Der Bundesfinanzminister hat geliefert, allerdings nicht das, was seine Einflüsterer bestellt haben. Statt einer waschechten Aktienrente nach schwedischem Vorbild sieht sein Konzept eine Art Aktienrücklage namens „Generationenkapital“ vor. Das sei zwar nicht die „vielleicht größte Rentenreform seit Bismarck“, mache aber trotzdem eine weitere Front gegen das gesetzliche Umlagesystem auf, glaubt Statistik- und Rentenfachmann Gerd Bosbach. Was mit zehn Milliarden Euro losgehe, werde über kurz oder lang ein Vielfaches an Steuermitteln verschlingen, aber keinem Ruheständler auch nur einen Euro mehr bescheren, äußert er im Interview mit den NachDenkSeiten. Und wie Riester und Rürup sei das Projekt zum Scheitern verdammt. Mit ihm sprach Ralf Wurzbacher.
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Herr Bosbach, seit der Regierungsmitübernahme durch die Freidemokraten geisterte ein Gespenst durch den deutschen Blätterwald: die Aktienrente. Über ein Jahr lang ging unter vielen die Angst um, die gesetzliche Rentenversicherung werde nun endgültig verhackstückt und scheibchenweise an der Börse verjubelt. Vor zwei Wochen gab FDP-Chef und Bundesfinanzminister Christian Lindner unfreiwillig Entwarnung. Angekündigt als „vielleicht größte Rentenreform seit Bismarck“ ist sein Konzept zu einer ziemlich kleinen Nummer zusammengeschnurrt. Die Rede ist gar nicht mehr von Aktienrente, sondern vom „Generationenkapital“, das ein bisschen wie ein Sparstrumpf anmutet – ob einer mit Löchern, wird die Zukunft zeigen. Sind auch Sie erst einmal beruhigt?
Nein, beruhigen kann mich das nicht. Natürlich bleibt das jetzt von Christian Lindner vorgelegte Konzept hinter seinen ursprünglichen Plänen zur Aktienrente weit zurück, sowohl inhaltlich als auch in der finanziellen Dimension. Schlecht ist und bleibt der Ansatz aber allemal, weil damit einmal mehr der völlig falsche Weg gegangen wird, nämlich Geld auf dem Kapitalmarkt anzulegen mit dem windigen Versprechen, damit das gesetzliche Rentensystem zu stabilisieren. Dieser Ansatz ist schon mit der Riester- und Rürup-Rente nach hinten losgegangen, hat sehr viele Menschen um sehr viel Geld gebracht und wird nicht dadurch besser, dass man ihn in anderer Ausgestaltung wieder auftischt.
Im Unterschied zu Riester, Rürup und anderen Produkten der privaten Altersvorsorge gehen die Versicherten beim „Generationenkapital“ ja nicht selbst ins Risiko. Stattdessen pumpt sich der Staat zehn Milliarden Euro, steckt das Geld in einen Fonds, der an der Börse auf steigende Kurse spekuliert und am Ende fällt die Rendite vielleicht höher aus als die Zinsen fürs Darlehen. Faktisch bleibt das bestehende Umlagesystem davon doch unberührt. Oder sehen Sie das anders?
Es ist richtig, dass diese vorerst zehn Milliarden Euro, die in den Fonds fließen sollen, nicht direkt den Beitragszahlern abgeknöpft werden. Aber es sind immer noch die Steuerzahler, deren Geld für ein Projekt herhalten muss, das nach meiner Überzeugung scheitern wird wie zuvor schon Riester und Rürup. Davon abgesehen ist klar, dass der Schritt nur der Auftakt zu mehr ist und danach noch viel mehr Geld für die Aktienrente mobilisiert werden soll. Denn zehn Milliarden Euro reichen auch nach Lindners Rechnung für so gut wie gar nichts.
Lindner liebäugelt damit, möglichst jedes Jahr zehn Milliarden Euro in den Fonds einzuzahlen, wogegen sich aber wohl die Koalitionspartner von SPD und Grünen noch sträuben.
Wissen Sie, gerade SPD und Grüne haben sich schon gegen so vieles gesträubt, um dann über Nacht alle Bedenken über Bord zu werfen. Mit Rot-Grün unter Gerhard Schröder wurde Krieg mit deutscher Beteiligung wieder salonfähig und die desaströsen Hartz-Reformen möglich. Dazu der Einstieg in die staatlich alimentierte private Altersvorsorge und die damit verbundene Demontage des gesetzlichen Rentensystems. Und heute, wieder sind SPD und Grüne am Ruder, erleben wir eine beispiellose Militarisierung und Aufrüstungspolitik und zumindest schon den Einstieg in die Aktienrente. Von daher gebe ich nicht viel auf sogenannte Rote Linien oder Sprüche wie: Mit uns nicht!
