Achtsam zum Burnout. KMK-Experten wollen Lehrermangel mit noch mehr Mangel beheben

Achtsam zum Burnout. KMK-Experten wollen Lehrermangel mit noch mehr Mangel beheben

Achtsam zum Burnout. KMK-Experten wollen Lehrermangel mit noch mehr Mangel beheben

Ein Artikel von Ralf Wurzbacher

Mehrarbeit, größere Klassen, Hybridunterricht, Reaktivierung von Pensionären. Die „Empfehlungen“ einer Kommission der Landeskultusminister, um dem historischen Engpass bei Pädagogen zu begegnen, sorgen für Entsetzen bei Gewerkschaften und Bildungsverbänden. Das Gremium tischt so ziemlich alle Fehler der Vergangenheit als Rezept für die Zukunft auf. Die Therapie ist krank, macht krank und kann nur nach hinten losgehen. Ein Kommentar von Ralf Wurzbacher.

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Für so eine Leistung setzt es bei Doktor Specht eine Fünf. Ungenügend. Viel zu Papier gebracht zwar, aber null Lösungskompetenz. Was die Kultusministerkonferenz (KMK) gegen den grassierenden und in solchen Ausmaßen nie dagewesenen Lehrermangel an Deutschlands Schulen zu unternehmen gedenkt, ist Widersinn im Quadrat. Die Devise: Alles, was die Misere herbeigeführt hat, soll jetzt aus der Misere führen. Den Irrwitz auf den Punkt brachte Maike Finnern, Bundesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW): „Es droht eine Spirale aus Überlastung durch Lehrkräftemangel und Lehrkräftemangel durch Überlastung“. Dagegen ist Hamsterrad ein Segen, die Rennerei hält wenigstens fit. Lehrer zu sein, heißt dagegen immer häufiger, krank zu sein.

Am zurückliegenden Freitag präsentierte die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK), ein sogenanntes Expertengremium im Dienst der 16 Landeskultusminister, „Empfehlungen“ zum Umgang mit dem akuten Mangel an Pädagogen. Im Vorfeld hatte der Co-Vorsitzende Olaf Köller in der Wochenzeitung Der Freitag die Wichtigkeit betont, nicht nur händeringend nach neuen Lehrern zu suchen, „sondern die im System vorhandenen Lehrkräfte zu stärken“. Das war Augenwischerei. Welche Rezepte gegen die Krise tischte er ein paar Tage später auf? Späterer Ruhestandseintritt, Unterrichtsverpflichtung erhöhen, Teilzeitbeschäftigung beschränken, noch mehr Quer- und Seiteneinsteiger rekrutieren, Pensionäre reaktivieren, Lehramtsstudierende an die Tafel. Und sorgt das alles für noch mehr Stress, schlaflose Nächte und Depressionen, dann sollen „mehr Angebote der Gesundheitsförderung“ Abhilfe schaffen – „Achtsamkeitstrainings“ oder „Meditation, Atem- und Visualisierungsübungen“.

Ausgelaugter Lehrkörper

Ja, so tickt heute die Arbeitswelt. Mensch lässt sich schinden, ausnutzen, ausbeuten und sobald er kaputt ist, stößt sich die Gesundheitswirtschaft an seinem Leid noch gesund. Und wenn das nicht funzt, ist eben ein Leben mehr verhunzt und eine Lehrkraft weniger da. Vergangenen Sommer befragte die Robert Bosch Stiftung im Rahmen des „Deutschen Schulbarometers“ über 1.000 Lehrerinnen und Lehrer zu ihren Sorgen und Nöten. 84 Prozent fühlten sich stark strapaziert, für 79 Prozent war Wochenendarbeit die Regel, 60 Prozent konnten sich in der Freizeit kaum noch erholen. 62 Prozent litten unter körperlicher, 46 Prozent unter mentaler Erschöpfung, ein Drittel unter Schlafstörungen, 25 Prozent unter Kopfschmerzen und sieben Prozent unter Angstzuständen. Nach einer Studie der GEW Sachsen arbeitet ein Drittel der Vollzeitkräfte im Freistaat mehr als 48 Stunden pro Woche, bei 40 bezahlten Stunden. Die langen Ferienzeiten mögen einen Teil der Überlast kompensieren, ein Burnout wartet aber nicht bis zum Urlaub.

Und was „empfiehlt“ die SWK dem ausgelaugten Lehrkörper? „Die Möglichkeit zur Teilzeitarbeit zu begrenzen, die Reduktion auf unter 50 Prozent der Arbeitszeit etwa sollte nur aus besonderen Gründen möglich sein, ebenso sollten Sabbaticals befristet eingeschränkt werden.“ Dass fast die Hälfte der Lehrkräfte in Deutschland mit reduzierter Stundenzahl arbeitet, hat neben familiären Motiven gerade auch damit zu tun, dass das volle Pensum viele körperlich und mental überfordert. Faktisch ist Teilzeit ein Mittel zur Gesunderhaltung. Wer heute Hand anlegt an diese Freiheit, dem flattern morgen noch mehr Krankmeldungen ins Haus.

