Vor 109 Jahren, in den Monaten vor der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, dem Ersten Weltkrieg, herrschte im Deutschen Reich Kriegseuphorie vor. Katastrophen der Menschheitsgeschichte, die Ähnlichkeiten zu vergangenen Katastrophen aufweisen, zeigen, wie wenig die Menschheit am Rande des Abgrunds aus dem Vergangenen gelernt hat. Das erste Mal ist es eine Katastrophe, das zweite Mal wird aus ihrer Tragik ein Abgrund. Das dritte Mal droht das Ende. Vor jedem der zwei Weltkriege peitschten die Herrschenden mit Kriegspropaganda die Menschen in den Wahn des Militarismus. So auch heute. Von Bernhard Trautvetter.
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In seiner Thronrede zur Kriegserklärung beteuerte Kaiser Wilhelm II, sein Möglichstes getan zu haben, um diesen Krieg zu verhindern. Der jetzt erfolgende Verteidigungskrieg gegen Frankreich und Russland sei „Ergebnis eines seit langen Jahren tätigen Übelwollens … In auf gedrungener Notwehr mit reinem Gewissen und reiner Hand ergreifen wir das Schwert.“
Karl Liebknecht kritisierte seine sozialdemokratischen Parteigenossen wegen der Unterstützung der Kriegskredite in der Reichstagsfraktion: “Selbst vom denkbar ‘nationalsten’ Standpunkt aus hat unsere Fraktion einen ungeheuerlichen Fehler gemacht. Durch ihre Zustimmung hat sie zugleich alle Dämme niedergerissen …“
Karl Liebknecht war der Einzige seiner Fraktion, der gegen die Kredite stimmte.
Der Spiegel berichtete am 24.9.2013: „Im Januar 1916 entzog die Mehrheit der SPD-Abgeordneten im Reichstag Liebknecht die Rechte eines Fraktionsmitglieds, um den – aus ihrer Sicht wie jener der Militärs – gefährlichsten Kriegsgegner zu isolieren.“
Die Propaganda einer vermeintlichen ‚Unschuld‘ des Deutschen Reiches kann nur unter Ausblendung der Archivforschung vertreten werden.
Die heutige Entwicklung der SPD erinnert fatal an die Zeit vor über einem Jahrhundert. Nicht nur die Bündnisgrünen haben weitgehend friedensorientierte Positionen verlassen, sondern auch die SPD. Die SPD verlässt Egon Bahrs, Willy Brandts, Klaus von Dohnanyis und Erhard Epplers Position, dass es eine Friedensordnung in Europa nur im Sinne der KSZE-Schlussakte von 1975 und der Charta von Paris von 1990 sowie des 2+4-Vertrages zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten nur mit und nicht gegen Russland gibt. Diese völkerrechtlich verbindlichen Vereinbarungen brach die Nato-Osterweiterung, die verbunden ist mit der Aufrüstung der neuen Nato-Staaten auch mit nuklearfähigen Potentialen.
Aktuell exerziert die Nato, was sie ihrem Rivalen in Osteuropa schon in der Kuba-Krise verweigert hatte: Eine Stationierung nuklearfähiger sowjetischer Raketen führte 1962 zur Warnung von J.F.Kennedy, einen Atomschlag vorzunehmen, sollten diese Systeme dort nicht wieder verschwinden. Die USA würden solche Potentiale der Sowjetunion ‚vor der eigenen Haustür keineswegs hinnehmen‘. Diese Situation nennen Historiker den gefährlichsten Augenblick der Geschichte.
Die transatlantischen Kräfte von den Ampel-Parteien über Nationalisten bis zu den Militärs betreiben heute eine Propaganda des Vergessens und der doppelten Standards. Was die USA nicht zulassen, praktizieren sie nach dem Unrecht des Stärkeren selbst. Dabei überspielt die Nato ihre Verletzungen völkerrechtlich relevanter Verträge, auf die Russland in seinen vor dem 24.2.2022 von der Nato barsch abgelehnten Forderungen nach Sicherheitsgarantien Wert legte.