Aber was heißt das mit Blick auf Lindners Aktienrente, die ja eigentlich gar keine ist?
Was nicht ist, kann und soll ja noch werden. Denn so viel ist klar: Lindner will mehr! Zehn Milliarden Euro pro Jahr, selbst 20 Milliarden Euro jährlich haben für die Rentenfinanzierung keinen nennenswerten Effekt. Es bräuchte schon 400 Milliarden Aktienkapital, um bei angenommen hoher Rendite einen Beitragspunkt in der Rentenversicherung zu sparen. Wohlgemerkt bei wachsender Wirtschaft, die es ja angeblich wegen der demografischen Entwicklung nicht geben wird.
Aber macht es nicht einen großen Unterschied, von wem das Geld kommt, ob also von den Beitragszahlern oder den Steuerzahlern?
So oder so wird es der Allgemeinheit entzogen und das, was hier als Stabilisierung der Rente verkauft wird, dient gerade nicht dazu, die gesetzliche Rente wieder in Schuss zu bringen.
Eigentlich schwebte Lindner ein Modell nach schwedischem Vorbild vor, bei dem Teile der Beitragssätze für die gesetzliche Rente verpflichtend am Finanzmarkt zu investieren sind. Daraus wurde ja nun nichts.
Zunächst nicht, aber ein erster Schritt auf dem Weg dorthin ist gemacht. Man muss sich klar machen: Selbst für den Fall, dass die Pläne aufgehen und der jetzt geplante Fonds irgendwann einmal Rendite abwirft, profitieren davon allenfalls die Beitragszahler, also Arbeitgeber und Arbeitende. Und das frühestens ab dem Jahr 2035. Die heutigen und auch die künftigen Rentner haben davon überhaupt nichts. Das einzige und ausdrücklich erklärte Ziel ist die Beitragssatzstabilität. Davon, dass die Rentner selbst mehr bekommen sollen, spricht leider fast unbemerkt keiner der Verantwortlichen.
Und was lässt Sie zweifeln, dass selbst dieses limitierte Ziel nicht erreicht wird?
Man tut so, als wäre der Aktienmarkt ein Perpetuum mobile: Man leiht sich Geld, steckt es in irgendwelche Anlagen und bekommt am Ende mehr Geld zurück. Das ist natürlich eine Illusion, denn der Geldmarkt kann nicht einfach riesige Summen abwerfen, während sich die reale Volkswirtschaft nur wenig entwickelt. Es lassen sich losgelöst von der realen Produktion allenfalls Buch- oder Spekulationsgewinne erzielen. Und diese Blase platzt irgendwann.
Erklären Sie das bitte genauer.
Wenn beispielsweise die reale Wirtschaft um zwei Prozent wächst, ich aber am Aktienmarkt Renditen von zehn und mehr Prozent erziele – Was mache ich dann mit dem Geld? Im Aktienmarkt belassen, bringt mir nur schöne Zahlen. Versuche ich davon zu kaufen, trifft viel Geld auf wenig Ware und die Warenpreise steigen. Das System mit nur hohen Renditen auf dem Finanzmarkt klappt nicht. Zusätzlich gilt für die Aktienrente: Diese steigert die Nachfrage nach Aktien und damit ihre Preise. Dabei sind die Aktienpreise durch die lockere Geld- und Zinspolitik der Vergangenheit schon sehr, sehr hoch.
Nur was passiert, wenn die Aktien für die Renten verkauft werden müssen? Die Preise rauschen in den Keller. Der scheinbare Ertrag der Vergangenheit ist dahin, wenn dieser im großen Stil am Aktienmarkt materialisiert werden soll. Im Einzelfall kann ein Tellerwäscher schon mal zum Millionär werden, aber nicht Millionen Menschen zusammen. Die Börse ist für einzelne Zocker ein Spielfeld, aber nichts für eine sichere, langfristig angelegte Rente vieler Menschen.
Zurück zum schwedischen Modell, bei dem Arbeitnehmer verpflichtet sind, 2,5 Prozent ihres Bruttolohns in ein Vorsorgesystem zu investieren, basierend auf einem staatlichen oder privatwirtschaftlich gemanagten Fonds. Angeblich soll das funktionieren und beträchtliche Renditen abwerfen. Haben Sie sich das System angeschaut?
