anrichten kann.“
„Nicht mit Häme oder Selbstgerechtigkeit auf die Fehler schauen“
Einen besonders dreisten Fall des „Wer hätte es denn ahnen können“ formuliert Sandra Ciesek, Virologin in Frankfurt und neben Christian Drosten Expertin im Podcast „Coronavirus-Update“: „Unterschätzt wurde möglicherweise, dass soziale Folgen von Lockdowns und anderen Maßnahmen ungleich verteilt sind. Ärmere in kleineren Wohnungen haben weniger Möglichkeiten, im Homeoffice zu arbeiten. Heute weiß man, wie unterschiedlich Arm und Reich betroffen sind. Das kann man als lesson learned für kommende Pandemien mitnehmen.“
Interessant sind auch die Positionen der „Modellierer“. So wundert sich Dirk Brockmann, dass die Bürger „stark“ auf Horror-Modellierungen reagiert haben: „Geirrt habe ich mich außerdem in den Menschen: Ich hätte nie gedacht, dass sie so stark auf die Modelle und Debatten reagieren.“ Ja: Wer hätte das denn auch ahnen können? Auch Viola Priesemann möchte wohl für die Reaktionen, die ihre „Modellierungen“ ausgelöst haben, lieber nicht mehr die alleinige Verantwortung tragen: „Mir war es als Modelliererin wichtig, Faktengrundlagen zu liefern – deren politische Bewertung ist nicht meine Aufgabe.“
Die Taktik, die wichtige Forderung nach einer Aufarbeitung der Corona-Politik als „Häme“ oder „Selbstgerechtigkeit“ abzutun, haben wir in diesem Artikel beschrieben. Sie wird etwa genutzt von Karin Prien, Bildungsministerin in Schleswig-Holstein: „Wir sollten heute nicht mit Häme oder Selbstgerechtigkeit auf die Fehler schauen, sondern daraus lernen, damit wir bei der nächsten großen Herausforderung besser reagieren.“ Aber wie sollen wir lernen und eine Wiederholung verhindern, wenn die Verfehlungen nicht eindeutig als solche benannt werden?
Der eiskalte Umgang mit Kindern und Jugendlichen
Ein besonders schwer erträglicher Aspekt der Corona-Politik war der eiskalte Umgang mit Kindern und Jugendlichen, das haben die NachDenkSeiten unter anderem hier oder hier oder hier oder hier oder hier thematisiert. Dieser Umgang wird von vielen Autoren in dem „Zeit“-Beitrag bedauert. Zum Teil aber in inakzeptabler Form. Wie der Ethikrat und seine Vorsitzende Alena Buyx beim Thema Corona nun ihre Hände in Unschuld waschen wollen, haben wir bereits hier beschrieben. Im „Zeit“-Artikel nutzt Buyx beim Thema Umgang mit Kindern nun ebenfalls den „Dank“ für erzwungenes Verhalten: „Wir danken dieser Generation!“ Der Ethikrat habe außerdem „Selbstkritik schon öffentlich geäußert“, Buyx ist überrascht von den Reaktionen darauf: „Einige wenige scheinen ein tiefes Bedürfnis nach Abrechnung mit allen Maßnahmen zu haben, bis hin zu Rachewünschen, was ich etwas bedenklich finde.“
Einschub: Zur ausbleibenden Debatte unter Pädagogen über Schulschließungen und die drangsalierenden „Schutz“-Maßnahmen gegen Heranwachsende kommentiert aktuell treffend die „Berliner Zeitung“:
„Und obwohl dies inzwischen so deutlich sichtbar ist, nehme ich im Schulbereich so gut wie keine Diskussion über die (ausgebliebene) Wirksamkeit der Maßnahmen und damit über ihre Verhältnismäßigkeit wahr. Ich frage mich deshalb, wie uns das alles als Pädagog:innen nur passieren konnte. Warum waren offenbar die meisten von uns über eine sehr lange Zeit absolut überzeugt davon, dass die Maßnahmen absolut erforderlich, bezüglich ihrer Wirkung uneingeschränkt geeignet und damit in Abwägung ihrer möglichen negativen Folgen vollkommen angemessen wären? Die Verhältnismäßigkeit der Anti-Corona-Maßnahmen im Schul- und Bildungsbereich wurde viel zu lange öffentlich gar nicht kritisch hinterfragt. Auch jetzt – fast drei Jahre nach ihrer erstmaligen Verhängung – wird m. E. immer noch viel zu wenig in einer breiten Öffentlichkeit darüber diskutiert. Und gerade deshalb mache ich mir Sorgen, dass es wieder geschehen kann.“
„An“ oder „mit“ Corona?
Janosch Dahmen, gesundheitspolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag, behauptet in dem „Zeit“-Artikel: „Als Gesundheitspolitiker aus einer der regierungtragenden Fraktionen im Bundestag habe ich mich in der Pandemie stets für die individuelle Gesundheit wie auch für den Schutz unseren Gesundheitssystem vor Überlastung eingesetzt.“ Die sozialen, medizinischen und politischen Folgen seines Einsatzes hat Dahmen anscheinend noch nicht reflektiert. Aber er ist betrübt, „angesichts von offensichtlich 90.000 zusätzlich verlorenen Menschenleben im Jahr 2022“.
Dahmens fragwürdige Aussage von den „offensichtlich 90.000“ zusätzlichen Toten weist auf ein absolut zentrales Problem hin, das der Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar anspricht – nämlich das der (meiner Meinung nach vorsätzlich zugelassenen) „Unwissenheit“, die eine rationale Beurteilung etwa der realen Todeszahlen durch (nicht „mit“) Corona unmöglich macht: „Später, ich saß im Corona-Expertenrat der Helmholtz-Gemeinschaft, hätte mich eines noch stutziger machen müssen: wie wenig wir bei den Corona-Toten darüber wussten, wie viele Menschen wirklich an (nicht nur mit) Covid gestorben waren. Im Nachhinein frage ich mich: War die Statistik so unklar, weil Kliniken im einen Fall mehr abrechnen konnten als im anderen?“
„Man wird also erst einer Millionenleserschaft als Feindbild präsentiert und dann um Selbstkritik gebeten“
Als relativ positiv zu erwähnen sind im „Zeit“-Artikel die Beiträge von Armin Laschet oder von Wolfgang Kubicki. Am besten gefallen hat mir der Text von Dietrich Brüggemann, Regisseur und Mitinitiator der Künstleraktion #allesdichtmachen. Hier sind Auszüge:
„Für selbstkritische Rückschau bin ich immer zu haben. Andererseits frage ich mich, ob ich da viel Neues beitragen kann. Wenn ich nämlich nachlese, was ZEIT ONLINE und die ZEIT über die Aktion #allesdichtmachen geschrieben haben, die ich im Frühjahr 2021 mit angestoßen hatte, dann finde ich auf Anhieb zahlreiche Artikel mit Überschriften wie “Alle nicht ganz dicht” oder “Büschn schämen”. Äußerungen von Dritten wie “eklige Ironie” und “bornierter Schrumpfsarkasmus” werden ausführlich zitiert, und schließlich wird uns “Selbsteinweisung zum Wohl des Ganzen” nahegelegt. Da ist doch eigentlich alles gesagt. Zwar nicht von mir, aber mit mir wollte die ZEIT bisher nicht reden. Jetzt will sie doch. Man wird also erst einer Millionenleserschaft als Feindbild präsentiert und dann um Selbstkritik gebeten. Für mein Gefühl fehlt da mindestens ein Schritt.“
Titelbild: Chris Redan / Shutterstock