Aber die SWK setzt noch allerhand Zumutungen obendrauf. So solle die „Möglichkeit einer befristeten Erhöhung der Unterrichtsverpflichtung“ nach dem Modell der „Vorgriffsstunden“ geprüft werden. Dieses besagt eigentlich, dass Mehrleistungen in Zukunft mit reduzierten Stundenkontingenten auszugleichen sind. Jedoch werde der noch lange anhaltende Lehrermangel dies „schwer machen (…), weshalb die finanzielle Abgeltung realistischer zu sein scheint“. Aha! Wer sich krankschuftet, soll wenigstens ein paar Euro mehr erhalten – wie reizend und wirklichkeitsfremd.

Bildungsrepublik Deutschland?

Nicht minder gilt das für den Ratschlag an die Politik, an den Klassengrößen zu schrauben. Demnach wären „zunächst die definierten Obergrenzen auszuschöpfen“. Sobald andere Maßnahmen ausgereizt seien, „darf in der Sekundarstufe I auch eine befristete Erhöhung der maximalen Klassenfrequenz nicht ausgeschlossen werden“. Die Begründung ist nicht ohne Komik: So zeige die Forschung, „dass Effekte der Klassengröße auf die Leistungen der Schülerinnen und Schüler eher gering sind“. Bekannt ist den „Experten“ aber auch: „Lehrkräfte nehmen große Klassen als Belastung wahr.“ Wie löst die SWK den Widerspruch auf? Gar nicht, statt dessen: Mehr Schüler pro Lehrkraft.

Zu fragen ist, wie das neben den Betroffenen bei denen ankommt, die in Zukunft den Schuldienst erledigen sollen. Christian Schmarbeck vom Verband Bildung und Erziehung (VBE) fragt sich das auch: „Es ist geradezu absurd, dass durch Verschlechterungen in den Arbeitsbedingungen erfolgreich für den Lehrerberuf geworben werden soll.“ Tatsächlich rücken aus den Hochschulen seit Jahren viel zu wenige Lehramtsanwärter nach. Das hat auch mit den raren Studienplätzen zu tun, mehr noch aber damit, dass dem Beruf ein schlechter Ruf vorauseilt. Das deutsche Schulsystem ist heruntergewirtschaftet, an der Bausubstanz nagt ein Sanierungsstau von 45 Milliarden Euro und innendrin lauern Probleme im Überfluss: schwererziehbare, lernunwillige, handygeschädigte Kinder, schlechte Ausstattung und Aufgaben, die sich nicht meistern lassen: Inklusion, Ganztagsbetreuung, Förderung sozial benachteiligter Kinder. Alles tolle Reformen, die aber ohne die nötige personelle Unterfütterung zum Scheitern verurteilt sind und das pädagogische Kerngeschäft noch mehr verunmöglichen.

Zum Ausmaß der Engpässe kursieren verschiedene Zahlen. Die KMK rechnet bis 2025 mit rund 25.000 fehlenden Lehrkräften, bis 2030 mit 31.000. Allerdings gehört Beschönigen zum Handwerk der Kultusminister, wodurch das Desaster erst die heutigen Dimensionen annehmen konnte. Wer keinen Notstand sehen will, unternimmt auch nichts dagegen. Seit mindestens zwei Jahrzehnten heißt Bildungspolitik Kürzungspolitik, Angela Merkels (CDU) „Bildungsrepublik Deutschland“ ist nicht mal eine Fata Morgana, selbst bei eitel Sonnenschein glänzt da gar nix. Meldungen über eine riesige Pensionierungswelle gab es schon vor 20 Jahren und nichts passierte: kein Ausbau der Studienkapazitäten, keine Arbeitserleichterungen, keine Aufwertung des Berufs, dafür immer mal wieder üble Kampagnen gegen die „faule und überbezahlte“ Lehrerschaft.

