Die Würfel sind gefallen. Alles deutet darauf hin, dass der Senat der Stadt Bremen innerhalb der nächsten Wochen beschließen wird, dass das Gelände an der Reitbrake in Bremen-Oslebshausen, auch bekannt unter der Bezeichnung „Russenfriedhof“, freigegeben wird für den Bau einer großen Bahnwerkstatt. Obwohl sich der Landesparteitag der Linkspartei am 14. Januar 2023 noch kurz zuvor in einer Entschließung gegen den Bau ausgesprochen hatte, waren auch die beiden Senatorinnen der Linkspartei (in Bremen regiert rot-grün-rot) „umgefallen“ und hatten ihre Zustimmung signalisiert. Der französische Bahnkonzern Alstom hat angekündigt, wie der Weserkurier am 16. Januar meldete, „noch im Januar“, also in den nächsten Tagen, die notwendigen Unterlagen für den Beginn des Planfeststellungsverfahrens bei der Baubehörde einzureichen. Von Sönke Hundt.
Am 20. Januar 2022 tagte unter großer Beteiligung der Öffentlichkeit der Petitionsausschuss der Bremischen Bürgerschaft, um über zwei Petitonsanträge aus dem Sommer 2021 zu beraten. Die Bürgerinitiative „Bremen-Oslebshausen und umzu“ und das Bremer Friedensforum, die die Petitionen eingereicht hatten, fordern den sofortigen Stopp aller Planungen, die Fortsetzung der archäologischen Untersuchungen und die Einsetzung einer unabhängigen Expertenkommission mit Historikern, Völkerrechtlern und Vertretern von Opferverbänden.
Es ist den Gegnern der Bahnwerkstatt in den letzten zwei Jahren gelungen, die Öffentlichkeit in unzähligen Stellungnahmen, Versammlungen, Demonstrationen, Beiratssitzungen, Resolutionen, Presseerklärungen, Petitionen etc. aufzurütteln. Viele Medien (Radio Bremen, Weserkurier, Der Spiegel, Taz, junge Welt, zuletzt sogar die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die Welt am Sonntag) griffen das Thema in z.T. mehrseitigen Artikeln auf. Schließlich wurde auch die internationale Dimension des Skandals um den „Russenfriedhof“ deutlich. Auf Vermittlung der ukrainischen Generalkonsulin in Hamburg beteiligten sich zeitweise junge Wissenschaftler der Universität Kiew an den Grabungen; der Generalkonsul der Russischen Föderation, ebenfalls in Hamburg, hat das Gräberfeld mehrfach besucht und sich informiert.
Auf der Sitzung des Petitionsausschusses erhielten nun die Sprecher für die Petenten, Dieter Winge von der Bürgerinitiative und Ekkehard Lentz vom Friedensforum, die Gelegenheit, noch einmal ihre Argumente gegen den Bau der Bahnwerkstatt und für die Fortsetzung der Grabungen vorzutragen. Von den Nazi-Behörden sei auf dem Gelände an der Reitbrake ein Areal von 20.000 Quadratmetern als Friedhof für die Toten aus den umliegenden Kriegsgefangenen- und Zwangsarbeiterlägern vorgesehen worden. Aus den (spärlichen) Unterlagen des Staatsarchivs sei dokumentiert, dass hier bis Kriegsende ca. 800 Tote in Einzel- und Massengräbern begraben worden seien. Diese Zahl wurde 1945 nach Kriegsende bestätigt in einem genauen Protokoll über den Zustand des Gräberfeldes, das die Ortspolizei – auf Anordnung der alliierten Siegermächte – angefertigt hatte. Gezählt wurden von der Polizei 742 Grabstellen.
1948, also drei Jahre später, beschloss der Senat die Umbettung der Toten vom Friedhof an der Reitbrake auf die zentrale Kriegsgräberstätte auf dem Friedhof Osterholz im Osten der Stadt. Und hier beginnt eine makabre Arithmetik. Nach den Unterlagen des Friedhofs Osterholz sind hier nur 446 Leichen „angekommen“ und in einem Massengrab beigesetzt worden. Für die Differenz von 296 Verstorbenen gibt es bis heute von Seiten der Behörden keine plausible Erklärung. Die Exhumierungen waren also unvollständig und sind seinerzeit, wie sich bei den Ausgrabungen herausstellen sollte, mit äußerster Brutalität und Pietätlosigkeit durch das damalige Gartenbauamt durchgeführt worden. Wenn, so die notwendige Schlussfolgerung der Bürgerinitiative und des Friedensforums, die Exhumierungen 1948 unvollständig waren und also noch mindestens 300 Tote auf dem Gelände unter der Erde liegen müssten, habe das Gelände an der Reitbrake nie den Charakter einer Kriegsgräberstätte verloren. Es sei nach wie vor völkerrechtlich geschützt und demgemäß eine gewerbliche Nutzung verboten. Die BI und das Friedensforum haben zur juristischen Absicherung zwei Gutachten von Instituten der Universitäten Gießen und Leiden (Niederlande) eingeholt, die diese Auffassung bestätigten.