Ja und dabei habe ich Dinge entdeckt, die bei den gängigen Erfolgsmeldungen nicht erwähnt sind. Verschwiegen wird, dass nicht alle Fonds, in die die Schweden einzahlen, gut laufen. Einige mussten sogar schon wegen Misswirtschaft eingestellt werden. Und das Ergebnis für die Rentner ist sehr mager. Von der mit 1.850 Euro erstaunlich hohen durchschnittlichen Gesamtrente in 2019 stammen gerade einmal 70 Euro aus der aktienbasierten Prämienrente. Nach 20-jähriger Aufbauphase ist das kein Ruhmesblatt. Weiterhin werden die anderen sehr positiven Komponenten der schwedischen Rente – vieles ähnlich dem österreichischen System – so gut wie nie erwähnt.
Zurück zu unseren angeblich so guten Aktien. Deren Preise sind wie die von Immobilien und Edelmetallen stark gestiegen. Nicht weil sie so zukunftssicher sind, sondern weil die hohen Unternehmensgewinne und die Unsummen der EZB, also der Europäischen Zentralbank, ja irgendwo angelegt werden müssen. Wir haben seit 1990 drei größere Börsencrahs erlebt: Die Japan-Krise 1990, die Dotcom-Blase in 2000 und 2008 die Katastrophe nach der Lehman-Pleite. Die Frage ist nicht, ob, sondern wann es zum nächsten Zusammenbruch kommt. Und auf dieser wackligen Basis will man jetzt die Rente stabilisieren?
Sie sprachen die Riester-Rente an. Auch dieses Modell ist aus derselben Erzählung von ewig steigenden Kursen auf dem Finanzmarkt erwachsen und komplett gescheitert. Wie kann es sein, dass Politiker so vergesslich sind?
Leider wurde das Riester-Desaster weder politisch noch medial aufgearbeitet, genauso wenig wie der Ausstieg der Versicherungskonzerne aus dem klassischen Lebensversicherungsgeschäft. Tatsächlich will man Riester auch gar nicht abwickeln, sondern möglichst still weiterbetreiben, sogar mit staatlich geförderten Neuverträgen. Ich hatte schon ganz am Anfang den Verdacht, dass die damalige Schröder-Regierung mit Riester und Rürup die angeblich leidende deutsche Versicherungswirtschaft und die Unternehmer unterstützen wollte und nicht die Rentner. Heute soll der Finanzmarkt mit frischem Geld gepusht werden. Dem werden ja demnächst einige Hilfen von der EZB fehlen.
Und vorneweg marschiert Herr Lindner, der den Menschen erzählt, die gesetzliche Altersvorsorge „besser auf die Herausforderungen der Zukunft vorzubereiten“. Wie kann es sein, dass die Bürger so etwas noch glauben, nachdem Millionen Riester-Sparer regelrecht betrogen wurden?
Da bin ich genauso verzweifelt wie Sie. Hier zeigt sich einfach, wie diese Kampagne von der angeblichen demographischen Katastrophe weiterhin verfängt und wie wirkungsvoll vor allem Politiker und Medien dieses Schreckgespenst immer wieder beschwören. Dabei hat die Bevölkerungsentwicklung gar nicht die behaupteten Probleme hervorgebracht. Aber das ist ein anderes Kapitel. Natürlich haben Versicherungskonzerne, am Rentenbeitrag sparende Arbeitgeber und Finanzkreise an der Verdummung großen Anteil. Ähnlich emotionalisierend und einseitig läuft ja heute auch die Debatte über den Krieg Russlands mit der Ukraine und Waffenlieferungen. Wege zu Verhandlungslösungen haben da keinen Platz. Es gab schon aufgeklärtere Zeiten …
Man hört viel vom schwedischen Modell in den deutschen Medien, aber nichts vom Modell Österreich. Dabei lohnte sich das, so wie sich für die Österreicher die gesetzliche Rente lohnt. Warum ist das so?