In den Wochen vor dem 24.2.2022 gab Angela Merkel der ZEIT ein Interview, nach dem der de-eskalierende Vertrag Russlands und der Ukraine im Normandie-Format von westlicher Seite nicht auf die Einhaltung der Vereinbarung hin intendiert war. Der Vertrag verlangte von der Regierung in Kiew, mit den Separatisten in der Ostukraine in Verhandlungen über einen Autonomie-Status zu treten. Das lag nie in der Absicht dieser Kräfte, wobei sie vom Westen Unterstützung erfuhren: Nato-General Kujat verdeutlichte kürzlich, dass Frau Merkels Interview-Äußerungen bedeuteten, es sei dem Westen nicht um die Erfüllung des Minsk-II-Vertrages gegangen, sondern darum, Zeit zu haben, die neue Regierung in Kiew aufzurüsten.
Die Eskalationsschritte vor der russischen Invasion in die Ukraine überspielend weist die Nato Russland die Alleinverantwortung für den Krieg zu, und sie legitimieren auf der Basis dieser Schuldzuweisung ihre gesteigerte Hoch- und Atomrüstung, die auch ökologisch nicht zu verantworten ist.
Das Archivstudium führt zu der Aussage des damaligen Präsidenten G. W. Bush aus seiner ‚State oft he Union‘-Rede vom 28. Januar 1992, also fast auf den Tag genau vor dreißig Jahren: „…das Größte, was …in der Welt geschehen ist, ist dies: Durch die Gnade Gottes hat Amerika den Kalten Krieg gewonnen.”
Diese Sichtweise bricht mit den völkerrechtlich relevanten Texten wie der Charta von Paris, in der der epochale Satz steht: „Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates ist untrennbar mit der aller anderen verbunden“.
Die gleiche Anforderung an die internationale Politik, eine Friedensordnung der gemeinsamen Sicherheit aufzubauen, befindet sich in der KSZE-Schlussakte für eine Sicherheitsordnung in Europa von 1975, im Vertrag über die Bildung der Deutschen Einheit von 1990 und sogar in der Nato-Russland-Akte von 1997. Die Nato wusste, was sie mit den Rechtsbrüchen der Nato-Osterweiterung um 14 Staaten tut: Die Nato-Strategie-Schmiede ‚Joint Air Power Competence Centre‘ bekundete auf ihrer Jahrestagung im November 2014, es sei anzuzweifeln, dass es keinen großen Krieg (major war) mehr in Europa gebe, wie es im Tagungsmaterial ‘Future Vector’ auf Seite 141 hieß. Als Ausgangspunkt für diese Entwicklung machte das Manuskript Gebiete direkt westlich der russischen Westgrenze aus, Regionen, bis wohin die Nato ihre Osterweiterung durchführt und immer weiter plant. Seite 70 gibt Antwort der Militärs auf dieses Szenario: ‚ein angemessener Mix aus nuklearen und konventionellen Kapazitäten‘ (Übersetz.: B.T.). Im November 2021 drohte dann Nato-Generalsekretär Stoltenberg auf dem Nato-Talk der Deutschen Atlantischen Gesellschaft mit der Stationierung von Atomwaffen in Osteuropa.
Hier kombiniert sich der Bruch internationalen Rechts mit einer umgekehrten Kuba-Krise.
Hinzu kommt die von allen Seiten in Kauf genommene Steigerung der Havarie-Gefahr an den 15 Atomreaktoren der Ukraine im Krieg. Die offizielle Politik der Nato-Staaten belügt die Weltbevölkerung mit ihrem Propaganda-Begriff, sie betreibe Sicherheitspolitik.
Der Aufruf zur ersten großen Demonstration der Friedensbewegung vor vier Jahrzehnten machte unter dem Motto ‚Gegen die atomare Bedrohung gemeinsam vorgehen‘ mit dem Satz auf, „80er Jahre werden mehr und mehr zum gefährlichsten Jahrzehnt in der Geschichte der Menschheit“.
Damals standen die Grünen und die Mehrheit der Sozialdemokratie auf der Seite der Friedensbewegung. Die Nato-Propaganda hat seither erfolgreich dazu beigetragen, dass das aktuell nicht mehr so ist. Ein aktueller Appell aus der Friedensbewegung vereint allerdings Persönlichkeiten aus der Grünen Partei, der SPD und Linker sowie Aktiven der Friedensbewegung aus weiteren Spektren der Bewegungen für ein Überleben in einer friedlichen und ökologischen Zukunft.
Die nächste große bundesweite Aktion der Friedensbewegung wird am 18. Februar in München den Protest gegen die Kriegspropaganda auf der Sicherheitskonferenz in die Öffentlichkeit tragen.
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