Der politische Senat mit Bürgermeister Andreas Bovenschulte an der Spitze „erzählt“ bis heute ein anderes „Narrativ“. Nach seiner Auffassung sei damals, 1948, die Umbettung aller Toten beschlossen und auch durchgeführt worden. Also hätte das Gelände auch schon damals seinen Charakter als Kriegsgräberstätte verloren und könne bebaut werden.
Nachdem nun ein Whistleblower der BI Hinweise über die Planungen für den Bau der Bahnwerkstatt gegeben hatte und zwei Historiker (Harry Winkel und Peter-Michael Meiners), die schon lange über das Leben und Sterben der Tausenden von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen in den vielen Lägern in Bremen-Nord geforscht hatten, ihre Erkenntnisse der BI zur Verfügung gestellt hatten, wurde der BI klar, um welche Tragik es sich hier handelte und welcher Skandal sich hier anbahnte. Es gelang ihr schließlich mit großem Erfolg, die Öffentlichkeit aufzurütteln.
Die senatorischen Behörden sahen sich schließlich genötigt, zur Absicherung der Bebauungspläne und zur Beruhigung der misstrauisch gewordenen Öffentlichkeit eine archäologische Untersuchung des Geländes anzuordnen. Es sollte der Nachweis erbracht werden, dass auf dem Gelände keine Toten mehr begraben und die Umbettungen 1948 vollständig durchgeführt worden seien. Was dann folgte, hatte allerdings niemand erwartet und war an Dramatik nicht zu überbieten. Nach und nach wurden vom Team der Archäologen zuerst einzelne Knochen und Knochenfragmente, dann Erkennungsmarken und schließlich das erste vollständige Skelett gefunden. Zuletzt dann kurz vor dem geplanten Ende der Grabungen der Fund von insgesamt drei Massengräbern mit 66 (!) vollständigen Skeletten! Nach Auffassung der BI und des Friedensforums bestätigten diese Funde ihre Auffassung über die unvollständigen Exhumierungen und veränderten grundlegend die Situation für den Senat. Nur eine wirklich unabhängige Untersuchungskommission sei jetzt in der Lage, belastbare und seriöse Entscheidungsgrundlagen für das weitere Schicksal des Geländes an der Reitbrake zu erarbeiten.
Der Senat jedoch blieb bei seiner Auffassung und beschleunigte noch einmal das Tempo. Am 16. Oktober wurden die Ausgrabungen völlig unerwartet für beendet erklärt, obwohl nur ein Teil des von den Nazis ausgewiesenen Friedhofs archäologisch untersucht worden war. Am 22. November tagte die für die Archäologie zuständige Kulturdeputation. In einer längeren Stellungnahme bekräftigte der Bürgermeister noch einmal seine Auffassung, dass trotz der Leichenfunde das Gelände seine Eigenschaft als Kriegsgräberstätte verloren habe und zur Bebauung freigegeben werden könne. Die Bahnwerkstatt habe schließlich für die Stadt Bremen eine große finanzielle und arbeitsmarktpolitische Bedeutung. Die Forderung nach Fortsetzung der Grabungen wies er zurück. Eine unabhängige Untersuchungskommission sei für ihn nichts weiter als ein „überflüssiges juristisches Oberseminar“.
Die Entscheidung für die Freigabe des Geländes für die gewerbliche Nutzung ist offiziell zwar noch offen. Aber nach den Äußerungen des Bürgermeisters und aufgrund der bestehenden Mehrheitsverhältnisse in Senat und Bürgerschaft schon so gut wie getroffen. Dass die Firma Alstom schon angekündigt hat, die Unterlagen in den nächsten Tagen einreichen zu wollen, zeigt, wie weit die Gespräche schon gediehen sind.
Dass das Gelände ausgerechnet an das Bahnunternehmen Alstom übergeben werden soll, hat einen besonderen Beigeschmack. Alstom ist nämlich nach mehreren Eigentümerwechseln Rechtsnachfolgerin der Linke-Hofmann-Werke, die seinerzeit maßgeblich an der Produktion der Vieh- und Güterwaggons beteiligt waren, ohne die das riesige Zwangsarbeiter- und Konzentrationslagersystem der Nazis gar nicht möglich gewesen wäre.