Von der Mindestrente in Österreich lässt sich, anders als hierzulande, tatsächlich leben. Die Durchschnittsrente liegt bei über 2.100 Euro und entspricht 80 Prozent des letzten Gehalts, bei uns weit weniger als 50 Prozent. Rentner in Österreich bekommen sogar Weihnachts- und Urlaubsgeld. Wie ist all das möglich? Ganz einfach: Es wird mehr Geld eingezahlt. Die Beitragssätze sind mit 22,8 Prozent höher als in Deutschland, wobei die Arbeitgeber 2,3 Prozentpunkte mehr beitragen als die Arbeitnehmer. Außerdem gibt es eine einheitliche Rentenversicherung für alle, in die auch Staatsbedienstete, Politiker und Selbstständige einzahlen. Und das Beste ist: Dieses System ist absolut krisensicher und hat sämtliche Zäsuren der letzten 35 Jahre – Euro-Umstellung, Finanzkrise, Corona – schadlos überdauert.
Bei uns dagegen wurden bisher alle Vorstöße für eine sogenannte Bürgerversicherung abgeschmettert. Sind in Deutschland die Lobbyisten einfach zu einflussreich?
Das ist sicherlich ein wichtiger Grund. Ein anderer besteht darin, dass sich die Österreicher ihr System nicht schlechtreden und schon gar nicht wegnehmen lassen wollen. Wenn meine Eltern eine vernünftige Rente beziehen, wäre ich ja schön bekloppt, daran etwas ändern zu wollen. Bei uns gibt es dagegen immer mehr alte Menschen, die in Armut leben. Wer das für sich selbst vor Augen hat, ist eher bereit, an die Märchen von einer besseren Zukunft mit Privatvorsorge und Aktienrente zu glauben. Die Macht der Versicherer reicht ja in Deutschland schon bis ins Klassenzimmer. Schülern wird heute im Unterricht erzählt, dass die gesetzliche Rente nicht sicher wäre und nur die Privatvorsorge die Rettung bringe.
Die NachDenkSeiten haben seit Beginn der schrittweisen Rentenprivatisierung in etlichen Beiträgen auf die massiven Manipulationen durch die Finanzmarktlobby aufmerksam gemacht. Was tun?
Von Österreich lernen! Im Kern muss eine echte Rentenreform dahingehen, die Arbeitgeber wieder verstärkt an der Finanzierung zu beteiligen, das heißt mindestens paritätisch. Zweitens müssen die Beitragssätze moderat erhöht werden, um mehr Geld ins System zu bekommen. Sämtliche öffentlichen Zuschüsse für die Privatrente müssen gestrichen und in die gesetzliche Rente umgeleitet werden. Wenn man sieht, dass die Ampelregierung sogar neue Riester-Verträge fördern will, kann man sich nur an den Kopf fassen. Ferner müssen alle Erwerbstätigen ins System einbezogen werden, also Beamte, Politiker, Selbstständige, selbst angestellte Konzernbosse. Wobei die Einzahlungen mit dem Einkommen wachsen müssen, wozu die Beitragsbemessungsgrenze erhöht oder gleich abgeschafft werden müsste.
Und dann braucht es natürlich wieder bessere Löhne. Die nur den Arbeitgebern nutzende Niedriglohnphilosophie hat ja erst dazu geführt, dass das gesetzliche System ins Rutschen geraten und Angriffsflächen für den Propagandachor der Rentenkürzer bieten konnte. Wo bleiben die Anstrengungen, die vielen Arbeitslosen in vorhandene Arbeit zu bringen? Deren Löhne würden auch den Rentnern helfen.
Fragen Sie doch mal Christian Lindner!
Vielleicht sollte der mal mit der Deutschen Rentenversicherung sprechen. Ich hatte schon Gelegenheit, deren Vertreter auf besagte Rezepte zum Ausbau der gesetzlichen Rente hinzuweisen. Daraufhin hieß es, dass man dann ja im Geld schwimmen würde. Aber genau das ist scheinbar politisch nicht gewollt.
Zur Person
Gerd Bosbach, Jahrgang 1953, lehrte bis 2019 als Professor für Statistik, Mathematik und empirische Wirtschafts- und Sozialforschung an der Hochschule Koblenz, Standort Remagen. Er ist als diplomierter Mathematiker und promovierter Statistiker zugleich einer der profiliertesten Kritiker der interessengeleiteten Nutzung von Statistik. Einblicke in Methoden und Geheimnisse der amtlichen Statistik sowie den – mitunter missbräuchlichen – Umgang der Politik und anderer interessierter Kreise damit erhielt er während seiner Tätigkeit im Statistischen Bundesamt. Von Bosbach und dem Politologen Jens Jürgen Korff erschienen 2011 „Lügen mit Zahlen: Wie wir mit Statistiken manipuliert werden“ und 2017 „Die Zahlentrickser: Das Märchen von den aussterbenden Deutschen und andere Statistiklügen“.