Amateure statt Profis

Vor einer Woche erst hat die rheinland-pfälzische Ampelregierung den Vorstoß der Opposition für eine Höhergruppierung von Grundschullehrern auf die A-13-Besoldungsstufe abgewehrt. Dabei ist der Lehrermangel im Primarbereich mit am dramatischsten. Damit überhaupt noch etwas läuft, werden massenhaft Notnägel ins morsche Gebälk geschlagen – Quer- und Seiteneinsteiger, unfertige Lehramtsstudierende oder wie in Berlin „Lovls: Lehrer ohne volle Lehrbefähigung“. Der Eifer der Betroffenen soll nicht bestritten werden. Aber welcher Deutsche würde sein Auto einem „Mechaniker ohne volle Mechanikerbefähigung“ anvertrauen? Bei unseren Kindern ist das ganz normal. Ein früher sehr ehrbarer Beruf ist zu einer Art Resterampe verkommen. Jeder „Amateur“ mit einem Crashkurs in Pädagogik darf den Job machen und selbst Pensionäre oder wegen Erschöpfung Frühpensionierte werden zurück an die Schulfront beordert. Ausbaden müssen all das die Kinder, die man ihrer Lebenschancen und ihrer Zukunft beraubt.

Ursächlich für das Fiasko ist eine unheilvolle Mischung aus föderaler Fehlplanung und -steuerung und einer Bildungspolitik im Zeichen von Spardiktaten, Entstaatlichung und Privatisierung. Schon viel zu lange bemisst sich der Bedarf an Pädagogen und dem, was eine auskömmliche Unterrichtsversorgung genannt wird, nicht daran, was tatsächlich und gemäß wissenschaftlicher Erkenntnisse zum Besten der Heranwachsenden ist. Vielmehr bog man die Größe entsprechend gesellschaftlicher, politischer und vor allem haushälterischer Notwendigkeiten beliebig zurecht. Realitätsnähere Prognosen als die der KMK haben bis 2025 rund 40.000, bis 2030 circa 85.00 und bis 2035 gar bis zu 156.000 fehlende Lehrkräfte ermittelt.

Detaillierte Vorhersagen liegen laut SWK für Nordrhein-Westfalen vor. Dort werde der Bedarf an Mathematiklehrkräften bis zum Schuljahr 2030/31 noch zu 37,2 Prozent gedeckt werden, in Chemie zu 26 Prozent, in Physik zu 18,1 Prozent und in Informatik zu 4,6 Prozent. Dabei sind Belastungen wie die Aufnahme von mehr als 200.000 ukrainischen Flüchtlingskindern im vergangenen Jahr noch nicht mitberücksichtigt. Immerhin sieht man die Dinge inzwischen klarer: Laut SWK-Einschätzung werde das Problem „aller Voraussicht nach in den kommenden 20 Jahren bestehen bleiben“. Bislang war die KMK von einer Entspannung ab dem Jahr 2035 ausgegangen.

Dequalifizierung, Individualisierung, Privatisierung

Aber was tun, wenn das Kind längst in den Brunnen gefallen ist? Am Lückenstopfen führt kein Weg vorbei. Dann aber gefälligst unter Einsatz von viel Geld, damit die Notreserve mit einem Maximum an pädagogischem und didaktischem Rüstzeug vor die Klasse tritt. Besserung für die fernere Zukunft setzt eine schonungslose Fehleranalyse sowie eine radikale Umkehr hinsichtlich der Frage nach den wahrhaftigen Bedürfnissen von Mensch und Gesellschaft voraus. Die Bildung unserer Kinder verdient beträchtliche Investitionen, die nur durch Mehreinnahmen des Staates zu bewältigen sind: höhere Steuern für Besserverdiener, Unternehmen und Konzerne. Ein „Sondervermögen“ für Kitas, Schulen und Hochschulen leistet allemal mehr für die Lebensfähigkeit eines Gemeinwesens als ein Aufrüstungsprogramm mit „Doppelwumms“.

Leider ist all dies Wunschdenken. Beim aktuellen Zustand der politischen Klasse und den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen wird die nötige Kehrtwende zweifelsfrei nicht erfolgen. Viel eher führt der Weg weiter in Richtung Dequalifizierung, Individualisierung und Privatisierung. Im SWK-Konzeptpapier taucht etwa der Begriff „Selbstregulierungskompetenzen“ bei Schülerinnen und Schülern auf. Erforderlich seien „Formate des Hybridunterrichts“ und „Maßnahmen zur Erhöhung der Selbstlernzeiten“. Hat der Nachwuchs schließlich alles in der Pandemie gelernt – oder auch nicht.

Der Herausgeber des Portals News4Teachers, Andrej Priboschek, denkt noch weiter. „Warum sollten Eltern, die den Massenbetrieb meiden möchten, ihre Kinder nicht zu Hause unterrichten dürfen“, fragte er am Samstag in einem Kommentar und plädierte für die faktische Abschaffung der staatlichen Bildungshoheit zugunsten der freien Wirtschaft. Sein Mantra: „Schlechter als das, was der Staat allein anzubieten hat, kann es nicht werden.“ Ach ja? In den USA mischen Hedgefonds sogar schon bei Schulen mit. Schlimmer geht immer.

Titelbild: Just dance/shutterstock.com